Theodor Fontane
Ein Sommer in London
Theodor Fontane

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Der englische Zopf

Bei uns ist der Zopf zur Mythe geworden, er existiert nur noch als Spitz- und Geißelwort für alles, was, wie die österreichische Landwehr, »nicht mitkommen kann«, und wenn Heine gelegentlich von unseren Soldaten singt:

»Der Zopf, der ihnen sonst hinten hing,
Der hängt jetzt unter der Nase«,

so können wir uns diesen Witz, dessen Pointe etwas dunkel bleibt, immerhin gefallen lassen. Anders ist es mit England: es darf mit China darum streiten, wer ihn am längsten trägt. Nach den Gründen forsche wer will; ich werfe für den Liebhaber nur so hin, daß der Kaffee zu emanzipieren, der Tee zu konservieren scheint.

Der englische Zopf ist faktisch noch vorhanden, oder doch mindestens die Perücke (auf den Köpfen einer ganzen Armee von Kanzlern und Richtern), die schlecht gerechnet das Geschwisterkind des Zopfes ist. Doch verbreiteter als dieser und in Wahrheit noch Gemeingut der ganzen Nation ist der innerliche Zopf, den ich nachstehend zu besprechen und in drei große Abteilungen zu bringen gedenke. Ich unterscheide drei Arten: erstens den guten oder Erbweisheits-Zopf, zweitens den indifferenten oder Familien-Zopf, drittens den bösartigen oder Weichsel-Zopf.

Es ist Mode geworden, die politische Weisheit der englischen Nation, ihr praktisches Festhalten am Hergebrachten und ihren Argwohn gegen alles, was Neuerung heißt, zu bewundern. Es mag gewagt erscheinen, an diesem zum Teil wohlverdienten Lorbeerkranze herumpflücken zu wollen, aber nichtsdestoweniger werf ich die Frage auf, ob man nicht der Stetigkeit des englischen Charakters gelegentlich zu viel Ehre erwiesen und ununtersucht gelassen hat, wie viel an diesem praktischen Festhalten wirklich Weisheit und wie viel bloßes Kleben am Alten gewesen ist. Wenn durch die Jahrhunderte hindurch der Beweis zu führen wäre, daß England jedem als gut erkannten Neuen offen und nur allem Probieren, aller Projektmacherei verschlossen gewesen sei, wenn sich aus der Geschichte nachweisen ließe, daß es stets Kritik geübt, die Spreu vom Weizen gesondert, nie Schlacke für Gold, aber auch nie Gold für Schlacke genommen habe, so möchte man es bei uneingeschränkter Bewunderung bewenden lassen. Aber neben einer Habeas-Corpus-Akte existiert noch immer ein Irland und neben einem Gesetz der Freiheit noch immer ein Gesetz der Intoleranz, und so mag man es mir verzeihen, wenn ich den Baum der englischen Erbweisheit (unsere Tugenden wurzeln so oft in unsern Schwächen und Fehlern!) auf eine Wurzel zurückführe, die sich Zopf nennt und die zum guten Teile Zopf ist und bleibt, wenn sie auch hundertfach auf den Spruch verweisen mag: an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Ohne das Beispiel Frankreichs wäre England nie zu jenen Ehren gekommen, die jetzt verschwenderisch darüber ausgeschüttet werden, und dennoch ist es gerade so schuldig, wie jenes, eben weil es das volle Gegenteil davon ist. Frankreich verändert – auch das Gute; England konserviert – auch das Schlechte.

