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4. Kirche und Denkfreiheit

 

»Das Denken ist keineswegs etwas Ursprüngliches, Erstes, ein Urquell aller Dinge, sondern das letzte höchste Ergebnis, die Spitze der Naturentwicklung«.

Wilh. Jordan.

 

Am Fusse der Albanerberge, wenige Meilen von Rom entfernt, liegt das festungsartige Kloster Grotta Ferrata. Der Architrav über der Tür, die aus der Vorhalle ins Innere der Kirche führt, zeigt die mittelalterliche griechische Inschrift: »Die Ihr ins Tor des Hauses eintreten wollt, lasset draussen den Rausch der Gedanken, dass Ihr wohldenkend findet den Richter drinnen!«

Diese Worte könnten ebensogut über dem Hauptportal von S. Giovanni in Laterano, »aller Kirchen Roms und des Erdkreises Mutter und Haupt« oder von Sankt Peter, ja sie könnten überhaupt über dem Eingang jeder Kirche stehen; denn sie sind die reinste Aeusserung der positiven Religion, d. h. der politisch orientierten priesterlichen Glaubenssysteme. Der »Richter drinnen« ist niemand anderes, als der hinter seinem Vorwand, d. h. hinter »Gott« versteckte Priester.

Ein andres Bild, zugleich für die römische Kirche ein höchst unerwünschtes Erinnerungsmal an die brutale praktische Konsequenz obiger Worte:

Auf dem Campo de' Fiori zu Rom, der Südwestecke des päpstlichen Kanzleipalastes gegenüber, erhebt sich an der Stätte, wo vor 300 Jahren sein Scheiterhaufen lohte, das Denkmal Giordano Brunos, den der »Rausch der Gedanken« in Himmelsfernen erhob, für die unsre Erde in ihrer Kleinheit nicht mehr Bedeutung hat, als ein Sandkorn für das Meer, ob sie gleich die Kirche zum einzigen Gegenstand der Sorge und des Interesses des Weltengottes gemacht.

Mit dem »Rausch der Gedanken« ist nicht etwa die Phantasie gemeint, die ja die Schöpferin aller Glaubensvorstellungen ist, obwohl es an sich nicht wunderbar wäre, wenn auch hier Petrus seinen Herrn und Meister verleugnet hätte. Der seinen Herrn verleugnende Petrus ist die beste Allegorie auf die »christlichen« Kirchen, insbesondere die römische, die man sich denken kann, mag man nun in diesem Herrn einen Menschen, einen Gott, oder die geschichtlichen Ursprünge sehen.

Gemeint ist das kritische Denken, das über Götter, ja selbst über den Priester hinwegschreitet, das hinter die heiligsten Dogmen zuerst Fragezeichen setzt, um endlich schonungslos die ihnen zugrunde liegenden Missverständnisse aufzudecken. Das Denken, das mit der Sonde des Zweifels selbst dem Sanktissimum zu Leibe geht, ist allen positiven Religionen ein Greuel, und sie haben daher sämtlich das Bestreben, es in Acht und Bann zu tun oder gar mit Feuer und Schwert zu verfolgen, d. h. die Entwickelung des Menschen zu geistiger Reife zu hindern.

»Hat man eigentlich«, fragt Nietzsche, »die berühmte Geschichte verstanden, die am Anfang der Bibel steht, – von der Höllenangst Gottes vor der Wissenschaft? ... Dies Priesterbuch par excellence beginnt, wie billig, mit der grossen inneren Schwierigkeit des Priesters: er hat nur Eine grosse Gefahr, folglich hat »Gott« nur Eine grosse Gefahr ... – es ist mit Priestern und Göttern zu Ende, wenn der Mensch wissenschaftlich wird! – Moral: Die Wissenschaft ist das Verbotene an sich, – sie allein ist verboten. Die Wissenschaft ist die erste Sünde, der Keim aller Sünde, die Erbsünde. Dies allein ist Moral. – »Du sollst nicht erkennen«: – Der Rest folgt daraus.« Werke, I. Abtlg. Bd. VIII., S. 282 f.

