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3. Die wahre Beschaffenheit der Grundlagen der christlichen Kirchen, insbesondere der Papst-Kirche.

 

La religion de Rome considère toutes les nations comme de grands troupeaux, faits pour être tondus et consommés selon le bon plaisir des bergers.

Le comte de Santo Domingo.

 

Die Ergebnisse des ersten Kapitels berechtigen uns zu der Behauptung, dass das Christentum keinen göttlichen Stifter gehabt haben kann, so wenig wie irgend eine andere Religionsform.

Mit dieser, wenn auch gut fundierten Behauptung können wir uns jedoch nicht begnügen. Da wir die Haltlosigkeit der Ansprüche namentlich der Papstkirche nachweisen und dazu beitragen wollen, dass sie in ihre Schranken zurückverwiesen werde, müssen wir uns nach weniger allgemeinen Argumenten gegen diese Institution umsehen.

Die Papstkirche »in ihrer gegenwärtigen Gestalt steht und fällt ... mit dem Glauben an die Geschichtlichkeit des Gotterlösers, weil alle hierarchischen Ansprüche und Machtbefugnisse der Kirche sich darauf gründen, dass ein historischer Jesus ihr durch die Vermittlung der Apostel diese Machtbefugnisse übertragen habe,« sagt Arthur Drews. Die Christusmythe, Jena, Diederichs, 1909, S. 187; 2 Mk., ein auch buchtechnisch mustergültiges Werk, das alle Ergebnisse der Forschung zusammenfasst und neue Gesichtspunkte in grosser Zahl beibringt. Es kann nicht genug empfohlen werden. Zur Bestätigung dieses Satzes diene folgender Passus in dem gemeinsamen Hirtenschreiben der bayerischen Bischöfe vom April 1908:

»Für die Erkenntnis der höheren Wahrheit, zumal der offenbarten, hat der Sohn Gottes in seiner Kirche ein oberstes Lehramt bestellt, das mit untrüglichem Munde die wahre und unverfälschte Lehre Christi verkündet und neu aufgetauchte Irrlehren und falsche Meinungen als solche kennzeichnet und verurteilt.«

Wie steht es aber mit diesem historischen Jesus?

Die Ergebnisse – namentlich die jüngsten – der geschichtlichen und philosophischen Forschung und Kritik der letzten zehn Jahre haben bei allen nicht theologisch verderbten und mit der Materie einigermassen vertrauten Geistern den letzten Zweifel an der Tatsache beseitigt, dass Jesus eine Gestalt des Mythus ist und von seiner historischen Existenz nicht die Rede sein kann. Was vordem (und schon in sehr früher Zeit wurde die historische Existenz Jesu in Zweifel gezogen Es sei nur auf das berühmte Wort Papst Leos X. gegenüber dem Kardinal Bembo hingewiesen: »Wieviel Uns und den Unsrigen die Fabel von Christo eingebracht hat, ist aller Welt bekannt.« (Corvin, Pfaffenspiegel, 2. Aufl. [1869], S. 216.)) nur eine nicht oder doch nicht genügend bewiesene Hypothese war, ist durch die Forschungsergebnisse der John M. Robertson, Emile Burneuf, Hochart, Kalthoff, William Benjamin Smith, P. Jensen, Lietzmann, Arthur Drews, Steudel, Brückner, Niemojewski zur Gewissheit geworden.

Eine Position der Theologie nach der andern wurde unhaltbar, eine Stelle der Evangelien nach der andern erwies sich als nicht ursprünglich, als Lehngut, als Nachklang alter Mythen, ja, es stellte sich heraus, dass »Christentum« und Jesuskultus älter sind als der Christus der Evangelien, dass sie nur eine Variante alter orientalischer Kulte und Religionen darstellen.

Es ist nicht zuviel behauptet, wenn man sagt, dass die Evangelien so gut wie nichts enthalten, was nicht schon gegeben gewesen, was ursprünglich wäre, kaum ein neuer Gedanke findet sich in ihnen.

