Egid Filek
Vom Glück der armen Teufel
Egid Filek

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Mein Pfarrhof.

Soll ich dich auch einmal hervorholen aus der Rumpelkammer der Erinnerung, du alter Pfarrhof? Soll ich das Stückchen meiner goldenen Jugend beschwören, das deine gewaltigen Mauern umschließen, heute, gerade heute, wo mir der Spiegel zum ersten Male verdächtige Zeichen des nahenden Alters gezeigt hat?

Mein Pfarrhof! . . . In weltvergessener Gegend, wohin die Eisenbahn noch nicht vorgedrungen ist, wo flache Hügel goldenes, wogendes Korn tragen und in der Ferne die dunklen Wellen des Böhmerwaldes aufsteigen, dort liegt er, einer Burg vergleichbar, auf einer kleinen Anhöhe, die steil zum Waldbach abfällt. Man kann das Tosen des braunen Gewässers, das wild und zornig zwischen ungeheuren Felsenblöcken dahinschießt, noch in dem großen Garten hören, der sich, von dicken Mauern umschlossen, hinter dem Hauptgebäude hinzieht. An den Ecken ragen kleine Türmchen mit Schießscharten empor, als lohne es sich wirklich, die Birn- und Pflaumenbäume zu verteidigen oder die Blumenbeete mit den Astern, Georginen, Reseden und Rosenbüschen, zwischen denen bunte Glaskugeln im Sonnenlicht glitzern. Und durch ein großes Tor mit kreischenden verrosteten Angeln, das donnernd hinter dir zufällt, trittst du in den Hof. Zur Rechten sind Scheunen und Ställe, links aber hebt sich das Herrschaftsgebäude wie ein Schloß, mit kleinen vergitterten Fenstern und meterdicken Wänden. Ein alter Herrensitz aus dem achtzehnten Jahrhundert ist's, den das Stift später gekauft und zum Pfarrhof eingerichtet hat. Und so ist alles hier 45 herrschaftlich, vornehm, gediegen; alles wird aus dem Vollen genommen, niemand zetert über Verschwendung, wenn die glatten, schönen Pferde, deren Haut wie reife Roßkastanien glänzt, einmal von den Knechten einen Eimer Hafer zu viel bekommen oder die hübsche Jungmagd im Kuhstall einen Topf Milch umwirft. Und alles läßt sich Zeit zur Arbeit. Das unanständige Hasten, das Knickern mit Viertelstunden und Minuten ist dem Pfarrherrn verhaßt.

Der Pfarrherr! . . . Dort schreitet er über den Hof, langsam, bedächtig, einen Schritt in der Sekunde, und saugt an dem Weichselrohr seiner langen Pfeife. Seine Gestalt ist mittelgroß, aufrecht; das Hauskäppel aus schwarzem Samt hat er schief gegen das linke Ohr verschoben. Er blickt an der Wand des Herrenhauses hinauf, wo die Sonnenuhr angebracht ist. Eine bunte Menge grell gemalter Engelsköpfe leuchtet an der Wand und die lateinische Inschrift, erst vorgestern aufgefrischt, mahnt in ernsten schwarzen Buchstaben: Me sol, vos umbra regit . . . mich beherrscht das Licht und euch das Dunkel. . . . Der Pfarrer nickt zufrieden und geht weiter. Das ist sein besonderer Stolz, diese Sonnenuhr. Jetzt wandert er an der Nordseite des Gebäudes hin. Zwischen ungeheuren Hausteinen, aus denen die Grundmauern aufgeführt sind, klaffen breite Spalten, dazwischen wuchert freches und lustiges Unkraut. Der Pfarrer bleibt stehen und nimmt die Pfeife aus dem Mund. Unglaublich, wie das Zeug da oben hat Wurzel fassen können. Überhaupt: die Wand sollte frisch angemörtelt und geweißt werden; das hat er schon vor vier Monaten gesagt. Aber es ist eben nicht dazu gekommen. Das Gesinde hat so viel andere Arbeit. Na, geht's heuer nicht, so geht's vielleicht nächstes Jahr. Die Sache hat schließlich Zeit. . . . Und das gutmütige, braune Greisengesicht sieht ebenso ehrwürdig und verwittert aus mit seinen Runzeln und Falten 46 und seinen weißen, ein wenig zu langen Haaren wie diese starre, gewaltige Mauer mit dem hängenden Unkraut. Er klinkt eine Tür auf und steigt ein paar Stufen hinab in den Obstgarten. Seine Bienen will er besuchen. Die haben ihre Stöcke unter einem riesigen, uralten Lindenbaum. Und das Aufrauschen der mächtigen Krone verschlingt das leise Geräusch, das die Tritte des Pfarrers auf dem Kies der Gartenwege machen. Jetzt verschwindet er im Bienenhaus.