Eine bestimmte geistige Entwicklungsstufe, eine beliebige Phase des in vollem Flusse befindlichen Vorstellens eines Volkes zur unverrückbaren Norm für alle Zukunft, zur endgültigen Offenbarung, zum letzten Wort des Geistes, zur heiligen Grundlage und zugleich zum Ziel des menschlichen Lebens machen wollen – wie dies die Tendenz der Kirche ist – das ist genau dasselbe, wie wenn man jene Phase in der Entwicklung des Kindes, da es beliebig aufgefangene Worte wahllos daherplappert, für eine von ihm nicht mehr überbietbare Höhe der Vernunft erklären und es an weiterem Fortschreiten verhindern wollte. Die von den Ebbegeistern bewirkte Erstarrung im Fluss befindlicher Glaubensvorstellungen, deren Produkt die politisch orientierte sogenannte positive Religion ist, ist ein solcher willkürlicher Eingriff in die Entwicklung des, was die grosse Masse betrifft, noch sehr kindlichen Menschengeistes.

Die positiven Religionen sind entwicklungsfeindlich – ihr schlechtes Gewissen macht sie dazu – folglich sind sie lebensfeindlich; denn Leben ist Wandel, Fortschreiten, Entwickelung. Sowie sie zur Macht gelangt sind, hören sie auf Kulturfaktoren zu sein und wollen den Stillstand als Garantie ihres Besitzstandes, aber Stillstand ist Versumpfung, ist Tod. Indem wir gegen die positiven Religionen und ihre gefährlichen Tendenzen kämpfen, kämpfen wir um unser und unserer Mitmenschen Leben, um die freie Entwickelung des Geistes. Eine Entwickelung des Geistes ist aber nur möglich, wenn alle willkürlich aufgetürmten Hindernisse der Freiheit des Denkens aus dem Wege geräumt werden. An erster Stelle steht hier die Prostituierung der Schule durch die Kirche. Wo die Schule der Kirche ausgeliefert ist oder von der Kirche kontrolliert wird, wird die Jugend systematisch zur Bigotterie, sittlichen Heuchelei und fanatischen Dummheit erzogen. Eine Frucht namentlich römisch-klerikaler Erziehung, die allen Staatsmännern die Augen öffnen sollte, ist z. B. der grosse Anteil der katholischen Bevölkerung an der Kriminalität; sie übertrifft den der protestantischen um mehr als das Doppelte. Vergl. den Aufsatz von J. M. Schmitz: »Die Mutter der Schule« in »Das Freie Wort«, Jahrg. 1909, S. 92 f. – Wer sich ein Bild von den wahrhaft furchtbaren Früchten der römisch-klerikalen Volkserziehung in Spanien (wo auf jedes 40. männliche Individuum eine Person der Kirche kommt, und wo jeder zweite Mensch ein Analphabet ist) machen will, der lese das Buch des Padre Don José Ferrandiz, eines ehemaligen katholischen Geistlichen zu Madrid: »Das heutige Spanien unter dem Joch des Papsttums«, Frankf. a. M. 1909, Neuer Frankf. Verl., 205 S., 2.50 Mk. – Die überall zutage tretenden eiternden Schäden ihrer systematischen Verkümmerung des Denkens bei ihren Opfern hindern die Papstkirche freilich nicht, sich mit eherner Stirn immer wieder als die Mutter aller Kultur zu preisen und die Schulen für sich als die wahre Lehrerin der Weisheit und der Tugend zu reklamieren. Noch bedeutend grösser ist die Verhältniszahl des Anteils der römisch-katholischen Geistlichen, also der Urheber dieser Erziehung.

