Theodor Fontane
Ein Sommer in London
Theodor Fontane

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Die Middlesex-Wahl

Die Wahlen in London waren vorüber und meine Erwartungen  – getäuscht. Ich hatte nicht eben auf Krawall und Zusammenrottung, oder gar ein Revolutiönchen nach der Mode gerechnet, aber doch auf eine allgemeine und sichtbare Beteiligung der Bevölkerung, auf eine veränderte Physiognomie der Stadt und ihres Treibens. Nichts von dem allen traf ein. Hier und dort ein Riesenplakat in bunten Lettern; auf den Märkten und Plätzen eine Votierbude; in den Bierhäusern vermehrte Konsumtion von Porter und Ale; an den Straßenecken ein Austernhändler, der seinen stummen Meerbewohnern ein »votiere für X oder Y« auf die Schale geklebt hatte; sonst nichts als schlaff herabhängende Fahnen, die darüber nachzudenken schienen, was langweiliger sei: diese Wahl oder ihre eigene Bestimmung. Keine Teilnahme, kein gesteigertes Leben, kein Abweichen von dem ausgefahrenen Gleise täglichen Verkehrs. Punkt 9 Uhr wie immer fuhren die City-Kommis im dichtbesetzten Omnibus die Oxfordstraße entlang; Punkt 1 Uhr wie immer zogen die Horse-Guards auf Wache; im James-Park so viel Kindermädchen wie sonst, im Hyde-Park so viel Ladies zu Pferde wie immer; ja selbst am Büchertisch meines Nachbars, des Straßen-Antiquars, fehlte kein teures Haupt und die »lieben alten Gesichter« blätterten so emsig in den vergilbten Scharteken von »Bothwell, der Königsmörder«, oder »die Kunst, von jeder Frau geliebt zu werden«, umher, als wäre ihnen der Sieg von Whig oder Tory so gleichgültig, wie der Sturz oder die Ernennung eines chinesischen Mandarinen.

Das Schauspiel einer englischen Wahl wird nur noch in kleinen Provinzial-Städten aufgeführt, wo es, wenigstens auf Tage, möglich ist, der ganzen Bevölkerung eine gemeinschaftliche Richtung zu geben und wo das Wahlfeuer noch nicht auf jene eisige Apathie millionenfachen Unglücks oder doch unvereinbarer Interessen stößt, die die Flamme dämpft, statt sich von ihr entzünden zu lassen. Wer in London lebt der wähle Brentford, wenn er das Bild einer englischen Wahl mit in die Heimat nehmen will; er findet da noch die gute alte Zeit mit ihrem Reiz und ihrem – Unsinn.

Brentford, kaum eine deutsche Meile von London entfernt, ist der alte Sammelplatz, der Wähler von Middlesex, und die Hauptstadt jener kleinen Grafschaft, die sich in schmalem Streifen um die Riesenstadt herumlegt, wie ein wertloser Ring um einen Edelstein, den die Erde zu arm ist, mit ihrem Golde aufzuwiegen. Middlesex schickt zwei Vertreter ins Parlament, seit Jahren dieselben Namen: Lord Grosvenor und Mr. Osborne; jener ein Whig aus der alten Schule, energisch nur in seiner Feindschaft gegen alles, was Tory heißt – dieser ein Freund und Geistesverwandter des alten Radikalen Hume, des »Vaters der Reformbill«. Lord Grosvenor und Mr. Osborne waren auch diesmal wieder gewählt, der letztere jedoch mit einer kaum nennenswerten Majorität. Vielfach während der Zählung hatte sich die Waage zugunsten seines Nebenbuhlers, des Marquis von Blandford, eines eifrigen Derbyiten und früheren Vertreters von Woodstock geneigt, und nur die Anhänglichkeit des Städtchens Brentford selbst hatte schließlich die Wiederwahl des »Volksmannes« gesichert. Die Zählung war vorüber und das Resultat gekannt, aber die amtliche Verkündigung desselben durch den Grafschafts-Sheriff, in goldener Kette und Galanterie-Degen, stand noch bevor. Heute war der Tag, 12 Uhr die festgesetzte Stunde und – das Volk geladen. »Lord Grosvenor und Mr. Osborne werden die Ehre haben, der Bevölkerung von Middlesex aufzuwarten (they will attend)« – so lautete die Schlußversicherung in vielen hundert Plakaten. Möglich daß das Wort im Englischen eine mildere Bedeutung hat (»erwarten« vielleicht), nichtsdestoweniger ist es ein »Aufwarten« der Sache nach, ein entschiednes »Aufwarten«, insofern der Gewählte durch Sitte oder Gesetz verpflichtet ist, auf die oft dümmsten Fragen eines bunt zusammengewürfelten Haufens Red' und Antwort zu stehn. Das Ganze ist ein so prächtiges Stück von Volkssouveränität, wie es nur irgendwie und wo gewünscht werden kann.

