Theodor Fontane
Ein Sommer in London
Theodor Fontane

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Richmond

Die großen Tyrannen sind ausgestorben; nur in England lebt noch einer – der Sonntag. Er wird auf die Nachwelt kommen wie Cambyses und Nero; nur zündet er die Städte nicht an, denn die Flamme ist Geist; Wasser aber ist sein Wesen und seine Gefahr – das Element der Langeweile. Womit vergleich' ich einen Londoner Sonntag? Leser, hast Du jemals einen Abschiedsschmaus gefeiert: feuriger Wein und feurige Rede, Rundgesang und Lichterglanz, Freunde mit blauen und Schenkinnen mit schwarzen Augen, Lust und Leben, Liebe und Leidenschaft um Dich her – so schliefst Du ein. Du erwachst: die Morgensonne fällt ins Zimmer, alles öd und leer, im Winkel Scherben, ein niedergebranntes Licht spricht von vergangener Lust, und eine verschlafene Magd kehrt aus – das ist ein Londoner Sonntag.

Wir gehen den »Strand« hinunter; Glockenklang und Sonnenschein sind in der Luft und bieten uns die Wahl. Wir sind nicht von den Unkirchlichen: aber die Sonne ist seltner in London als die Kirche, und wir fürchten die Eifersucht jener fast mehr noch als dieser: so denn hinaus in Wald und Feld. Aber wohin? Da rollt zu guter Stunde ein Omnibus an uns vorüber und wir lesen in goldnen Lettern »Richmond«. Ja, Richmond! doch wir sind Deutsche, und eh wir uns noch bestimmt entschieden haben, ist Kutscher und Kondukteur uns aus dem Gesicht, und nur das goldne »Richmond« leuchtet noch von fern wie ein Stern der Verheißung.

Ja, nach Richmond! aber zu Wasser. Wir biegen, nach Süden zu, in die Wellington-Straße ein, erreichen die Waterloo-Brücke, werfen einen flüchtigen aber bewundernden Blick auf diese steinerne Linie, die über den Fluß läuft, und steigen dann rasch die Stufen zu einer jener schwimmenden Inseln hinab, die, aus Pontons gezimmert, rechts und links an den Ufern der Themse auftauchen und die Stationen bilden für eine Flotte von Steamern. Schon läutet's; beeilen wir uns. Es ist die »Wassernixe«, die eben anlegt; das Billett ist rasch gelöst und der nächste Augenblick sieht uns unter viel hundert geputzten Menschen, alle entschlossen, wie wir selbst, die »Wassernixe« zur Arche Noah zu machen, die uns der Sündflut einer Londoner Sonntagslangweil entführen soll.

Wir nehmen Platz an der Feueresse und haben alsbald nicht Ursach, unsere Wahl zu bereuen: vor uns auf grüner Bank sitzt eine echt englische Familie, Vater und Mutter, zwei Töchter und ein Bräutigam – alles Vollblut aus der City, weniger dem Gelde, als der Abstammung nach. Der Alte, Seifensieder oder Talglichtfabrikant, trägt viel von jenem Selbstbewußtsein zur Schau, das nur ein alter und unbefleckter Stammbaum leiht, und seine Stirne erzählt von jenem Ahnherrn, der schon Lichte zog, als Katharina von Arragonien ihren Einzug hielt und die City illuminiert war, wie nie zuvor. Die Töchter sind hübsch, wie – alle englischen Töchter. Die ältere ist Braut: sie trägt einen krausen Scheitel, ein hohes schwarzes Seidenkleid, worüber in fast vornehmer Schlichtheit sich der schmale, weiße Halskragen legt, und ihre Hände und ihre Blicke ruhen nebeneinander auf ihrem Schoß. Sie ist bräutlich-verstimmt, oder bräutlich-sentimental, oder – beides. Vor ihr steht der Erwählte, noch jung an Jahren, aber alt an Weisheit und Verstand. Seine magre Blässe verweist auf Eagle-Tavern und manche durchtanzte Nacht; im übrigen ist er Engländer von Kopf bis zu Fuß. Er trägt glanzlederne Stiefel, eine blaue Krawatte und die Vatermörder von der vorschriftsmäßigen Sonntagshöhe; die Taille seines Fracks sitzt noch um zwei Zoll tiefer, als die seines Wochenrocks, und vorn im Knopfloch trägt er die ganze Poesie seines Lebens – eine Rose. Er zupft an den Vatermördern und neigt sich flüsternd zur Braut; sie aber schweigt noch immer. Da fällt plötzlich, wie Friede bittend, die Rose in ihren Schoß, und siehe da, das blaue Auge blickt schelmisch auf, als sprach' es: »Das war es, was ich wollte.« Die jüngere Schwester ist allein und – ist es nicht. Wind und Sonne sind um sie her. Sie spielt mit dem zierlichen Schirme, wie mit einem Fächer, und während sie vor dem Himmel und seiner Sonne sich schützt, bleibt uns Irdischen noch eben Raum genug, uns an dem Lächeln ihres Mundes zu erfreuen. Ich tu's; aber dreister ist der Wind: er faßt ihre langen Locken und löst sie auf, und wenn sein Glück nicht so flüchtig wäre, man könnte ihn drum beneiden. Die beiden Alten aber sitzen steif und regungslos, wie ägyptische Königsbilder, nebeneinander und halten einen baumwollenen Regenschirm gravitätisch in ihrer Hand. Von Zeit zu Zeit blicken sie auf ein Wölkchen, das über die lachende Stirn des Himmels zieht, und ihren Schirmstock fester fassend, sehen sich ihre Seelen voll Einverständnis an, als wollten sie sagen: auch unsere Stunde wird kommen.

