Theodor Fontane
Ein Sommer in London
Theodor Fontane

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Miß Jane

Ich hatte Empfehlungsbriefe an Miß Jane. Als ich sie abgab war sie aufs Land. Wochen vergingen; ich hatte die Briefe vergessen. Eines Morgens beim Frühstück erhielt ich folgende Zeilen:

10 Angel Terrace, New-Road (Pentonville).
Miß W. empfiehlt sich Herrn F. und drückt ihm ihr lebhaftes Bedauern darüber aus, daß sie außerhalb der Stadt war, als Mr. F. die freundlichen Zeilen aus Deutschland ihr in Person zu überbringen gedachte. Miß W. würde sich Herrn F. sehr verpflichtet fühlen, wenn er ihr Gelegenheit zu mündlicher Äußerung ihres Dankes geben wollte und erlaubt sich ihm anzuzeigen, daß sie allabendlich nach 7 Uhr zu Hause ist. – Freitag nachmittag.

Andren Tages schickt' ich mich an, dieser freundlichen Aufforderung nachzukommen. Es war Sonnabend und einer jener schwülen, staubigen Tage, wo man die Luft Londons wie den Puls eines Fieberkranken fühlt. Von meiner Wohnung aus bis Angel-Terrace war nicht allzuweit. Ich passierte Euston-Square und bog in die nördliche Lebensader Londons ein, die unter dem Namen New-Road von Paddington und Bayswater bis Pentonville und Islington läuft. Mein Weg führte gradaus; ich konnte nicht fehlen. Von Zeit zu Zeit blieb ich stehen und ließ den Wirrwarr der Szene an mir vorüberziehen. Es war das erste Mal, daß ich in diese Gegend kam und so gewiß es London war, das nur ein neues Blatt seines Wunderbuches vor mir aufschlug, so gewiß doch war dies Blatt eben neu, und fast vergaß ich im Anschauen dieses wechselnden Treibens, daß mich andres hierher geführt hatte als die Lust an einer Straßen-Studie. Dieselbe Fülle von Leben lag hier vor mir wie in Piccadilly und Oxford-Street und doch hatte alles wieder einen andren, zum Teil völlig abweichenden Charakter. Die blitzenden Kaufläden fehlten ganz, Cabs und Gigs waren selten, kein modischer Frack in ganz New-Road, geschweige das Barèkleid einer Lady von Stande. Nur Omnibus auf Omnibus jagte vorüber, Arbeiter in Jacke und Mütze hockten oben auf; – ein Augenblick Halt! und wieder weiter trabend wirbelte eine neue Staubwolke in den Straßenstaub hinein. Trödelläden überall und Magazine für Auswandrer; an den Ecken aber das unvermeidliche Bierhaus. Freilich auch Reizendes bot sich dar. Die Breite der chaussierten Straße und ihre Bäume und Gärten taten dem Auge wohl; und der Goldregen, der bestaubt über die Eisengitter hing, dazu das Auf- und Nieder des Terrains, vor allem aber die dämmerblauen Hügel von Highgate, die von fern her in dies wüste Treiben niederblickten, gaben dem ganzen Weg, der sich vor mir hinzog, einen wunderlichen Misch-Charakter von Landstraße und Weltstadt.

Kings-Croß hatt' ich passiert; die Häuser zur Rechten wurden eleganter, Mädchen-Pensionate lagen hinter den Gittern und kündigten sich durch klösterliche Stille noch deutlicher an als durch Inschriften, oder das messingne Klingelschild ihrer Mistreß. So erreicht' ich Angel-Tcrrace. Als ich die Gittertür hinter mir zuwarf, war es als sei ich in eine neue Welt getreten. Das Gitter und das hohe Strauchwerk, das sich an ihm entlang zog, lagen wie eine Scheidewand zwischen hier und draußen. Der Staub drang nicht durch und gönnte mir wieder einen freien Atemzug; selbst der Lärm brach sich an dieser hohen grünen Wand und klang wie fernes Summen und Rauschen. Heiter schritt ich den Kiesgang entlang, der zwischen zwei blumenlosen und doch so erquicklichen Rasenplätzen hinlief und war eben im Begriff den Klopfer zu fassen, als die Tür sich wie von selber öffnete und ein alter Herr mit freundlicher Stimme mir zurief: »Kommen Sie nur, Jane wartet schon!« Es war ihr Vater. Wir traten in ein Zimmer zur Linken. Sein Anblick bot nichts Besondres dar; englische parlours gleichen sich wie ein Ei dem andren. Miß Jane trat mir entgegen und reichte mir, nach schöner englischer Sitte, ihre Hand. Es war eine weiße vornehme Hand. Die gewöhnlichen Begrüßungsworte wurden gewechselt; dann nahm ich Platz. Das Wasser im Kessel siedete, der Alte nahm die Tassen vom cup-board, Miß Jane löste die Schalen von den zierlichen kleinen Krebschen, die auf dem Tische standen, und sprach und fragte zu mir herüber. Sie war nicht schön, nur ihre Augen waren es. Es lag ein Etwas in ihnen als lachten sie gern, und zugleich doch sah man, sie hatten viel geweint, ich kannte die Geschichte Miß Janes; hätt' ich sie nicht gekannt, ich hätte sie aus diesen Augen lesen können.