Es geht ein Omnibus nach Brentford. So lange wir London und seine Vorstädte noch zu beiden Seiten hatten, rang das politische Treiben vergeblich nach Geltendmachung; die Hochflut des Londoner Lebens, sein Handel und Wandel schlugen darüber zusammen und begruben es. Kaum aber, daß wir die »Stadt« im Rücken hatten, so trat ans Licht, was eben noch überwuchert war und hundert Zeichen deuteten auf den Kampf, der sich in Brentford vorbereitete. Die Chaussee, auf der wir dahin rollten, glich wirklich einer Heerstraße. Anhänger beider Parteien, die einen mit blau-rot-weißen Bändern am Hut, die andern mit blau-gelb-grünen Schleifen im Knopfloch, galoppierten wie diensttuende Adjutanten an uns vorüber; neue Truppenmassen, mit Musik an der Spitze und bei jedem Bierhause zum Weitermarsch sich stärkend, wurden von rechts und links ins Feuer geführt; Marketenderinnen mit ihrem Karrenkram saßen unter Ahorn- und Ulmenbäumen, schlechtes Bier, aber guten Schatten feilbietend, und Maueranschläge zu beiden Seiten des Weges (denn die Häuserreihe reißt nicht ab) starrten sich wie feindliche Herolde einander an und sagten sich Dinge, die den Schimpfern und Helden vor Troja alle Ehre gemacht haben würden.

Doch das alles war Vorspiel. Das eigentliche Stück begann erst, als wir in Brentford einfuhren, und wenn gewisse Dramatiker Recht haben, die da meinen, »ein gutes Schauspiel müsse mit einer guten Dekoration beginnen«, so ist kein Zweifel darüber, daß die Brentforder zu den Bühnen-praktischen Leuten zählen. Das war nicht mehr die verräucherte Fabrikstadt, das war ein Lauberhüttenfest. Wie bei uns um Pfingsten, wenn halbe Birkenwälder in unsre Dörfer wandern und selbst der Lehmhütte ein festlich grünes Kleid antun, so war das rußige Brentford jetzt ein märchenhaft geputztes Aschenbrödel geworden: es war auch zum Weidenbaum gegangen, aber der Baum brauchte sich nicht aufzutun, aller Schmuck hing frei an den Zweigen. Die Häuser – ein Wald, und die Fenster – ein Garten! Da blühten Fuchsia und Rose, Erika und Rhododendron; hinter den Blumen blühten die Mädchen und wieder über die Köpfe der Töchter hinweg guckten die Mütter, freilich keine Blüten mehr, und ließen die blau-grün-gelben Haubenbänder im Winde flattern. Alles nickte und grüßte und lachte, selbst Gouvernanten entschlugen sich ihres vorschriftsmäßigen Ernstes und lächelten so bedeutungsvoll, wie der Sklave, wenn er die Kette bricht.

Dazu zahllose Girlanden, die sich von Dach zu Dach quer über die Straße zogen. Der Inhalt ihrer Tafeln und Inschriften war es, was mehr als alles andere der Fest-Dekoration meine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Ich gebe einige dieser Kernsprüche in wortgetreuer Übersetzung.

»Triumph bürgerlicher und religiöser Freiheit!«

So empfing uns eine Fahne am Eingang in die Stadt.

»Wer ist bigott? wer predigt religiöse Verfolgung? wer stimmt gegen unsere katholischen Brüder? Wer?

Der Marquis von Blandford!