Der Steamer inzwischen hält Wort: er ist eine »Nixe« und die Flut sein befreundet Element. Durch die Brücken hindurch geht es stromauf, vorbei an Palästen und Kirchen, die ihre Türme im Wasser spiegeln, vorbei an Westminster und Parlament, an Vauxhall und Chelsea, bis endlich die dichte Steinmasse zu armen, vereinzelten Häuschen wird, ähnlich der kleinen Münze, die weit über den Tisch läuft, wenn irgendwo ein Reichtum ausgeschüttet wird. Endlich verschwinden auch diese; nur Wiesen und Weiden noch zu beiden Seiten, bis plötzlich der Steamer hält: wir sind in Kew.

Von hier bis Richmond ist nur ein Spaziergang. Wir haben kein Auge für das Winken des Omnibuskutschers, der eben an uns vorüber fährt: Gärten rechts und Hecken links, so machen wir uns auf den Weg. Keine Stunde – und Weg und Stadt liegen bereits hinter uns; noch wenig Schritte bergan, noch dieses Tor, und wir sind in Richmond-Park. Unter allen Weibern sind das die reizendsten, die sich zu verschleiern und zu rechter Stunde, wie Turandot, auszurufen wissen: »Sieh her, und bleibe deiner Sinne Meister!« Es ist mit den Landschaften wie mit den Weibern; wer das nicht glauben will, der verliebe sich oder gehe nach Richmond. Wir sind in den Park getreten; der Kiesgang vor uns, die Buchen- und Rüsterkronen über uns verraten nichts Außergewöhnliches; gleichgültig, mit unsern Gedanken weit fort, gleiten unsere Finger an dem Eisengitter entlang, bis plötzlich ein Luftzug uns anweht und wir aufblicken. Wir stehen an einem Abhang, der ein »hängender Garten« ist. Weiß- und Rotdorn, mit ihrer Blütenfülle das dunkle Grün ihres Blatts verdeckend, tauchen wie Blumen-Inseln aus dem leisebewegten Grasmeer auf; wie ein Sinnbild des Reichtums dieser Fluren webt der Goldregen seine üppig gelben Trauben in dies Bild, und Fußpfade schlängeln sich rechts und links wie ausgestreckte Arme, die Dich einladen, teilzunehmen an all dem Glück. So reich die Nähe, aber reicher noch die Ferne. Am Fuß des Abhangs dehnt sich ein weites Tal, drin Rasen und Ginster sich um den Vorrang streiten, Laubwald, hoch und dicht, umschreibt einen grünen Kreis um so viel Lieblichkeit, und das blaue Band der Themse, bedeckt mit Inseln und Böten, gleitet mitten hindurch wie ein Streif herabgefallenen Himmels. Frischer weht der Wind, würziger wird die Luft, tiefer sinkt die Sonne, aber immer noch stehst Du, die Hand am Gitter, und blickst hinunter und atmest und träumst.

Der Park ist weit und groß; Du durchwanderst ihn nach allen Seiten, freust Dich an den Herden, die darin lagern, an den Schmetterlingen, die ihn durchfliegen, und den bunteren Menschen, die ihn durchziehn, aber in Deiner Seele lebt immer noch jenes erste Bild, wie die Klänge einer bewältigenden Melodie, die man am Abend hörte und noch am Morgen summen muß, man mag wollen oder nicht. Die fröhliche Menge eilt zu Ball- und Kricketspiel, zu Jahrmarkt und Polichinell: Du aber steckst, wie die Plantagenets taten, einen Ginsterzweig an Deinen Hut, und, im Vorübergehen, aus dem Becher dieses Richmond-Tales noch einmal trinkend und Dich mühsam losreißend wie aus Freundesarm, kehrst Du zurück an das große Schwungrad der Welt, das sich London nennt, und gibst Dich aufs neue ihm hin, mutig, aber Dir selber unbewußt, ob es Dich fördern oder zermalmen werde.


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