Egid Filek
Vom Glück der armen Teufel
Egid Filek

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Die Argonautensage

Sie konnte noch immer nicht fassen, was geschehen war. Schattenhaft und unwirklich schien ihr das alles und war doch furchtbares Erleben: das schwarz ausgeschlagene Zimmer, der Sarg mit den langen weißen Kerzen, die süßlich duftenden Blumen, die vielen fremden Gesichter, der ganze dumme, läppische und doch so unsagbar grauenvolle Pomp, mit dem man das Sterben umgibt. Und nun war alles vorüber, die Möbel standen an ihren alten Plätzen, die Zimmer sahen aus wie sonst und das Leben des Tages schloß sich wieder zu über dem Grab, wie die letzten kleinen Wellen eines Wasserspiegels langsam verzittern, wenn ein Stein in die Tiefe gesunken ist. Starr und aufrecht saß sie im Bett, im Bann einer kindischen Hoffnung, daß es nur ein wirrer Traum gewesen; aber kein Zeichen geschah, die große Standuhr, die seine Hand noch aufgezogen, pickte in ewigem Gleichmaß die Sekunden auf, hart und kalt dröhnten ferne Glockenschläge von den Türmen, eine Stunde reichte der anderen die müde Hand, bis der Frühnebel über die Dächer kroch und unten die Straße zum gleichgültigen Alltag erwachte. Sie schloß die Augen und versank in einen Zustand zwischen Wachen und Traum; sie hörte den Briefträger die Treppenstufen heraufstampfen, im Vorzimmer klangen gedämpfte Worte, die Eingangstüre schnappte wieder ins Schloß; noch ein paar Minuten, dann mußte das Mädchen mit dem Frühstück kommen, den kleinen Tisch vor dem Sofa decken, die leise klirrenden Tassen hinstellen, damit sie bequem und behaglich ihren Tee löffeln konnten, bis Paul ins Büro mußte . . . da stöhnte sie 10 auf und wie ein heißer körperlicher Schmerz durchzuckte sie der Gedanke. daß er tot war.

Sie strich das Haar aus der Stirn und sann dem vergangenen Tage nach. Kollegen des Verstorbenen hatten ihren Beileidsbesuch gemacht; sie sprachen von seinem Fleiße, seinem kameradschaftlichen Verhalten, seiner Beliebtheit; steif und langweilig saßen sie da in ihren langen, schwarzen Röcken und blickten verstohlen nach der Uhr. Der Kapellmeister Bernhard kam, ein kleiner, dicker Mensch mit Brille und schwarzen Haaren; er sah wie eine Karikatur von Franz Schubert aus. Hastig, in abgerissenen Sätzen erzählte er von Pauls unvollendeter Oper. »Wie er sich das hat abringen können – bei seinem erbärmlichen Werktagsberuf! Na ja – er hat ja die Nächte durchgearbeitet. Das andere Leben! Das andere Leben!« Er sprang auf, lief im Zimmer auf und ab, setzte sich an den Flügel; unter seinen Händen quoll eine Melodie, leise, voll Sehnsucht und Schwermut. Sie aber blickte an ihm vorüber ins Endlose, mit versteinertem Gesicht.

Sonnenstrahlen zitterten durch das Fenster. Sie nahm eine Umhülle, ging hinüber in sein Arbeitszimmer. Fröstelnd saß sie mit bloßen Armen vor dem Schreibtisch und zog mühsam eine der unteren Schubladen auf. Ein Paket lag da, mit schwarzen Kreuzbändern verschnürt; er hatte davon gesprochen in den paar lichten Minuten vor dem letzten verzweifelten Kampf mit der Vernichtung; irre, zerrissene Worte, hinter denen es wie ein angstvolles Fragen und Drängen lag. Sie verstand ihn nicht; sie konnte nichts tun, als immer von neuem die feuchte, kalte Stirn streicheln und seine Hände drücken, die schwer und kühl waren wie Blei.

Sie hob das Paket aus der Lade; es knisterte unter dem krampfhaften Druck ihrer Finger, die einen Stoß von Papierblättern fühlten und außerdem noch ein hartes, flaches, 11 kantiges Ding. Ein Schauer lief ihr über den Rücken; sie wagte nicht, die Schnur abzustreifen, und starrte minutenlang vor sich hin, als müsse sie ihre Seelenkräfte erst sammeln zu irgendeiner entscheidenden Tat.

