Theodor Fontane
Ein Sommer in London
Theodor Fontane

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Die Musikmacher

Die Musik, wie jedermann weiß, ist die Achillesferse Englands. Wenn man sich vergegenwärtigt, welche musikalischen Unbilden das englische Ohr sich von früh bis spät gefallen läßt, so könnte man in der Tat geneigt werden, dem Engländer jeden Sinn für Wohlklang abzusprechen und auf die Seite Johanna Wagners oder besser ihres Vaters zu treten, der mit mehr Wahrheit als Klugheit die ihm nicht verziehenen Worte sprach, »daß hier viel Gold, aber wenig Ruhm zu holen sei«. Man wolle indes aus dem Umstand, daß England des musikalischen Gehörs entbehrt, nicht voreilig schließen, es entbehre auch der musikalischen Lust; gegenteils, die alte Wahrheit bewährt sich wieder, daß der Mensch am liebsten das treibt, was ihm die Götter am kärgsten gereicht. Die große Forte-piano-Krankheit hat längst auch diese friedliche Insel ergriffen, und da bekanntlich starke Organismen von jeder Krankheit doppelt heftig befallen werden, so herrscht denn auch das Klavierfieber hier in einem unerhörten Maße. Aber dies ist es nicht, was einen Veteranen, der viele Jahre lang die Nachbarschaften einer Berliner Chambre-garnie getragen und vom rasenden Lisztianer an bis zur Skala-spielenden Wirtstochter herunter alles durchgemacht hat, was bei ihm zu Lande einem menschlichen Ohre begegnen kann–  dies ist es nicht, was einen bewährten Mut bricht; das eigentliche Schrecknis Londons sind die Straßenvirtuosen.

Man ist aufgestanden, sitzt beim Breakfast und liest, keines Überfalls gewärtig, die »Times«, vielleicht gerade die vaterländische und nie überschlagne Spalte: »Prussia; from our own correspondent«. Da schnarrt und klimpert es heran, immer näher und näher, faßt endlich Posto dicht am Gitter des Hauses und blickt, immer weiter drehend, mit dem braunen Gesicht so treuherzig ins Fenster, als hab' er die feste Oberzeugung, mit seiner Drehorgel alle Welt glücklich zu machen. Es ist »povero Italiano«, wie er leibt und lebt; auch die Orgel ist echt mit ihren dünnen Hackbrettönen, und nur die tanzenden Puppen fehlen und der Affe, der an den Dachrinnen hinaufklettert. Ich kenn' ihn wohl, er kommt heute nur eine Stunde früher–  es ist eine treue Seele, so treu, so unveränderlich, wie seine Stücke. Ach, wie oft hab' ich sie schon gehört und je mehr ich sie hasse, je mehr verfolgen sie mich. Thackeray erzählt gelegentlich von einem 68jährigen Manne, der eines Morgens ganz ernst beim Frühstück sagte: »Mir träumte diese Nacht, Mr. Robb züchtige mich.« Seine Seele hatte die Schreckens-Eindrücke der Schule noch immer nicht ganz los werden können. Ich stehe nicht mehr in erster Jugend, aber ich halt' es nicht für unwahrscheinlich, daß mir noch nach dreißig Jahren »povero Italiano« im Traum erscheint und mich züchtigt – mit seiner Orgel.

Musik war seit Rizzios Zeiten oft die Brücke zwischen Italien und Schottland; auch heute reichen sie sich auf ihr die Hand: der Savoyarde ist fort und der Hochländer tritt an seine Stelle. Er ist nicht allein; die Hauptsache, den Dudelsack nicht einmal mitgerechnet, sind es ihrer fünf: Vater, Mutter und drei Kinder. Walter Scott hatte bekanntlich einen Dudelsackpfeifer im Hause, der ihm die Stimmung geben mußte, wenn er zur Feder griff. Diese Tatsache beweist nur den alten Satz, daß jeder große Mann an einer bestimmten Geschmacksverirrung leidet. Aber lassen wir Sir Walter und wenden wir uns wieder zu der Familie vor uns, der trostlosen Karikatur alles dessen, was meiner entzückten Phantasie vorschwebte, wenn ich das »Herz von Midlothian« las, oder mit Robert Burns, am Bergwasser entlang, zu einer seiner vielen Marys oder Bessys schlich. Diese älteste Tochter, die jetzt heiser ein altes Stuart-Lied »Charles my darling« durch die Straßen schreit, ist alles in der Welt, nur nicht das »schöne Mädchen von Perth«, der Kilt des Vaters ist so schmutzig, daß er die Farben keines oder jedes Clans zur Schau trägt, und meinen mitgebrachten Vorstellungen entspricht nichts, als allenfalls – die nackten Knie.