Der indifferente oder Familienzopf findet seine Deutung am besten durch eine Schilderung. Ich lebe hier in einem liebenswürdigen, häuslichen Kreise, der seiner ganzen Haltung, seiner Frömmigkeit und Bildungsstufe nach mich wie eine Landprediger-Familie berührt, die das heimatliche Dorf verlassen und ihren Aufenthalt in der Stadt genommen hat. Das Haus, das sie bewohnen, ist schön und geräumig; nichtsdestoweniger müssen ihre Mittel gering sein, denn zwei ältliche Damen leben auf Leibrente unter ihnen, und die obern Zimmer des Hauses sind an allerhand junge Leute, Fremde wie Einheimische, vermietet. Einzelne von diesen sind auch Tischgenossen der Familie; zu diesen zähle ich. Lassen Sie mich in möglichster Kürze schildern, wie ein Tag verläuft. Nach abgehaltener Morgenandacht versammelt sich alles beim Frühstück: Kaffee und Tee, Hammelbraten und Eier, Speckschnitte und geröstetes Weißbrot machen die Runde am Tisch, und unter Essen und Trinken, Sprechen und Lachen vergeht eine volle Frühstücksstunde. Es ist zehn Uhr; die Damen des Hauses, darunter zwei Töchter, begeben sich in die Drawing-Rooms, zwei schöne hohe Zimmer, und nehmen Platz, teils am Fortepiano, teils am Tisch, teils auf dem Kanapee. Bei Klavierspiel und Gesang, unter Briefschreiben und Zeitungslesen kommt die Stunde zum zweiten Frühstück (lunch) heran und dehnt sich gemächlich hin, bis gegen 3 Uhr nachmittags die Damen zu ihrer Arbeit süßen Nichtstuns zurückkehren. Man macht einen Gang in die Stadt: nach Hyde-Park zum Korso, oder nach Trafalgar-Square in die Gemälde-Galerie. Sechs Uhr findet alles im Wohnzimmer; mit dem Glockenschlag ergreift der Herr des Hauses den Arm der einen Leibrenten-Lady, ich wie Blitz spring an die linke Seite der zweiten, Mr. Blunder, ein junger Kaufmann aus der Provinz, mit blassem Gesicht und roten Händen, macht ohne aufzublicken vor der älteren Tochter seine linkische Verbeugung, und im nächsten Augenblick begibt sich der ganze Zug die mit doppeltem Teppich belegte Treppe hinab, um im Parlour (Sprech- und Eßzimmer: nur in diesem darf gegessen werden) die Mittagsmahlzeit einzunehmen. Wir treten ein; links auf einem Büffet blitzt es von Silberzeug und geschliffenen Karaffen, von chinesischem Porzellan und Apfelsinen; an den Wänden hängen Familienbilder, und unter dem breiten Spiegel, zu beiden Seiten des Kamins, stehen zwei hübsche Hausmädchen, unseres Winkes gewärtig. Es ist ganz wie bei Hofe, oder wie bei Leuten von wirklicher Vornehmheit und Bedeutung: ein unablässiges Wechseln von Tellern, von Messern und Gabeln, und sich selbst bedienen wollen wäre ein Verstoß, Verbrechen. Mr. Blunder hat eben den letzten Bissen seiner Kartoffel in den Mund gesteckt, aber schon hat es der Adler-Blick unserer Dame vom Hause bemerkt. Die Kartoffelschüssel steht unmittelbar vor dem blassen Kaufmann; die Lady jedoch, mit einer Würde, als gälte es den Großmogul zu bedienen, ruft von ihrem Platz aus: »Mary, potatoes for Mr. Blunder!« und die hübsche Marie, deren Mund viel vornehmer aussieht, als die erfrornen Hände des unglücklichen Provinzialen, muß apportieren und präsentieren – so verlangt es die Regel des Hauses. Von Tisch geht es zum Tee, vom Tee zur Andacht und von der Andacht zu Bett. – Überall das Mißverhältnis zwischen untergeordneter gesellschaftlicher Stellung auf der einen und aristokratischem Gebaren auf der andern Seite. Welche deutsche Familie von gleichem Rang, gleicher Bildung und gleichen Vermögens-Verhältnissen hätte den Mut und den Geschmack, ein ähnliches dolce far niente-Dasein zu führen! Die Mutter und die älteste Tochter würden in Küche und Waschhaus das Regiment führen, und die Nadeln der jüngeren würden am Stickrahmen auf- und niederblitzen bei Plattstich und Petit-point. Ländlich – sittlich! denkt mancher meiner Leser und nennt Komfort, wohl gar gesteigerte Kultur, was ich Zopf genannt habe; aber ich kann ihm nicht zu Willen sein, es ist Zopf. – Es geht ein tiefer Zug nach Erwerb durch den englischen Charakter; die Wahrheit »Geld ist Macht« zählt seit Lord Burleighs Tagen nirgends so viel Anhänger, wie eben hier, und nirgends ist das Verlangen größer: zu sparen, aufzuspeichern und weiter zu vererben. Ich wette zehn gegen eins, dieser Zug nach Erwerb lebt und webt in den Gemütern meiner englischen Familie so gut wie irgendwo, aber diese altbritischen Herzen umschließen noch eine andere Leidenschaft: das brennende Verlangen nach Repräsentation. Die Colburns sind ein altes Geschlecht; nachweislich seit drei Jahrhunderten hat nie ein Colburn sein Diner an anderem Platz als im Parlour des Hauses zu sich genommen, und es wäre Verrat an einer großen Vergangenheit, von dieser Sitte abzugehn. Nie, seit den Tagen der Königin Elisabeth, hat ein Colburn bei Tische sich selbst bedient, und wenn sich's nach Gottes unerforschlichem Ratschluß fügen sollte, daß die Colburns zu Bettlern würden, so würden sie sich nach einem Unter-Bettler umsehen, der ihnen auch dann noch die geschenkten potatoes präsentierte. – Liebhaber mögen sich an dieser Ausdauer freuen; aber auch sie werden nicht leugnen können, daß das Ganze nach Don Quixote schmeckt und einen Zopf trägt von leidlicher Länge.

