Theodor Fontane
Ein Sommer in London
Theodor Fontane

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»Not a drum was heard«

Dies sind die Anfangsworte des berühmten, von Charles Wolfe gedichteten Volksliedes: »The burial of Sir John Moore.« John Moore war Generalmajor in Spanien und der Vorgänger Wellingtons im Kommando. Auf dem Rückzüge ward er bei Coruna (wo sich die englische Armee einschiffte) durch eine Kanonenkugel des verfolgenden Feindes getötet. In St. Paul ward ihm, unfern von Abercromby, ein Denkmal errichtet.

Tagüber war Regen; nun standen die Sterne klar am Himmel, aber sie spiegelten sich in Wasserlachen und die Luft ging kalt. Es mochte Mitternacht sein. Wir durchschritten die endlos langen Straßen Southwarks und froren bis aufs Mark. So kamen wir in die Nähe der Themse; schärfer blies der Wind und unsere sechs Augen glitten jetzt, wie von einem Willen regiert, die Häuserreihen hinab: sie suchten ein farbiges Licht, sehnsüchtig wie der Schiffer seinen Leuchtturm. Nichts leichter zu finden in London, als eine bunte Laterne! Wir traten ein; der Zufall hatte uns glücklich geführt. Keine nackten Wände mit Zinnkrügen ausstaffiert und Qualm an der Decke; nein, blendendweißer Stuck, Pfeilerspiegel und Seestücke von Meisterhand ringsum an den Wänden. Es war ein Matrosen-Salon. Wo der Matrose verkehrt, da herrscht Luxus und Reichtum. Zwölf Monat auf See, zwölf Tage an Land: mit der Blindheit der Leidenschaft stürzt er sich in den Strudel wilder Lust, wirft sein Geld weg, das ihm schon morgen nichts mehr frommen mag, und nennt das – sein Recht. Eine Stunde Rausch für jede Stunde Gefahr!

Aber die tollen Gäste fehlten heut: kein Tanz, kein Spiel, kein Zank; keine Mütze mit dem Dreifarbenstreif und keine knapp anliegende Jacke mit ihrer Doppelreihe goldblanker Knöpfe. Vergeblich flackert die Flamme im Kamin; taghell blitzen die doppelarmigen Kandelaber; umsonst! Umsonst stimmen Baß und Geige ihre Saiten und proben und locken; jeder Eintretende bringt eine Enttäuschung – auch wir.

Dennoch ist eine Gesellschaft versammelt. Im Halbkreis um den Kamin herum lagen zwanzig Weiber: die Mehrzahl von dunklem Teint und schwarzem Haar, voll und üppig, Bilder der Kraft und Sinnlichkeit zugleich. Daneben – Kinder von fünfzehn Jahren und darunter, blaß, frech, schwindsüchtig, ganz vom Laster und halb vom Tod erfaßt. Orientalisch, mit untergeschlagenen Beinen sitzen sie auf gepolsterten Kissen: apathisch-schläfrig starrt die eine in den Kamin; lachend über das Scherzwort ihrer Nachbarin zeigt die zweite ihre blendend weißen Zähne; wohlgefällig, im Spiegel gegenüber, freut sich die dritte ihrer dunklen Schönheit; eine vierte und fünfte würfeln um die Zeche; der Rest lärmt und lacht und gähnt; nur eines ist allen gemeinsam – das Glas Grog in der Hand.

Rechts von ihnen, an einem Steintisch, sitzen drei Stammgäste, Männer zwischen vierzig und fünfzig, feste Leiber und feste Seelen, gleichgültig gegen Leben, eigenes und fremdes, Helden im Kriege, Gesindel im Frieden, längst fertig mit den Weibern, nur zweierlei noch im Herzen: Alt-England und – Rum.

»Hört auf zu quietschen!« ruft jetzt der Älteste von ihnen den Fiedlern zu, »wen lockt ihr noch um Mitternacht? Wer kommen will, war längst da. Aufgepaßt! ich sing' euch eins.«

»Bravo! Old-Bobwill singen; still da!« ging's jetzt im Kreis herum, bis endlich die vielen Rufe in den einen zusammenklangen: »Dein Leiblied, Bob! fang an! not a drum was heard!«

Der Alte war aufgestanden. Er warf seinen breitkrempigen Hut auf den Tisch, als ging er an das Lied wie an sein Gebet, fuhr mit der Hand rasch über Gesicht und Haar, räusperte sich und begann:

Kein Trommelwirbel, kein Grablied hohl,
Als wir an den Wallrand lenkten
Kein Schuß rief über ihn hin: »Fahr wohl!«
Als wir ihn niedersenkten;
Wir senkten ihn nieder um Mitternacht;
Sein Grab – ohne Prunk und Flimmer:
Wir hatten's mit Bajonetten gemacht
Bei Mond- und Windlicht-Schimmer.

Viel Zeit zum Beten hatten wir nicht,
Nicht Zeit zu Klagen und Sorgen,
Wir starrten dem Toten ins Angesicht,
Und dachten: »was nun morgen!«
Kein Grabtuch da, kein Priester nah,
Kein Sterbekleid und kein Schrägen,
Wie ein schlafender Krieger lag er da.
Seinen Mantel umgeschlagen.

Und kaum noch, daß unser Tun vollbracht,
Heim rief uns die Glock' von den Schiffen,
Und über uns hin jetzt, durch die Nacht,
Des Feindes Kugeln pfiffen;
So ließen wir ihn auf seinem Feld,
Blutfeucht von Heldentume,
Da liegt er und schläft er allein, unser Held,
Allein mit seinem Ruhme.

Wir dachten, als wir den Hügel gemacht
Über seinem Bette der Ehre:
Bald drüber hin zieht Feindes Macht,
Und wir – weit, weit auf dem Meere;
Sie werden schwätzen viel auf und ab
Von Ehre, die kaum gerettet, –
Doch nichts von allem dringt in sein Grab,
Drin wir Britischen ihn gebettet.

Er schwieg und einen Augenblick alles mit ihm. Dann aber sprangen die Weiber von ihren Polstern auf, die Fiedler ergriffen ihre Geigen wieder, und ohne das ein Zeichen gegeben oder ein Wort gesprochen war, klang jetzt in begeistertem Chorgesang der letzte Vers des »Sir John Moore-Liedes« noch einmal durch die weiten Räume des Saales.

Die letzte Note war verklungen; man schwang die Gläser, man schrie, man lärmte; wir aber brachen auf, ängstlich bemüht, den Eindruck dieser Szene ungetrübt mit nach Hause zu nehmen. Schweigend schritten wir über die Londonbrücke, tausend Lichter spiegelten sich im Strom, hundert Schiffe streckten ihr Mastenwerk phantastisch in die Nacht, von St. Paul schlug es zwei, mir aber klang's noch immer im Ohr: not a drum was heard!

Das ist das Mark dieses Volkes: national bis auf die Matrosendirne hinunter. Solche Kraft kann gedemütigt werden, aber nicht gebrochen; jeder Niederlage muß die Erhebung folgen.


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