Aber – wer interessiert sich für meinen guten, alten Pfarrer? Und für die Dinge und Menschen dieser verlorenen kleinen Welt?

Geduld. Vielleicht wächst zwischen den gewaltigen Steinen meines Pfarrhofs so etwas hervor wie eine Geschichte, so wie die Grasbüschel und Farnkräuter zwischen ihren Spalten hervorschießen und lustig im Winde auf- und niederschwanken, der sie streichelt und schaukelt wie ein geliebtes Kind.

Kinder des Windes sind sie, diese wilden Pflanzen, von den Menschen Unkraut gescholten, und der Wind hat sie lieb und sorgt für sie. Er hat die kleinen Samenkörner hergetragen und sorglich in die Ritzen gelegt, wo Erde und Feuchtigkeit vorhanden ist; er hat die Wolken verschoben, damit die Sonne seine wilden Kinder bescheine, hat die Regentropfen ihnen zugetrieben, daß sie wachsen und gedeihen und ihre Wurzeln in die engen Spalten treiben. So wachse auch du, meine wilde Geschichte, wenn die Menschen dich auch Unkraut nennen und du keinen Platz findest in ihren Ziergärtlein mit den artigen, wohlgezogenen Rabatten und zugestutzten Taxushecken und hohlen, bunten Kugeln von dünnem Glas. . . .

* * *

In seinem Arbeitszimmer steht der alte Pfarrer vor dem Fensterbrett und stopft sich die Pfeife. Der Tabak ist in einem 47 großen Topf aus Ton, der die Form eines Pudelkopfes hat. Und die Mischung, geheiligt durch fünfzigjährigen Gebrauch: ein Packel Knaster, zwei Packel Dreikönig, ein Packel Ordinären.

Die klare Septembersonne scheint durch die vergitterten Fenster und malt dicke, schwarze Kreuz- und Querstriche auf den weißgescheuerten Fußboden. Bis zu dem breiten, ganz aus der Form gegangenen Ledersofa zieht sich das schiefe Sonnenviereck. Dort sitzt ein Bub von vierzehn Jahren und liest. Aber seine Blicke tauchen oft über dem Rand des Buches auf und gehen zu einem kleinen Mädel von zwölf oder dreizehn. Das verschwindet beinahe zwischen den Armlehnen eines ungeheuern Großvaterstuhles, der mit verschossenem grünen Tuch bezogen ist. Eine Häkelarbeit zappelt zwischen ihren Fingern.

Der Pfarrer hat seine Pfeife gestopft und angezündet. Er wirft einen freundlichen Blick auf die zwei Kinder. Sie bringen Leben und Jugendfrische in das alte Haus. Darum dürfen sie in den Pfarrhof kommen, so oft sie wollen, dürfen Kirschen, Zwetschen, Stachelbeeren pflücken, soviel ihnen beliebt. Dann drückt er das schwarze Samtkappel mit den goldgestickten Blumen auf den weißen Kopf und geht zum Bergwirt hinüber.

Dort warten der Schullehrer und der Registrator schon ungeduldig zum Tapper auf ihn. Der Registrator ist sein alter Studienfreund und der Vater des kleinen Buben, der in der Sofaecke sitzt und nach dem kleinen Mädel mit der Häkelarbeit schaut statt in sein Buch mit den griechischen Vokabeln. Seit vielen Jahren bringt er in St. Jakob seinen Sommerurlaub zu. Der ist morgen zu Ende, darum ist die Sehnsucht nach dem Abschiedstapper mit Pfarrer und Schulmeister groß. 48 Der Pfarrer mischt, teilt aus und sagt Pagat Ultimo an. Der Registrator gibt Kontra.