Doch ich habe nicht Zeit, schlechten Tönen und trüben Gedanken nachzuhängen; um die Ecke herum lärmt es schon wieder von Pauken und Trompeten, und nach wenig Augenblicken hält der seltsamste Aufzug vor meinem Fenster, den ich all' mein Lebtag sah. Auf einem Handwagen steht ein sieben Fuß hohes Blatt- und Zweiggeflecht, halb unsern Weihnachts-Pyramiden und halb jenen Kronen ähnlich, die Maurer und Zimmerleute auf den First eines gerichteten Hauses setzen. Goldblech, Fahnen und bunte Bänder schmücken das Machwerk. Drum herum tummeln sich verkleidete Burschen, Clowns mit weißen Pumphosen und weißen Kitteln, über und über mit Mehl bestreut. Welche Wirtschaft das! Jetzt umtanzen sie den Baum, aber plötzlich stieben sie wie rasend auseinander, der eine schlägt auf die Pauke los, ein zweiter steht Kopf, der dritte überschlägt sich in der Luft, ein vierter sammelt Geld ein, und der Rest, der zu gar nichts anderem zu gebrauchen, muß – singen. Es geht über die Beschreibung, was solche Notsänger dem menschlichen Ohr zu bieten vermögen. Wie oft hab' ich solche Dinge in alten Robin-Hood-Balladen bewundert, aber meine Verehrung hat den Teufel an die Wand gemalt. Da hab' ich sie nun leibhaftig vor mir, die poetischen Schlagetots aus Nottinghamshire und dem Sherwood-Wald, und mein sehnlichster Wunsch ist – von ihnen wieder zu lesen. Doch ich bin ungerecht gegen mich selbst; die Äußerung wahrer, herzlicher Freude würd' ich im Leben so gut verstehn wie im Gedicht, aber das ist nicht das merry old England, was da vor mir Purzelbäume schlägt und in die Hanswurst-Trompete stößt, das ist das money-making Volk des neunzehnten Jahrhunderts, das, wie es jede Empfindung ausbeutet, gelegentlich auch von der Lust den Schein borgt um – eines Sixpence willen.

Das Maß meiner Geduld ist voll, ich greife nach Hut und Stock, um mir in Hyde-Park oder Kensington-Gardens ein ruhiges Plätzchen auszusuchen. Aber es muß heut' der Namenstag der heiligen Cäcilie sein, denn Musik überall. Ich passiere Eaton-Square – ein Palast-umbautes Oblong von einer Ausdehnung und Schönheit, wie es unser Exerzierplatz zu werden verspricht–  aber auch hier unter den Fenstern der Aristokratie baut der Vogel sein Nest. Gott sei Dank, es ist kein Singvogel darunter; indessen zwei Becken, ein Triangel, ein Tambourin und eine Geige tun das Ihre. Es sind fünf Neger, Weißes fast nur im Auge, mit wolligem Haar und karminroten Lippen. Der geeignete Schauplatz ihrer Tätigkeit wäre allerdings die Wüste, aber nichtsdestoweniger glaube der Leser an alles eher, als an die Echtheit dieser Mohren. Sie sind nichts als die Kehrseite jener albinohaften Clowns: dort alles weiß, hier alles schwarz, jene eine Schöpfung des Mehlkastens, diese des Schornsteins. Es sind Tagediebe; mit Ausnahme des Violine-spielenden Kapellmeisters, der einen schwarzen Frack, eine Brille und eine graue Perücke trägt und Kopfbewegungen macht, als wäre er Paganini selber, hat keiner auch nur eine Ahnung davon, daß es überhaupt Noten gibt: aber Tambourin und Triangel sind keine schwierigen Instrumente und  – die Kapelle ist fertig. Und glauben Sie nicht, daß man vor diesem erbärmlichen Gelärm seine Ohren mit Wachs verschließt; keineswegs! Nicht nur Käth' und Jenny sind aus der Küche gekommen und lauschen am Gitter, auch Miß Constanze ist mit drei Busenfreundinnen auf den Balkon getreten und ergötzt sich an einer Musik, die, wenn sie wirklich afrikanisch wäre, mich die Reiseschicksale Barths und Overwegs mit doppelter Teilnahme würde verfolgen lassen.