Gegeben war: die Jungfrau Mutter; die wunderbare Geburt des göttlichen Kindes (40 f. u.46); Die eingeklammerten Ziffern bezeichnen die Seiten bei Drews, Christusmythe. die Flucht nach Aegypten (40); der 25. Dezember als Geburtstag (43); die Anbetung der Hirten und Könige (47); die Geburt im Stalle; die Kuh in diesem Stalle (48); der bethlehemitische Kindermord (40); der Sohn des Zimmermanns (54); die Taufe (58); die Beschämung der Schriftgelehrten im Tempel durch den Knaben (49); die Zwölfzahl der Apostel, der Lieblingsjünger und der Jüngerverräter, die Versuchungsgeschichte (140); das Lehren durch Gleichnisse (140); die Bergpredigt, das Gleichnis vom verlorenen Sohn, vom Säemann (149); die Verklärung Jesu auf dem Berge (59); der Einzug in Jerusalem; die Tempelreinigung; die Wundertätigkeit des Gottmenschen (139); das Abendmahl (61, 98, 139); der Name »Jesus« und seine Bezeichnung als »Messias-Christus« (96); der leidende, sterbende und wiederauferstehende Gott (das Selbstopfer des Messias (61 f.)); der Gott am Marterholz (45); der Schächer Barrabas (35); das Lamm, das der Welt Sünde trägt (28 f.); der »Menschensohn« (53); die Idee des Mittlers und des Heilands (56); die Dreieinigkeit (54); das Gebot der Ausübung der Missionstätigkeit (51); das »Felsengrab« des Heilands (139); die Klage der Frauen am Grabe (41, 139); die Siegesfahne (55); das Kreuz als Symbol der Auferstehung und des Lebens (96); die Redewendungen und Bilder: das »Wasser« oder »Brot der Lebens«, der »zweite Tod«, das »Licht des Lebens«, der »Weinstock«, der »gute Hirte« usw. (67); das Lamm (69); der Nimbus (72) usw. usw., nicht zu vergessen auch: Teufel, Hölle und Dämonenglaube.

»Da ihre wesentlichsten Momente teils im derzeitigen jüdischen Glauben selbst, teils in demjenigen der Nachbarvölker und der alttestamentlichen Ueberlieferung nachweisbar sind, so kann das Zustandekommen der Lebensgeschichte Jesu in den Evangelien ohne historischen Jesus auch nicht als ein unlösbares Rätsel angesehen werden.« Drews, Christusmythe, S. 139.

Einer der hauptsächlichsten Einwände, auch von Laienseite, stützt sich auf die zahlreichen individuellen Züge, mit denen das Bild des Heilands ausgestattet ist und auf die Anschaulichkeit der Darstellung in den Evangelien. Die ausführliche Widerlegung dieses die menschliche Phantasie und die schriftstellerische Geschicklichkeit der betreffenden Autoren unterschätzenden Einwandes möge man bei Drews nachlesen. S. 142 f.

Ebensowenig stichhaltig ist der Hinweis der Theologen auf die »Einzigartigkeit« der Lehre Jesu. »Es hat sich nichts von allem zu diesem Zwecke Angeführten halten lassen. Weder hat der Jesus der Synoptiker eine neue höhere Sittlichkeit, noch ein vertieftes Gottesbewusstsein, weder die »unersetzliche Bedeutung der einzelnen Menschenseele« im heutigen individualistischen Sinne des Wortes, noch auch nur die Freiheit gegenüber dem jüdischen Gesetz, weder die Immanenz des Gottesreiches, noch irgend etwas sonst gelehrt, was über die Fähigkeiten eines andern geistig hervorragenden Menschen seiner Zeit hinausging. Selbst die Liebe, die allgemeine Nächstenliebe, deren Predigt bei der grossen Masse der Laien als der grösste Ruhmestitel des historischen Jesus gilt, spielt bei den Synoptikern in Jesu sittlicher Lebensauffassung keineswegs eine so zentrale Rolle, sondern erhebt sich bei ihnen nicht über dasjenige Niveau, das ihr auch schon im Alten Testamente zugestanden wurde.« Drews, Christusmythe 150 f. – Vergl. hierzu auch W. Soltau: »Humanität und Christentum in ihren Beziehungen zur Sklaverei«. (Neue Jahrbücher f. d. klass. Altertum, Geschichte etc. XI. Jahrgang (1908), 1. Abtlg. 5. Heft, S. 336-50.)