Vergangenes zog an ihrer Seele vorbei und warf bunte Lichter in die Finsternis der Gegenwart. Waren es denn wirklich zehn Jahre, die sie an seiner Seite zugebracht? Zehn reiche Jahre, randgefüllt mit Sorgen, Furcht und Hoffnung, mit kleinem Glück und kleinen Leiden, wie sie das Leben zu Zweien mit sich bringt. Sie fühlte die dunkle Wärme vergangener Liebesstunden noch einmal wie eine warme Welle an ihrem Herzen emporsteigen; sie erinnerte sich an Zeiten der Entfremdung, an so manches Bittere, über das sie sich hinüberlächeln und hinüberweinen mußte, bis sie endlich begriff, daß Liebe und Ehestand ein Mannesleben nicht ausfüllen können, daß Mann und Weib nur in seltenen Feierstunden des Glückes wirklich ein Leib und eine Seele sind. War es denn nicht gerade der große Gegensatz ihrer Naturen, der sie damals in blühender Jugendzeit so mächtig zueinander zog? Klar und kühl in Gedanken und Empfindungen, sah sie schon als junges Mädchen die Welt am liebsten im hellen Lichte der Sonne; ihm aber war nur wohl, wenn er sie durch die Nebel seiner Träume sah. Ihm schien die Musik das halbe Leben; wenn im Konzert eines seiner Lieder gesungen oder ein Tonstück von ihm gespielt werden sollte, raubte ihm die Aufregung nächtelang vorher den Schlaf; sie vernahm bei den gewaltigsten Werken der Tonkunst kaum mehr als ein angenehmes Geräusch. Wenn er manchmal mit brennenden Wangen von seiner Oper sprach, die niemals fertig wurde, lächelte sie, wie man bei den Spielen eines klugen Kindes lächelt. »Laß mich daheim«, bat sie, wenn er zu seinen musikalischen Freunden ging und sie mitnehmen wollte; sie liebte diese Menschen nicht, 12 die so große Worte machten und eine Sprache redeten, die ihr unverständlich war; sie fand sie verweichlicht und untüchtig für die Dinge des wirklichen Lebens.

Und hastig, als wollte sie ihn jetzt noch an sich reißen und jener Welt entziehen, in der er ein- und ausgegangen und die ihr ewig verschlossen war, öffnete sie das Paket.

Ein Stoß beschriebener Blätter kam zum Vorschein. Unter ihnen lag, in einen matten silbernen Rahmen gefaßt, ein Mädchenbildnis. Große, tiefe Augen brannten wie verschleierte Kerzen in dem schmalen Gesicht. Die lässig herabhängenden Hände umschlossen den Hals einer Geige. Steile Buchstaben waren quer über den unteren Teil des Bildes geschrieben: Annemarie.

Ihr Herzschlag stockte. So hatte sie ihre Ahnung doch nicht betrogen: es war mehr als harmlose Künstlerfreundschaft, was ihren Mann mit der berühmten Geigerin verband, die seit Jahren seine Stücke im Konzertsaale spielte. In das behütete Haus ihrer stillen Ehe hatte sie sich eingeschlichen wie ein Dieb zur Nachtzeit. Und jenes Glimmen in den Augen des Sterbenden, das sie so sehr erschreckt: es war das Geständnis jahrelanger Untreue und schwerer Schuld des Herzens.

Mit heftiger Bewegung strich sie das Bild vom Tisch herunter, daß es dumpf aufschlagend auf den Teppich fiel, als könnte sie damit das Urbild aus dem Leben streichen und hinabsenden zu ihm, der weit von hier in der feuchten Erde des großen Friedhofes lag. Starr und tränenlos hatten ihre Augen geblickt alle die letzten furchtbaren Tage hindurch; nun lösten sich langsam große, bittere Tropfen, zögernd unter schmerzlichen Wehen, wie Blutstropfen aus einer Todeswunde, die den Sitz des Lebens nicht verlassen wollen; aber die Wunde war nicht rein, Gift brannte darin und 13 schwärender Eiter, und immer wieder fragte sie verzweifelt: Warum hat er mir das getan?

Wird sie es jemals verzeihen können, daß es in seiner Seele dunkle Abgründe gab, die sie nicht kannte – daß dieses Bild zu ihren Füßen nicht das ihrige ist?

Aber mit jener Klarheit, die ihres Wesens bester Teil von jeher gewesen, begreift sie, daß sie diese Blätter lesen muß, die vielleicht die Lösung des Rätsels enthalten, unter dem sie leidet.