Im Extrazimmer sitzen die Weiber beisammen und tratschen. Im Herrgottswinkel, unter dem verstaubten Kruzifix mit den Palmzweigen und den Bildern von den armen im Fegefeuer brennenden Seelen hat die Nichte des alten Pfarrers Platz genommen, die zugleich seine Haushälterin ist. Sie führt das große Wort. Der Pfarrer hat wie alle Pfarrer eine unglaubliche Menge junger Nichten und nimmt sich eine nach der andern als Wirtschafterin ins Haus. Länger als zwei Jahre bleibt keine – dann heiraten sie, den Schullehrer oder den Kaufmannssohn oder einen Wirt aus der Umgebung – wer in den Pfarrhof zum Herrn Onkel kommt, ist versorgt. Dann rückt die nächstältere an – wie in einem gutgeleiteten Beamtenkörper.

Die Pfarrersköchin hat ausgeredet. Jetzt erwidert ihr mit gleicher Ausdauer die Kaufmannsfrau, die neben der Schullehrerin sitzt und einen Hemdbesatz häkelt. Der Hemdbesatz ist für die Tochter bestimmt, für das kleine Mädel drüben im Pfarrhof, das in dem riesigen Großvaterstuhl liegt und vor sich hinträumt statt zu arbeiten.

Im Zimmer des Pfarrers schlägt die Kuckucksuhr. »Dorl!« – »Maxi?« – »Laß doch die dumme Häklerei. Komm mit in unsere Burg oder in die Stachelbeeren!« – Sie wickelt gehorsam die Arbeit zusammen und steht auf. Jetzt sieht man, daß sie nur wenig kleiner ist als er. Mit einer schnellen Bewegung streicht sie die Haare aus der niedrigen Stirn. Sie gehen über den Hof, an der Sonnenuhr vorüber, die Ställe entlang und hinunter über die zehn Stufen in den Obstgarten.

Dort im Schatten der großen Linde, hinter dem Bienenhaus, geht's in eines der runden Türmchen mit den Schießscharten, die an den Ecken des Gartens liegen. Dieses 49 Türmchen, im Innern so groß wie ein mäßiges Zimmer, haben sich die zwei Kinder als ihre Burg eingerichtet. Nicht genau so, wie die Erzählungen aus dem Mittelalter »für die reifere Jugend« es vorschreiben, aber ähnlich. Die Dorl hat aus dem Kaufmannsladen roten Stoff mitgebracht und Vorhänge daraus gemacht, die vor die kahlen Schießscharten gehängt wurden; aus Balken und Brettern hat der Maxi mit ungeheurer Mühe eine Art Tisch gezimmert und in der Mitte aufgestellt, auch zwei Bänke mußten aus der Rumpelkammer des Pfarrhofs in die Burg hinüber wandern, zum großen Verdruß der Wirtschafterin; aber das Herrlichste waren doch die Waffen an den Wänden. Eine Armbrust mit Pfeilen, die sich der Maxi selbst geschnitzt hat, ein Bogen aus Haselnußholz, ein Blaserohr mit dreißig Bolzen, um aus den Scharten schießen zu können, wenn der Feind die Burg angreift. Zu ihrer Verteidigung soll auch der rostige Säbel dienen, ein Prachtstück aus dem bosnischen Feldzug, das die Dorl einmal im Bodenkram entdeckt und heimlich hierher geschleppt hat. Die Nordseite der Burg, wo das Eingangstor liegt, ist unangreifbar: dort sind die Bienenstöcke; an diesen vorbei wagt sich kein Feind. . . . Einen bösen Anachronismus bildet allerdings die Photographie, die dem Eingang gegenüber hängt, ein schlechtes Bild des Pfarrers aus jüngern Jahren. Aber es macht sich doch wunderschön in dem Waschgoldrahmen – so behauptet wenigstens die Dorl.

Die Kinder setzen sich schweigend in ihrer Burg an den Tisch und horchen auf das Summen der Bienen, die wie goldene Leuchtkugeln zwischen den Zweigen der Bäume umhertaumeln.

»Morgen muß ich fort,« sagte der Bub.

»Ich weiß,« seufzt das kleine Mädel. 50

»Vielleicht sehen wir uns gar nicht mehr. Der Vater will mich im Herbst nach Graz in die Kost geben und dann im nächsten Sommer in eine Ferienkolonie. Und später soll ich Technik studieren.«

Sie sieht ehrfurchtsvoll an ihm hinauf.