»Und so sehen wir denn auch tatsächlich die vor kurzem (bei den liberalen protestantischen Theologen) so üppig blühende Verherrlichung der Lehre Jesu neuerdings in immer bescheidenerem Masse auftreten, wie denn z. B. Wrede in bezug auf einen der Hauptpunkte der liberalen Jesusverehrung, nämlich die »Gotteskindschaft« offen eingesteht, dass diese Auffassung schon längst vor Jesus im Judentum bestanden, auch nicht erst Jesus Gott als den liebenden »Vater« jedes einzelnen gelehrt, ja, den Vaternamen Gottes nicht einmal in den Vordergrund gestellt habe. Wrede, Paulus, 91. Aber dafür beruft man sich nun um so entschiedener auf die »ungeheuren Wirkungen«, die das Auftreten Jesu im Gefolge gehabt habe, und sucht aus ihnen dessen überragende Grösse und »Einzigartigkeit« zu erweisen, als ob die Wirkungen, die von einer Persönlichkeit ausgehen, in genauem Verhältnis zu ihrer menschlichen Bedeutung stehen müssten, und als ob jene Wirkungen dem »historischen« und nicht vielmehr dem mythischen Jesus, d. h. der Idee des sich selbst für die Menschheit opfernden Gottes, zuzuschreiben wären! So haben wir denn in den Evangelien in der Tat nichts anderes als den Ausdruck des Gemeindebewusstseins vor uns. In dieser Hinsicht besteht die von Kalthoff vertretene Auffassung durchaus zu Recht und ist auch durch die Einwände seiner Gegner in keiner Weise erschüttert worden. Das Leben Jesu, wie die Synoptiker es schildern, bringt nur in historischem Gewande die metaphysischen Vorstellungen, religiösen Hoffnungen und äusseren wie innneren Erlebnisse der auf Jesus als Kultgott gegründeten Gemeinde zum Ausdruck. Seine Aussprüche, Reden und Gleichnisse spiegeln nur die religiös-sittlichen Grundanschauungen, die jeweiligen Stimmungen, die Niedergeschlagenheit und die Siegesfreudigkeit, den Hass und die Liebe der Gemeindemitglieder wieder, und die Verschiedenheiten und Widersprüche der Evangelien erklären sich als Entwicklungsstufen des Messiasgedankens in verschiedenen Gemeinden und zu verschiedenen Zeiten. Christus nimmt folglich in den religiössozialen Genossenschaften, die sich nach ihm benennen, genau dieselbe Stellung ein, wie Attis in den phrygischen, Adonis in den syrischen, Osiris in den ägyptischen Kultgenossenschaften: er ist nur eine andere Form dieser vorderasiatischen Vereinsgötter oder Gemeindepatrone selbst, und der ihm gewidmete Kultus zeigt im wesentlichen die gleichen Formen, wie derjenige der genannten Götter. Die Stätte der blutigen Sühnopfer der Attisgläubigen, wo diese bei der jährlichen Märzfeier die »Bluttaufe« empfingen, die Vergebung ihrer Sünden erhielten und zu einem neuen Leben »wiedergeboren« wurden, war in Rom der vatikanische Hügel, und zwar genau die Stelle, wo sich mit dem Christentum die Peterskirche über dem sogenannten Grabe des Apostels erhob. Es war im Grunde nur eine Veränderung des Namens, nicht der Sache, wenn der Oberpriester des Attis seine Rolle mit derjenigen des Christus vertauschte und der Christuskultus sich von diesem neuen Mittelpunkte aus über die andern Teile des römischen Imperiums verbreitete.« Drews, Christusmythe, 151ff.