Wir kommen nun zum Weichselzopf. Beginnen wir mit seiner harmlosesten Erscheinung – in der Kunst. Welche Stadien hat nicht z.B. in Frankreich und Deutschland die Schauspielkunst seit Talma und Iffland durchgemacht! Es gehört nicht hierher, zu untersuchen, ob man weitergekommen ist; »es irrt der Mensch, solang er strebt«, aber jedenfalls war Bewegung da: Ludwig Devrient, Seydelmann und vor allen die Rachel waren neue Erscheinungen. Nicht so hier; man ist noch immer bei Garrick. Dieser hat sich traditionell (ich kenne nicht all' die Pfeiler der Brücke) auf Kean und von Kean auf Macready und von Macready auf ein halb Dutzend moderner Lear- und Macbethspieler fortgeerbt, und wo Garrick schrie und tobte, tobt auch heute noch sein jüngster künstlerischer Enkelsohn auf einem beliebigen Vorstadt-Theater. Das Genie wird hier sozusagen eingepökelt, und noch nach hundert Jahren verschmäht man das schönste frische Fleisch und greift nach dem gesalzenen, das doch nachgerade steinhart geworden ist.

Schlimmer schon ist der Zopf, den die englische Themis trägt. Zahlen beweisen: es schwebt jetzt ein Prozeß zwischen einem Privatmann und einer Eisenbahn-Gesellschaft, dessen bloße Vorarbeiten, insonderheit die Aufnahme des Tatbestandes, 41 Foliobände füllen, zu deren Herstellung eine dreijährige Arbeit und ein vorläufiger Kostenaufwand von 10000 Rtlrn. nötig gewesen ist. Das Recht ist teuer in England und sollte doch überall billig sein, wie das tägliche Brot.

Der schlimmste Zopf aber ist der, den die Armee trägt. Jeder Zeitungsleser weiß, daß – was die Marine angeht – Admiral Charles NapierDerselbe, der jetzt die Ostsee-Armada befehligt seit Jahren schon rastlos gegen das eingefrorene Wesen eifert, das selbst schreienden Mißbräuchen gegenüber jeder Neuerung unzugänglich ist, und indem ich ihm auch heute ein Feld überlasse, auf dem er um einiges besser bewandert ist, als ich, beschränke ich mich auf den Armeezopf, der zur Kenntnisnahme aller Welt offen vorliegt.

Die englische Armee ist dieselbe wie vor fünfzig Jahren. Die Erfindungen und Verbesserungen eines beinahe vierzigjährigen Friedens sind spurlos an ihr vorübergegangen, sie träumt von ihren Siegen und wiegt sich in Sicherheit. Die Offizierstellen bis zum Major sind noch immer käuflich, die Fuchtel ist nach wie vor der Lehrmeister der Disziplin, der rote, geschmack- und taillenlose Frackrock herrscht immer noch absolut, und Exerzitium und Bewaffnung (mit Ausnahme des nun schon wieder veralteten Perkussionsschlosses) sind unverändert dieselben geblieben. Wollte man alle Anekdoten über das englische Infanteriegewehr sammeln, es gäbe ein ganzes Buch. Nach allem, was ich höre, soll ein sicherer Schuß damit eine bare Unmöglichkeit sein; es ist nur verwendbar auf Massen, und sein Bestes ist nach wie vor – das Bajonett. Aber – alle Achtung vor dem englischen Bajonettangriff – die europäische Kriegskunst entfernt sich immer mehr von der bloßen Rauferei, und Führung im ganzen, Geschick und Bewaffnung im einzelnen werden, bei versteht sich gleicher Zahl, über kurz oder lang ausschließlich den Ausschlag geben. Der englische Soldat, als rohes Menschenmaterial noch immer unvergleichlich, entbehrt völlig des Geschicks und der Bewaffnung, wodurch sich die Armeen des Kontinents, namentlich die preußische und französische, mehr denn je auszeichnen; das englische Heer hat keine Jäger von Vincennes, die beim Sturme Leitern aus sich selber machen, und hat keine Zündnadelgewehre, die auf 6 – 800 Schritt in die Kolonne treffen und, neunmal unter zehn, jedes Bajonettangriffes spotten – denn man greift nicht an mit totgeschossenen Leuten. Die stolze Insel mag sich vorsehn; so fest überzeugt ich bin, daß ihr keine Gefahren von jenseits des Kanals drohen, so fest überzeugt bin ich auch, daß sie diesen Gefahren unterläge, wenn sie jemals Wirklichkeit würden.


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