Ihr Vater war nach Deutschland gegangen als sie noch ein Kind war. Damals war er reich gewesen, fast ein Millionär. Unter Glanz und Fülle war Miß Jane herangewachsen; sie sang, sie spielte, sie hatte berühmte Lehrer gehabt, sie hatte in Konzerten gesungen und den Ertrag ihres Spiels der Armut in den Schoß geschüttet. Nun sang sie auch und spielte und lehrte, aber nur für sich und ihren Vater. Sie waren selber arm geworden. Das verwöhnte Kind, die vornehme Dame erwarb ihr Brot jetzt als englische Governeß. Die Armut in Deutschland hatte sie leicht getragen: sie hatte Freunde gehabt, deutsche Freunde, die den Menschen nicht nach Guineen wägen – und in fremden Häusern weiter genießend, was sie einst im eignen geboten hatte, war sie arm geworden ohne zu fühlen, was Armut sei. Aber diese Tage halben Glücks hatten nicht angedauert. Der alte Kaufmannsgeist war wieder über den Vater gekommen, es hatte ihn zurückgezogen nach England, nach London, nach der City, nach der alma mater des Handels; – er wollte wieder reich werden wie er arm geworden war und Jane hatte ihn begleiten müssen. Sie hatten Wohnung genommen in der City, auf deren finsteren Comtoiren der Alte nun wieder saß und rechnete wie 30 Jahre früher; er hatte das Glück aufs neue versucht, und vergessen, daß die Göttin nur die Jugend liebt und vorbeigeht an jedem weißen, sorgenvollen Haupt. Alles schlug fehl; schwere Tage kamen; Miß Jane war entschlossen und suchte ihre Bücher und ihre Noten hervor. O, sie war klug und ihre Stimme glockenhell, sie brauchte sich nicht lange umzutun, und die Demütigung wenigstens blieb ihr erspart, ihre Dienste vergeblich angeboten zu haben. Die mühevollen Tage einer Governeß begannen für sie. Frühmorgens nach Kings-Croß, um den Omnibus abzuwarten, spät abends heim mit dem Notenbuch unterm Arm. Wie viele dieser blassen, abgehärmten Gesichter sah ich auf meinen Kreuz- und Querzügen, wenn ich von London-Bridge bis Chelsea fuhr – wie eilten sie die Treppe hinunter, um den Steamer nicht zu verpassen und wie schnell ging's wieder über die hölzerne Brücke und über den schwankenden Pier hinweg, wenn das Boot anhielt bei Lambeth-Palace, oder Vauxhall Bridge! Wie oft hatte ich teilnahmvoll in solche stillklagende Augen geblickt, nicht ahnend, daß ich ihnen einst so nahe gegenübersitzen sollte.

Und saß ich solchen Augen denn gegenüber? War das noch dieselbe Miß Jane, waren das noch die umflorten Augen, die mich bei meinem Eintritt begrüßt hatten? Sie lachten jetzt, als hätten sie nie geweint. Ein Zauber war wirksam geworden und dieser Zauber hieß Deutschland und deutsches Wort. Der Alte selbst ging auf in den Jubel seiner Tochter und die Erinnerung an zwanzig glückliche Jahre, die er unter uns verbracht, ließ ihn sein Engländertum und die fixe Idee neu zu erwerbenden Reichtums vergessen. Sein Herz floß über von Liebe und Dankbarkeit gegen unser Land und mehr denn einmal rief er: »Bei Ihnen gibt es Menschen und Herzen, aber dies England hat nur Beine und Börsen.« Vater und Tochter wetteiferten und der ganze Reichtum deutschen Lebens wurde mir an dieser Stätte gegenwärtig wie nie zuvor. Hundert kleine Züge unsres Lebens, übersehen sonst um ihrer Alltäglichkeit willen, machte mir hier die dankbare Rückerinnerung dieser beiden wie zum Geschenk und ich erschien mir gleich dem reichen Hypochonder, der über Not und Elend klagt, weil er die Schätze seines Nachbars nicht mitbesitzt, bis ihm plötzlich die schwarze Binde vom Auge fällt und er sieht, was er lange hätte sehen können, daß er reich ist und immer war.

Von dem Abend an war ich ein häufiger Gast in Angel-Terrace; jede Klage über das selbstische England und jede Sehnsucht nach Deutschland hin fand dort ein lautes Echo. Wollt' ich Herzen haben, die sich mit mir freuten über Empfang eines Briefes aus der Heimat, so richtete ich meine Schritte New-Road hinauf, und als ich zum letzten Male diesen Weg ging, war mir's, als sollt' ich eine zweite Heimat aufgeben, um die erste wieder zu gewinnen.

Der Abschied war kürz; Miß Janes Augen lachten nicht mehr; der Alte war schweigsam. »Unsre Wünsche begleiten Sie; könnten wir es selbst!« Das waren ihre letzten Worte.


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