Der Jesus Christus, von dem uns die Evangelien erzählen, hat also nie auf Erden gewandelt, – eine vorchristliche Kultgottheit oder Gottesform Jesus aber gehört für uns, die wir nicht die Augen vor den Tatsachen verschliessen, in eine Reihe mit den babylonischen, vorderasiatischen, persischen, indischen, griechischen, mexikanischen usw. Gottheiten, d. h. sie hat nur ein religionswissenschaftliches Interesse. Über Jesus als vorchristlichen jüdischen Kultgott vergl. W. B. Smith: »Der vorchristliche Jesus«, Giessen 1906, Kap. I, wo er mit grossem Scharfsinn und mustergültiger Sorgfalt den Nachweis führt, dass Jesus eine vorchristliche Gottheit gewesen sei, – und zwar der jüdische Gott unter einem bestimmten Gesichtspunkte, nämlich als der Erretter, der Hüter oder Heiland, was schon in dem Namen Jesus liegt. (»Damit steht der Ausdruck ganz und gar mit Kompositionen wie Zeus Xenios, Hermes Psychopompos, Yahveh S'b'aôth und unzähligen anderen sowohl in den klassischen, als auch in den semitischen Sprachen in Parallele«. »Auch Christus bedeutete die gleiche Gottheit unter einem ein wenig anderen Gesichtspunkt, nämlich als den Messias, König, Richter«. S. 40.)

Der › historische‹ Jesus ist nicht früher, sondern später als Paulus und hat als solcher stets nur als Idee, als fromme Dichtung in den Köpfen der Gemeindemitglieder gelebt, und nicht das Neue Testament mit seinen vier Evangelien ist der Kirche gegenüber das Frühere, sondern die Kirche ist das Ursprüngliche, die Evangelien hingegen sind das Abgeleitete, stehen daher auch in allen ihren Teilen im Dienste der kirchlichen Propaganda »Das Neue Testament ist ein Werk der katholischen Kirche, und die Berufung auf neutestamentliche Schriften als an sich glaubensverbindlich ist ein Dogma der katholischen Kirche. Daraus mag sich jeder den Schluss ziehen, den er für gut und richtig hält«. (Gust. Krüger, Die Entstehung des Neuen Testaments, 1896, S. 26.) und können in keinem Sinne auf historische Bedeutung Anspruch machen.« Drews, S. 179.

Nachdem wir nun über den Heros der Evangelien Klarheit gewonnen haben, ist es von besonderem Reiz, den oben zitierten Satz aus dem Hirtenbrief der bayerischen Bischöfe noch einmal durchzulesen: »Für die Erkenntnis der höheren Wahrheit, zumal der offenbarten, hat der Sohn Gottes in seiner Kirche ein oberstes Lehramt bestellt, das mit untrüglichem Munde die wahre und unverfälschte Lehre Christi verkündet und neu aufgetauchte Irrlehren und falsche Meinungen als solche kennzeichnet und verurteilt.«

Der Sohn Gottes ist ein Phantasieprodukt und kann als solches keine Kirche gegründet haben, man könnte also schon von vornherein sagen, der Fels, auf den er sie gegründet haben soll, der evangelische Petrus, sei ebenso legendär wie sein Meister. Zu allem Ueberfluss lässt sich seine Legendenhaftigkeit aber schlagend beweisen. Man lese die eindringenden Untersuchungen, die Arthur Drews in seiner »Christusmythe« S. 168 ff. (Die Petruslegende). und im Freien Wort 9. Jahrg., S. 171 ff. und 220 ff. (Die Petruslegende); S. 348 ff. (Der paulinische und der evangelische Petrus). niedergelegt hat.