Das Denken ist die vornehmste und zukunftsreichste Lebensäusserung des Menschen, und es ist die heiligste Pflicht des Staates, seine Entwickelung mit allen Mitteln zu fördern, – es ist der beste Akt der Selbsterhaltung, den er ausüben kann. »Die Naturgeschichte lehrt unzweideutig, dass die Zukunft der Menschheit im Geiste liegt.« H. Lhotzky: »Die religiöse Frage« (»Die Zukunft der Menschheit«, 2. Bändchen). Berlin 1907, S. 3.

Ohne freie geistige Entwickelung keine ethisch vollwertige, ihrer Pflichten gegenüber ihren Mitmenschen und dem Staate sich bewusste Persönlichkeit. In der Behinderung der freien geistigen Entwickelung aber erblickte die christliche Kirche ihre Hauptaufgabe. Wenn sie herrschen wollte, brauchte sie eine geistig unfreie unselbständige, leicht- und abergläubische Masse, musste sie der Lehre ihres mythischen Helden, mit der sie anfänglich, als sie noch über keine Machtmittel verfügte, die Massen geködert hatte, ins Gesicht schlagen. Und sie wollte herrschen. Sie zwang die Geister unter das Joch ihrer Glaubensstatuten und demütigte sie überdies – natürlich zur Erhöhung ihrer eigenen Herrlichkeit, indem sie ihnen die Kraft absprach, aus eigenem Herzen Gutes zu tun, um eine Gnade Gottes (lies: der Kirche) daraus zu machen, während sie die Neigung zum Bösen als ihr Erbe von allem Anfang her erklärte.

Gegen diese, man kann doch wohl mit Recht sagen, infame theologische Lehre wendet sich Ludwig Feuerbach in folgenden Sätzen:

»Sind die wirklichen natürlichen Wesen nur Mittel, nur Instrumente Gottes, so sind sie es, sie mögen Gutes oder Böses tun. Leugnet ihr, dass der Mensch aus eigener Kraft, aus eigenem Herzen Gutes tut, so leugnet auch, dass er aus eigenem Herzen Uebles, Böses tut; sprecht ihr dem Menschen die Ehre eines Wohltäters ab, so sprecht ihm auch die Schande eines Uebel- und Missetäters ab; denn um Böses zu tun, dazu gehört ebensoviel, ja oft noch mehr Kraft und Macht, als Gutes zu tun; aber alle Kraft, alle Macht ist ja nach euch Gottes Kraft und Macht. Wie lächerlich und zugleich wie boshaft ist es, dem Menschen einerseits die Ursächlichkeit ab-, andrerseits wieder zuzusprechen! Aber das ist das Wesen der Theologie, personifiziert des Theologen, dass er ein Engel gegen Gott, aber ein Teufel gegen den Menschen ist; dass er das Gute Gott, aber das Böse dem Menschen, der Kreatur, der Natur zuschreibt. Allerdings kommt das Gute, was ein Mensch tut, nicht bloss auf seine eigene Rechnung, ist nicht bloss das Werk seines eigenen Willens, sondern auch das Resultat der natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen, Verhältnisse und Umstände, unter denen ein Mensch gezeugt und empfangen, erzogen und gebildet wurde. Aber es ist der rohste, tiefste und abergläubischste Egoismus, zu glauben, dass diese Bedingungen, Verhältnisse und Umstände und die unter ihrem Einfluss in mir erzeugten Neigungen und Gesinnungen in den Absichten und Ratschlüssen eines Gottes ihren Grund haben.« Vorlesungen über das Wesen der Religion, S. 208 f.

»Wodurch sich überhaupt die Religion in Widerspruch mit der Vernunft setzt, dadurch setzt sie sich auch immer in Widerspruch mit dem sittlichen Sinne. Nur mit dem Wahrheitssinn ist auch der Sinn für das Gute gegeben. Verstandesschlechtigkeit ist immer auch Herzensschlechtigkeit. Wer seinen Verstand belügt und betrügt, der hat auch kein wahrhaftiges, kein ehrliches Herz.« Ebenda, S. 339. – Vergl. auch die Charakterisierung der Theologie bei Holbach: Le Bon-Sens § 2.