»Du mußt oft an mich denken. Dorl. Schau, ich hab' dir etwas zur Erinnerung mitgebracht.« Er wühlt mit der Hand in seiner Hosentasche. Zwischen Bindfaden, Angelhaken, Wachsstücken, Zündhölzern und Kerzenstümpfchen zieht er einen Messingring mit einem gefärbten Stückchen Glas heraus. »Der ist vom Kirchtag, vor acht Tagen – aus der großen Bude vor der Kirche, du weißt ja. Ich hab' mir keinen Lebzelt gekauft, sonst hätte das Geld nicht gereicht.«

Sie steckt den Ring an ihren dünnen Finger und betrachtet lange den grasgrünen Stein. »Aber ich kann dir nichts geben zum Andenken,« sagt sie traurig.

»Das macht nichts. Ich will auch so immer an dich denken – alle Abende vor dem Schlafengehen, wie es in den Geschichtenbüchern steht. Dorl, sag – sollen wir nicht zum Abschied noch einmal in die Stachelbeeren gehen? Der Herr Pfarrer hat's ja erlaubt.«

Sie schüttelt den Kopf. »Ich hab' keine Lust, Maxi. Mir steckt etwas im Hals, als ob ich weinen müßte.«

»Dann bleib ich auch da,« sagt er kurz entschlossen, obwohl er ihr damit eigentlich ein schweres Opfer bringt.

Und sie drücken sich leise aneinander und lassen die Geschichte der letzten Wochen an sich vorüberziehen, alle die kleinen, unbedeutenden Ereignisse, die sie näher und näher aneinandergeführt haben, ohne daß es ihnen selbst so recht zum Bewußtsein kam.

»Weißt du noch, wie ich dir damals beim Beerensuchen den Rock zerrissen hab? Und du warst so wütend auf mich. 51 Ins Gesicht wärest du mir beinah gesprungen. Und die Ohrfeige, die du mir gegeben hast – wärst du ein Bub, ich hätte dir damals alle Knochen zerschlagen – du!«

Trotz ihrer ernsten Stimmung lacht sie laut und herzlich auf. »Die war aber auch wirklich verdient, die Ohrfeige. Und ich begreif nicht, warum mir's später leid getan hat. Oft hab ich mitten in der Nacht weinen müssen, so leid hat's mir getan.«

»Und jetzt würdest du mich nimmer schlagen, wenn ich so etwas täte?«

»Ich weiß nicht, Maxi. Ich glaube, ich würde nur weinen.«

Mit weichen grauen Flügeln bedeckt die Dämmerung das Land. Längst sind die Bienen daheim; die Blumen des Gartens duften stärker, hoch in den Kronen der Linden rauscht der Abendwind. Und jetzt tönen die Glocken von der Kirche. Aveläuten. »Gegrüßt seist du, Maria, voll der Gnaden. . . .«

Und die zwei Kinder in dem dunkeln Raum falten die Hände und beten. Irgendein dumpfes Gefühl schlummert in ihnen, dem sie einen Weg ins Freie bahnen wollen, ohne zu wissen wie. Und so geben sie sich dem beruhigenden Zauber dieser alten Gebetsformeln hin, als fänden sie in ihren dunkeln, durch Jahrtausende herübergetragenen Worten, in den weichen Tönen der Kirchenglocken Ruhe – Befriedigung – Glück. –

Nun ist der letzte Ton verhallt. Und es ist still geworden zwischen den beiden. So still, daß jeder Atemzug wie ein Seufzer klingt.

»Ich bin müde,« haucht das Mädel. Und legt seinen Kopf an die Schulter des Freundes. So ruhig und selbstverständlich, wie es nur dieses glückliche Lebensalter kann. Und schließt die Augen und lächelt.

Und er legt seinen Arm um sie und blickt durch eine der 52 Schießscharten hinaus in den dunkeln Himmel, nach einem Stern, der heller und heller aufblitzt.