Die »offenbarte Wahrheit« ist ebenso gut fundiert, wie die Gottessohnschaft und historische Existenz Christi, wir brauchen uns daher auch nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, was wohl mit der » Erkenntnis zumal der geoffenbarten Wahrheit« gemeint sei. Die »höhere Wahrheit« aber zu erkennen ist dank der bei ihnen durch intensive Suggestion hervorgerufenen Geistesverderbnis niemand unfähiger als die Repräsentanten des wie die ganze Papstkirche auf das Gegenteil gegründeten Schiller über Papst Hadrian VI. (der ein Germane war!): »... er vergass, dass das künstlichste aller Gebäude nur durch eine fortgesetzte Verleugnung der Wahrheit erhalten werden konnte ...« (in: Über naive und sentimentalische Dichtung). obersten Lehramtes der Kirche, überhaupt die orthodoxen Priester. »Die Geschichte der Entwickelung der Kirche in den ersten Jahrhunderten ist eine Geschichte der unverschämtesten literarischen Fälschungen, roher Gewalttätigkeit und plumper Spekulation auf die Leichtgläubigkeit der grossen Masse. Das Pochen auf die »Glaubwürdigkeit« der christlichen Schriftsteller jener Zeit kann daher bei den Kundigen höchstens nur ein ironisches Lächeln hervorrufen. Hier ist schlechtdings nichts von einem »geheimnisvollen Walten Gottes«, von »wunderbarem Ursprung«, von einer »göttlichen Offenbarung und Leitung der Vorsehung« zu verspüren,« S. 133, Anm. 2. sagt Arthur Drews. So war es damals, – und heute?? Seiner ganzen Erziehung und Vorbildung nach kann der orthodoxe Priester überhaupt keinen Begriff von Wahrheit haben. Ich kann es mir nicht versagen, hier einige wuchtige Sätze Nietzsches anzufügen, die das Verhältnis grell beleuchten: »Solange der Priester noch als eine höhere Art Mensch gilt, dieser Verneiner, Verleumder, Vergifter des Lebens von Beruf, gibt es keine Antwort auf die Frage: was ist Wahrheit? Man hat bereits die Wahrheit auf den Kopf gestellt, wenn der bewusste Advokat des Nichts und der Verneinung als Vertreter der »Wahrheit« gilt ...« Werke, I. Abtlg. Band VIII. S. 224 (»Der Antichrist«, Abschnitt 8) Leipzig, Naumann, 1899.

»Was ein Theologe als wahr empfindet, das muss falsch sein: man hat daran beinahe ein Kriterium der Wahrheit.« Ebenda, Abschnitt 9.

»Unsere Zeit ist wissend ... Was ehemals bloss krank war, heute ward es unanständig, – es ist unanständig, heute Christ zu sein ... Ich sehe mich um: es ist kein Wort von dem mehr übriggeblieben, was ehemals »Wahrheit« hiess, wir halten es nicht mehr aus, wenn ein Priester das Wort »Wahrheit« auch nur in den Mund nimmt. Selbst bei dem bescheidensten Anspruch auf Rechtschaffenheit muss man heute wissen, dass ein Theologe, ein Priester, ein Papst mit jedem Satz, den er spricht, nicht nur irrt, sondern lügt, – dass es ihm nicht mehr frei steht, aus »Unschuld«, aus »Unwissenheit« zu lügen. Ein Beweis für die Richtigkeit der Behauptung Nietzsches ist u. a. der Syllabus des neunten und die Ergänzung dazu des zehnten Pius. – Siehe den bibliograph. Anhang. Auch der Priester weiss, so gut es jedermann weiss, dass es keinen »Gott« mehr gibt, keinen »Sünder«, keinen »Erlöser«, – dass »freier Wille«, »sittliche Weltordnung« Lügen sind: der Ernst, die tiefe Selbstüberwindung des Geistes erlaubt niemandem mehr, hierüber nicht zu wissen ... Alle Begriffe der Kirche sind erkannt als das, was sie sind, als die bösartigste Falschmünzerei, die es gibt, zum Zweck, die Natur, die Natur-Werte zu entwerten; der Priester selbst ist erkannt als das, was er ist, als die gefährlichste Art Parasit, als die eigentliche Giftspinne des Lebens ... Wir wissen, unser Gewissen weiss heute – was überhaupt jene unheimlichen Erfindungen der Priester und der Kirche wert sind, wozu sie dienten, mit denen jener Zustand von Selbstschändung der Menschheit erreicht worden ist, der Ekel vor ihrem Anblick machen kann – die Begriffe »Jenseits«, »jüngstes Gericht«, »Unsterblichkeit der Seele«, die »Seele« selbst; es sind Folter-Instrumente, es sind Systeme von Grausamkeiten, vermöge deren der Priester Herr wurde, Herr blieb ... Jedermann weiss das: und trotzdem bleibt Alles beim Alten. Wohin kam das letzte Gefühl von Anstand, von Achtung vor sich selbst, wenn unsere Staatsmänner sogar, eine sonst sehr unbefangene Art Mensch und Antichristen der Tat durch und durch, sich heute noch Christen nennen und zum Abendmahl gehn? ... Ein Fürst an der Spitze seiner Regimenter, prachtvoll als Ausdruck der Selbstsucht und Selbstüberhebung seines Volks, – aber, ohne jede Scham, sich als Christen bekennend! ... Wen verneint denn das Christentum? Was heisst es »Welt«? Dass man Soldat, dass man Richter, dass man Patriot ist, dass man sich wehrt; dass man auf seine Ehre hält; dass man seinen Vorteil will; dass man stolz ist ... Jede Praktik jedes Augenblicks, jeder Instinkt, jede zur Tat werdende Wertschätzung ist heute antichristlich: was für eine Missgeburt von Falschheit muss der moderne Mensch sein, dass er sich trotzdem nicht schämt, Christ noch zu heissen!« Ebenda, Abschnitt 38.