Ein Bollwerk gegen den »Rausch der Gedanken« ist für die Kirche das »lichtscheue Prädikat der Heiligkeit«, wie Feuerbach sich ausdrückt, die Heilig-, die Unantastbar-Erklärung. Durch sie will sie ihre Glaubenssätze und Glaubensvorstellungen, ja auch Personen, die für sie hervorragende Bedeutung haben oder durch die Heiligerklärung erlangen können, gleichgültig, ob sie existiert haben oder nicht, gesunden oder gestörten Geistes, lauter oder moralisch defekt gewesen sind, dem kritischen Denken und Forschen entziehen: Hier darfst du nicht fragen, diesen Schleier darfst du nicht lüften, ruft sie damit dem leider so neugierigen und skeptischen Verstande zu, weiss sie doch nur zu gut, dass sie keinen gefährlicheren Feind hat als ihn und hat sie doch so viel zu verbergen!

Auch die Unfehlbarkeitserklärung des Papstes ist eine solche Heiligerklärung: wenn er ex cathedra spricht, sind seine Aeusserungen heilig und bindend wie die Aeusserungen Gottes selbst, Ein typisches Beispiel römisch-priesterlichen Grössenwahns teilt Wahrmund (»Katholische Weltanschauung und freie Wissenschaft«, München 1908) in einem Auszuge aus dem Hirtenbrief des Kardinals und Fürsterzbischofs von Salzburg vom 2. Febr. 1905 mit. (S. 12 f.) Gott erscheint in diesem ultramontanen Geistesprodukt als ein gehorsames Vollzugsorgan des römischen Priesters, er tut, was er soll. Würde die Kirche den Satz anerkennen, dass Gott das sich gegenständliche Wesen der Menschen ist, so liesse sich gegen dergleichen Stilübungen nicht viel einwenden, so aber sind sie nur widerwärtig. – Vergl. auch den wahrhaft skandalösen mit bischöflicher Approbation versehenen Schutzengelbrief, aus dem einige Sätze (die würdig zu charakterisieren mir kein hinreichend kräftiges Wort zu Gebote steht) in »Das Freie Wort« VIII. Jahrg. Heft 16, S. 640 abgedruckt sind. Ich kann es mir nicht versagen, sie im Anhang wiederzugeben. ein bequemes Mittel, auch die unwiderleglichsten Ergebnisse des kritischen Denkens, sowie sie ihre Wirkung auszuüben beginnen, unschädlich zu machen, aber auch ein letztes verzweifeltes Mittel. Ist es nicht ein tragikomischer Anblick: Gott, der sich in seiner Verwirrung über die Kühnheit des menschlichen Denkens nicht anders zu retten weiss, als dass er durch den Mund des römischen Papstes ( risum teneatis amici!) ein »Nein!« und ein » anathema sit!« nach dem andern hervorstösst?

In dem ingrimmigen Ankämpfen der positiven Religionen gegen jede freie geistige Entwicklung liegt ihre grösste Gefahr, und ihr gegenüber fällt das Gute, das sie stiften, gar nicht ins Gewicht, um so weniger als es nicht ein Ausfluss ihres inneren Wesens, sondern die Betätigung einer allgemein menschlichen natürlichen, auch im Verworfensten noch wirksamen Anlage, durch einzelne ihr zugehörende Individuen, oder von Nützlichkeitsgründen diktiert ist.

Wenn es eine Aufgabe gibt, des Schweisses der Edeln wert, so ist es die, aufopfernden Widerstand zu leisten dem Ceterum censeo, rationem esse maculandam der Kirche, der Diskreditierung der Vernunft, des gesunden Menschenverstandes, durch unermüdliche Aufklärung des irregeleiteten betrogenen Volkes. Diese Aufgabe schliesst alle andern ein.


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