Der Abend bricht herein. Machen wir noch einen Besuch in »Evans-Keller«. Er befindet sich am Coventgarden-Markt unter einer sogenannten »Piazza«, die, wenn sie begierig nach einem fremden Namen war, mit »Stechbahn« vollauf honoriert gewesen wäre. In Evans-Keller ißt man zu Abend und erhält Musik als Zubrot. Die Spekulation muß gut sein, denn die Tische sind besetzt. Zehn ziemlich gewandte Finger spielen die Ouvertüre am Flügel und kaum ist der letzte Ton verklungen, so rückt eine »Abteilung Waisenhaus«, eine Nachbildung und Karikatur unseres wackeren Domchors (der hier bekanntlich Sensation machte) auf die Bühne. Blasse, skrofulöse Gesichter, täuschend ähnlich jenen Gestalten, wie sie die Feder Cruikshanks in seinen Nicolas-Nickleby-Ilustrationen uns überliefert hat. Sie singen Lieder, Sonette, Madrigals, Arien, wie's eben kommt, und singen das alles mit jener unzerstörbaren englischen Zähigkeit, fünf volle Stunden hindurch, nur unterbrochen durch Solos, die gerade um eine Stimme zu viel haben und durch teils patriotische, teils zweideutige Deklamationen, die jedesmal mit einer Beifallssalve begrüßt und beschlossen werden. Hierher gehört auch der Zigarrenhändler des Kellers, ein Liebling der Versammlung. Er ist nur Dilettant und, wie ein Quäker, die Begeisterung abwartend, stellt er von Zeit zu Zeit seinen Kram beiseite, ergreift den ersten besten Stock oder Regenschirm und, die improvisierte Flöte an den Mund führend, pfeift er die Barkarole aus der Stummen mit einer Meisterschaft, die eines besseren Gebietes würdig wäre. Bescheiden wie ein alter Römer, kehrt er von der »Jagd auf den Meertyrannen« zu seiner friedlichen Beschäftigung zurück, und sich rechts und links hin wendend, spricht er die historischen Worte: »Zigarre gefällig?«

Warum hab' ich den Leser noch zu Evans geführt? Lediglich um ihm den Beweis zu geben, daß der englische Geschmack mittelmäßige Musik nicht nur erträgt, sondern sie auch sucht. Der Piazza-Keller ist keine Taverne gewöhnlichen Schlages, sie ist der Versammlungsort Gebildeter, und die mäßige Musik, die dort gemacht wird, ist eben nicht besser, als sie ist, weil sie dem vorhandenen Bedürfnis durchaus entspricht. Da liegt's! Ein Tor nur kann sich durch solche Erfahrungen in der Bewunderung eines großen Volks, unter dem er lebt, irgendwie stören und beirren lassen, aber es bleibt nichtsdestoweniger wahr, daß wir in Sachen des Geschmacks um einen Siebenmeilenstiefel-Schritt den hiesigen Zuständen voraus sind und daß z. B. Evans-Keller, der wohlverstanden mehr sein will, nur allenfalls auf gleicher Höhe steht mit jenen Sebastiansstraßen-Lokalen, die vor Zeiten die Anzeige brachten: »Heut Abend, Gesang und Deklamation von Herrn Frey«.


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