Die wahre Tendenz des oben zitierten und in seinen Einzelheiten beleuchteten Hirtenschreibens, das uns mit aller wünschbaren Deutlichkeit die Ansprüche der Papstkirche erkennen lässt, ist die Unterdrückung der Lehr- und Forschungs- ja der Denkfreiheit. Von dieser Tendenz der Kirche soll im folgenden Kapitel eingehender die Rede sein.

 

Keine Religion fliesst aus einer einzigen Quelle und keine erhält sich unverändert: das Volkstum, aus dem sie erwuchs, wandelt sich, und der Geist verschiedener Zeiten ist ein verschiedener. Wird sie einem fremden Volkstum aufokuliert, oder von einem solchen freiwillig übernommen, so nimmt sie Züge von dessen Charakter auf und verliert von den eigenen. Die spätere Entwicklung einer Religion ist ihren Anfängen oft diametral entgegengesetzt, (was ihrer Heilighaltung aber keinen Abbruch zu tun pflegt,) und ihre Grundideen pflegen in dem Masse verleugnet zu werden, wie ihr Priestertum erstarkt, auch infolge Ueberwucherung durch eine Fülle von Nebensächlichkeiten, die dann gerne als das Wesen der Sache angesehen und gepflegt werden, in Vergessenheit zu geraten. So erstickte der in dem oben festgestellten wahren Sinne des Wortes religiöse Kern der in ihren wesentlichen Gedanken wer weiss wie alten Christusreligion, ihr fruchtbarer lebendiger Grundgedanke – der sich in den Worten ausspricht: »Das Reich Gottes ist inwendig in Euch« und »Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm«, oder, was dasselbe ist: Die Liebe ist der Gott der Menschen – im römischen »Christentum«, in dem hoffnungslosen Wust horribler Nebensächlichkeiten und Missverständnisse eines statutarischen Kirchenglaubens, ward seine warme Menschennähe im Herrschaftsbereich der Nachfolger der Oberpriester des Attis und des Mithra, die sich als Statthalter Christi auf Erden etikettierten, zu einer Religion der Eifersucht, des Hasses und der Verfolgung, zu einem politischen Machtmittel unedelster Art.

Wollten wir an eine übernatürliche Herkunft und ununterbrochen andauernde Göttlichkeit des Christentums glauben, wie die Kirche es verlangt, so müssten wir uns Gott als Eklektiker, als gelehrigen Schüler von Mysten und Philosophen, von Priestern, Päpsten und Konzilien, als ein ausserordentlich anpassungsfähiges Wesen vorstellen.