Ihm ist so namenlos wohl. Von der warmen. blühenden Last an seiner Brust strömt ein Gefühl von Glück und Ruhe in ihn ein. Er weiß es nicht, daß er dieses Kind lieb hat – so wunschlos, wie er später nie mehr lieben wird und kann. Er fühlt nur, daß er jetzt glücklich ist. Denn alles, alles an Freuden und Schmerzen, was ihm im spätern Leben von den Frauen kommen wird, ist hier im Keim vereinigt; in diesen braunen Augen, diesem schmalen, kleinen Gesicht, diesem schmächtigen, unentwickelten, magern Mädchenkörper.

Und halb im Schlummer strecken sich ihre Arme aus, legen sich um seinen Hals wie zwei dünne, kühle, biegsame Gerten.

Und es geschieht, was geschehen muß. Sie zieht seinen Kopf zu sich herunter und küßt ihn. Und er erwidert die Küsse; und seine Glieder werden schwer – so schwer. Und wie ein goldenes Netz legt es sich um seinen Kopf. Er kann nicht mehr denken. Er träumt – einen Traum der Zukunft. Vom Weibe.

Da hebt sie sich empor. »Komm, wir müssen nach Hause. Es ist finster.«

Hand in Hand schreiten sie die Stufen zum Herrenhaus hinauf. Die Tür zum Zimmer des Pfarrers ist angelehnt. Da sagt der Bub: »Dorl, sing mir das Lied – du weißt schon welches. Komm, du kannst es ja auswendig spielen. Das Klavier ist noch offen.«

Und sie setzt sich vor das alte Instrument und spielt, und die zitterigen, heisern Klänge ranken sich um ihr dünnes Kinderstimmchen:

»Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit,
Klingt ein Lied mir immerdar,
O wie liegt so weit, o wie liegt so weit,
Was mein einst war. . . .« 53

Es ist sein Lieblingslied. Der Inbegriff alles Schönen aus dem Reich der Töne. Die glanzvollste Opernaufführung könnte ihn nicht so entzücken wie diese schlichte Weise. Denn er weiß, daß sie für ihn singt.

Und ihre schmalen Finger ruhen noch auf den Tasten, die letzten Töne verzittern im Dunkel. Da steht sie auf, fährt sich mit der Hand über die Augen und geht hinaus, als schäme sie sich plötzlich vor dem kleinen Freund.

Die schwarzen Schatten der Gartenbäume wachsen ins Zimmer herein. Und der Bub stützt den Kopf in die Hand und starrt vor sich hin. Etwas Schweres, Trauriges ist in seiner Brust; ein Gefühl, süß und schmerzlich zugleich, wie er es noch nie empfunden hat. Etwas, das im Herzen liegt wie Blei und hinunterzieht – tief, tief, in einen Abgrund hinab. Und zum erstenmal in seinem Leben erfaßt er den Sinn dieses Liedes, ahnt er etwas von dem großen, großen Leid, das hinter den Weisen des Volkes träumt und sie so bang und schwer und einfältig macht.

Und jetzt legt er den Kopf auf den Arm und fängt an zu weinen. Es ist ja finster. Niemand weiß etwas von seinem Leid, niemand sieht seine Tränen.

Leise geht die Tür. Der Pfarrer tritt ein. Er tastet sich durch die dunkle Stube nach seinem Tabaktopf mit der Mischung: Ein Packel Knaster, zwei Packel Dreikönig, ein Packel Ordinären. Stopft und setzt ein Streichholz in Brand.

Da bemerkt er den Buben. Und das offene Klavier. Und er erinnert sich, wie die Dorl vorhin mit scheuen Blicken an ihm vorübergelaufen ist. Und in seinem alten, gütigen Herzen ahnt er den Zusammenhang. Er versteht den Schmerz, der da zuckend vor ihm liegt, diesen kindischen Knabenschmerz, von Erwachsenen belächelt – diesen kleinen Schmerz, der doch groß genug ist, um die Kindesseele zu füllen bis zum 54 Zerspringen. Und er streicht dem Buben über das Haar und spricht Worte des Trostes. Das ist sein Beruf, zu trösten. Und Trostgründe finden sich leicht. wenn man den guten Willen hat.

Da bringt die Magd die Lampe herein und die Eltern kommen, und der Bub wischt schnell die dummen Tränen ab und liest wieder in seinem Buch.

Draußen schwebt der Mond durch die Zweige der Bäume. Und es ist wieder Friede im Himmel und auf Erden. 55



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