Mag er's leugnen, wenn er kann, oder dastehen als ein Wolf in Schafskleidern.«

»Ein Derby-Hündchen (Marlborough-Race) hat sich verlaufen und ist von Woodstock nach Middlesex geraten. Leider hat man ihn hier dermaßen gebissen, daß er froh sein mag, in seine alte Hütte zurückzukehren. Glückliche Reise!«

Diese letztere Spötterei war das Grundthema unzähliger Variationen, die ich übergehe; endlich unter einer zweiten Riesenfahne,, die ohne weiteres den »Sturz der Intoleranz!« verkündigte, fuhren wir auf den Marktplatz, wo die Vorstellung soeben begonnen hatte: Lord Grosvenor »wartete bereits auf«.

Doch weg jetzt mit dem historischen Stil und das lebendige Präsens an seine Stelle! Lord Grosvenor ist ein ältlicher Herr; seinen Zähnen nach zu schließen keiner von denen, die das Derby-Hündchen herausgebissen haben. Er spricht undeutlich und sehr lange; so haben wir denn Zeit, uns umzusehen. In der Mitte des Platzes steht die Rednertribüne; unmittelbar dahinter erheben sich amphitheatralisch-ansteigend die Bänke der Wähler, im Vordergrunde befindet sich »Volk« und füllt den Platz, ein Konglomerat zerrissener Jacken und schmutziger Hemdsärmel. Mit seinen eigentlichen Wählern ist der Kandidat seit gestern fertig; nur noch mit »dem Volke« hat er sich auseinanderzusetzen. Drum kehrt er auch vorschriftsmäßig jenen den Rücken zu und wendet sich mit dem üblichen: »Gentlemen, ich habe die Ehre ...« an eine Musterkarte von Straßenkehrern und Schiffsknechten, die Oberst Bersdorf (ein Derbyit in Norwich) so unhöflich war, »das erbärmlichste Gesindel« zu nennen, »das ihm all sein Lebtag vorgekommen sei«.

Auch das »schöne Geschlecht« ist auf dem Marktplatz vertreten und steuert bei, je nach seiner Art, zur Verherrlichung und Charakteristik des Festes. Zunächst der Tribüne und mitten durch den Volkshaufen hindurch, zieht sich auf gepolsterter Bank ein Streifen reichgeputzter Damen, wie eine Amethyst-Ader durch Rauchquarz. Sie haben ihre Schirme aufgespannt; ich wette, mehr um sich gegen die »Gentlemen«, als gegen die Sonne zu schützen. Das schöne Geschlecht von Brentford hat aber auch andere Vertreter abgesandt: Mannweiber, zwischen fünfzig und sechzig, mit Katzenschnurrbart und grauen Augen; sie haben am äußersten Rande des Volkshaufens in langer Reihe Posto gefaßt, und wie Trabanten mit langen Stangen bewaffnet, lassen sie deren Inschriften und Embleme über den Köpfen ihrer Männer und Söhne hin und her wehen. Diese Inschriften lauten: »Der Marquis von Blandford ist gegen das billige Brot«, und um es dem blödesten Sinne faßbar zu machen, um was es sich handelt, prangen auf andern Stangen die handgreiflichen Illustrationen dazu: hier ein Brötchen, kaum größer als eine Faust, mit der Aufschrift: »Blandford für Sixpence«, dort ein Riesenbrot mit dem Zuruf: »Osborne für drei Pence«.