Das Christentum ist ein Religionsgemisch. »Es gehört auch seinerseits jenen vielgestaltigen religiösen Bewegungen an, die um die Wende unserer Zeitrechnung miteinander um die Vorherrschaft rangen. Aus der apokalyptischen Stimmung und der Messiashoffnung der jüdischen Sekten hervorgegangen, hat es nichtsdestoweniger den Kern seiner Lehre, sein spezifisch Eigentümliches, wodurch es sich vom gewöhnlichen Judentum unterscheidet, die Zentralidee des sich selbst für die Menschheit opfernden Gottes, der Naturmystik der umwohnenden Völkerschaften entlehnt, die diesen Glauben im Zusammenhange mit dem Feuerkultus aus einer früheren nördlichen Heimat nach Asien übertragen haben.« Drews, Christusmythe, 119 f.

Aus einer nördlichen – nordeuropäischen – Heimat! Vergl. die Ausführungen von Drews auf S. 44 f. Und später nährte sich der Norden von der orientalisierten Form seiner eigenen uralten religiösen Vorstellungen, nachdem er sie fast bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, in Demut aus sechster Hand zurückempfangen hatte. Als er dann endlich in der Reformationszeit das Orientalische samt dem Priesterjoch abschüttelte, gelang ihm, da er sich über den wahren Charakter der Bibel nicht im Klaren war, die Befreiung doch nicht so vollständig, dass nicht noch eine grosse Aufgabe für die Zukunft übriggeblieben wäre. Einmal, in Völkerkindheitszeiten, hat er zu einer ungeheueren folgenschweren Bewegung den Anstoss gegeben, – jetzt nach Jahrtausenden, da aus der einst reinen Quelle ein ungeheurer trüber Sumpf geworden ist, ist es an der Zeit, dass er aus dem reifen Geist des Mannesalters seiner Völker der Welt ein neues, ein befreiendes Geschenk macht.

 

Da also an der natürlichen Herkunft des Christentums kein Zweifel obwalten kann, liegt auch nicht der geringste Grund vor, die Glaubensinhalte der verschiedenen Richtungen, in die es zerfällt, nicht ebenso unter die Lupe zu nehmen (zumal wenn es im Interesse der Befreiung des Reiches und seiner Völker vom Joch der Papstkirche geschieht), wie die irgendwelcher andern Religionen, den Rosenkranz mit mehr Respekt zu behandeln als die Gebetmühle, den Papst als Kirchenhaupt mit andern Augen zu betrachten als den Dalai-Lama oder einen mongolischen Ober-Schamanen. Kein Gebiet des Menschlichen darf der Kritik, ohne die es keine Erkenntnis, keine Wahrheit gibt, verschlossen sein und gelte es für noch so heilig. Eine absolute Heiligkeit gibt es nicht. Was dem Primitiven heilig ist, ist es dem Fortgeschrittenen nicht, was dem Mohammedaner, ist es dem Christen nicht. Aller Fortschritt bedeutet im Grunde eine Missachtung des Heiligen; denn er bricht mit etwas Altem, durch das Alter und, was eng damit zusammenhängt, durch den Aberglauben Geheiligtem. Daher die Ergebnisse des Fortschrittes denn oft den Zurückgebliebenen als Teufelswerk gegolten haben.

»Was gestern noch Religion war,« sagt Feuerbach, Wesen des Christentums, S. 74. »ist es heute nicht mehr, und was heute für Atheismus, gilt morgen für Religion.« Vergl. Harnacks Vortrag über den Atheismus, der den höchsten Zorn des orthodoxen »Reichsboten« erregt hat. Bericht darüber im Berliner Tageblatt vom 9. 1. 1908.

Und wie auf der einen Seite der Fortschritt der Heiligkeit eine Grenze zieht, tun es auf der andern die ethnographischen Unterschiede. Beweis: das trotz aller Schönfärberei immer wieder zutage tretende Fiasko der Missionen.


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