Endlich! Lord Grosvenor ist fertig und macht dem »Volksmann« Platz. Er wird wie eine Tänzerin empfangen, die fünf Monate auf Urlaub war und zum ersten Mal wieder die Wunder des großen Zehen vor ihren alten Freunden entfaltet; es ist nicht Huldigung mehr, es ist Raserei. Und in der Tat, Mr. Osborne hat Anspruch auf diesen Beifallsjubel: er tanzt die englischen National-Tänze, daß es eine Freude ist, und seine Rede wimmelt von »großer Nation« und »ehrenwerten Gentlemen«, von »Freihandel« und »billigem Brot« – da widerstehe, wer kann! Sicherlich, daß die stereotype Schlußposse des Kontinents »das Volk als Pferd« auch hier Platz gegriffen hätte, wenn nicht Mr. Osborne ein bescheidener Fußgänger gewesen wäre. Noch ist der Beifall in der Luft, da lösen ihn plötzlich andere Töne ab: der Marquis von Blandford (auch der besiegte Kandidat hat sich nach alter Sitte dem Volk zu präsentieren) ist vorgetreten, um der Versammlung kaltblütig zu versichern: »daß er und seine Sache das nächste Mal die Sieger sein würden«. Aber weiter bringt er's nicht; zwar spricht er noch und versucht seine Stimme in allen Tonlagen, jedoch umsonst. Ein Lärm hat sich erhoben, gegen den der Beifallssturm der vorigen Minute ein bloßes Gesäusel war. Was menschliche Organe je erfanden, um ihre Verachtung auszudrücken, vereinigt sich hier zu einem Monster-Konzert; unsere vaterländischen Katzenmusiken sinken zu bloßen Stümpereien herab, oder erheben sich vergleichsweise zum Wohlklang einer Symphonie. Die Pfeife ist natürlich das Grundinstrument, aber auch das englisch-nationale Grunzen findet seine Virtuosen, und die zahnlosen Manier unzähliger alter Weiber blasen, wie Vansen im Egmont, dem unglücklichen Marquis ihr hämisches A, E, J, O, U ins Gesicht. Zu gleicher Zeit dringt jetzt die Amazonen-Garde vor, postiert sich mit dem Riesen- und Zwergbrot dicht vor die Augen des Redners, fächelt ihm mit den Papierfahnen: »Blandford ist gegen das billige Brot« unerquickliche Kühlung zu und schwingt die grünen Büschel, mit den orangefarbenen Blumen,Unsere sogenannte »Studentenblume«, die um ihrer Farbe willen an diesem Tage eine Hauptrolle spielt. nicht mehr im Triumph und mit den Zeichen der Freude, sondern drohend wie eine Rute. Umsonst erheben sich einige Stimmen: »give him fair play!« oder: »let's hear him!« umsonst tritt der »Volksmann« vor und beschwört die Gentlemen, den Marquis zu hören, wenn sie seine (Osbornes) Freunde seien; umsonst dringt der Marquis noch einmal durch, um ihnen folgenden Satz in die Zähne zu werfen: »Ich verstehe die Schnurren und Witzeleien meiner Gegner und nehme sie lachend hin als das Unvermeidliche einer Wahl; aber es ist unwürdig, mir höhnisch das Jahrgeld vorzuhalten, das ein dankbares Vaterland meinem Ahn für seine Dienste und seine Siege bewilligte und das auf mich überging, weil ich das Glück habe, ein Enkel Herzog Marlboroughs zu sein.« Armer Marquis, wohin verirrst du dich? Du sprichst nicht im Unterhause und vor Leuten, die eine Ahnung von der Geschichte ihres Landes haben, du stehst vor »Gentlemen«, die von Höchstädt und Malplaquet so viel wissen, wie von den Quellen des Nil. Wirf den Ruhm deines großen Ahnen nicht länger weg und gedenke der Perle im Sprichwort. Tu', was du jetzt tust: lächle und tritt ab.

Das Schauspiel war aus, das Volk verlief sich, ich selbst sprang auf den Omnibus, und während die heiße Mittagssonne mich unbarmherzig briet, hatt' ich Zeit über die Erlebnisse der letzten Stunden nachzudenken. Was soll diese Farce? Mag's immerhin recht sein, voll Mißtrauen auf die Superklugheit der Jungen zu blicken, dies Mißtrauen darf nicht zum Freibrief für all und jeden Nonsens vergangener Jahrhunderte werden. Der ganze Akt ist ein Widerspruch. In Ländern, wo alle Stimmen gleich schwer wiegen, mag dies »Aufwarten« vor versammeltem Volk einen Sinn haben, aber sinnlos ist es, und für den besiegten Kandidaten ein Martyrium, um nichts und wieder nichts sich einer, in den meisten Fällen bezahlten Rotte in solcher Weise preiszugeben, einer Genossenschaft, die außerhalb des Wahlrechte stehend, wie auf Abschlag nur mit dem Schimpfrecht ausgestattet zu sein scheint und allerdings versteht, den weitesten Gebrauch davon zu machen. Weg mit solchem Plunder! »Das Jahr übt eine heiligende Kraft«, aber man möge aus demselben Dichter auch die Wahrheit lernen:

»Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit,
Und neues Leben blüht aus den Ruinen.«


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