Es dauert lange, bis ihre erschöpften Gedanken den Sinn erfassen, bis er, mit dem sie nun die letzte Zwiesprache hält jenseits des Grabes, vor ihr steht, losgelöst von den Hemmungen und Trübungen des Alltags, lebendiger vielleicht als damals, da sie Hand in Hand zum letzten Male in diesem Zimmer beisammen saßen.

Eine Art Tagebuch ist's, flüchtige Stimmungen und Gedanken, wie sie die Stunde einem Menschen zuträgt, der gewohnt ist zu grübeln.

* * *

»Soll ich es Feigheit nennen, das wunderliche Gefühl, das mich erfaßt hat, seit ich weiß, daß mein Leben in jedem Augenblicke plötzlich erlöschen kann? Tief in der Menschenseele verankert liegt das Grauen vor der Vernichtung. Soll ich mich in irgendeine Heldenpose flüchten? Ich habe niemals an Helden geglaubt. Helden schafft die Nachwelt; sie schmückt die kalte Stirn desjenigen, der dem unerbittlichen Gesetze folgen muß, mit Lorbeer – aber wer einmal einen Menschen sterben gesehen hat, weiß zu gut, daß es keine Helden gibt.

Ohne Furcht soll man leben und ohne Angst sterben.

Wie wird mein Heimgehen sein? 14

Niemand kennt sich selbst. Wir liegen vor unserer Seele auf den Knien wie am Rande eines Brunnens und blicken in die Tiefe, aber der dunkle Spiegel weicht immer weiter zurück, je sehnsüchtiger wir hinabschauen, und das Wasser wirft nur zitternde Reflexe an die runde Wand von Stein.

Ich habe lange überlegt. ob ich Dir sagen sollte, daß mein Leben an so schwachen Fäden hängt – und endlich entschloß ich mich doch zum Schweigen. Kommt das Unabwendbare nicht immer noch früh genug?

Wenn aber einer auszieht zu einer weiten Reise, muß er seine Angelegenheiten ordnen; und wichtiger als die Verfügung über das armselige Mein und Dein ist es, daß in den Dingen des Herzens reiner Tisch gemacht wird. Und da muß ich Dir doch die Wahrheit sagen, reine, ungetrübte Wahrheit. Denn wenn Du diese Blätter liesest, bin ich nicht mehr. Neugierig sehe ich mir selbst über die Schulter, wie ich die verhängnisvollen Worte niederschreibe, ganz ruhig und selbstverständlich, ich, der so stark und heiß am Leben hängt.

Aber so fest ich auch entschlossen bin, nicht mit einer Lüge beladen den unbekannten Weg zu gehen: es ist keine Beichte, die ich vor Dir ablegen will. Zur Beichte gehört die Reue über begangene Sünden. Und bereuen kann ich nicht. Ich kann nur sagen, wie alles geworden ist, und ob Du mich lossprechen oder verdammen willst, wird die Tat nicht ändern, die ich begangen habe bei vollem Wissen, mit der Notwendigkeit eines Naturgesetzes.

Denn ihre Wurzeln liegen in den Tiefen meiner Seele, die anders als die Deinige ist. Und ein Dichter sagt: Niemand ist weise, der nicht das Dunkel kennt, das unentwirrbar und leise von allen ihn trennt. . . .

Erinnerst Du Dich noch an meine Argonautensonate, die kleine Komposition für Geige und Klavier? Im ersten Satz 15 ist fröhliche Bewegung, die Meereswellen umrauschen das glückhafte Schiff und der siegesfrohe Sang der Krieger klingt über die Gewässer; dann wechselt die Tonart, düstere Akkorde tragen uns nach Kolchis, in das unheimliche Märchenland mit seinen finsteren Nebeln, wo der Tag zur Nacht und die Nacht zum Grauen wird; die Geige singt den schwermütigen Liebesruf der einsamen Medea, dem Jasons Heldenthema aus den Tiefen des Basses antwortet; Töne und Herzen sehnen und suchen und finden sich. Aber drüben in der Heimat wartet Kreusa auf den heimkehrenden Freund ihrer Jugend. Das ganze Adagio des dritten Satzes ist ein sehnsuchtsvolles Ausbreiten von weißen Armen, das tröstende Leuchten der Lampe, die durch Finsternis und Nebel dem Geliebten verkündet, daß sein Mädchen auf ihn harrt. Und nun beginnt der Kampf der beiden Gewalten um das Herz des Helden. Das Liebeslied Medeas wird zum trotzigen Haß- und Triumphgesang. Mächtige Mollakkorde schlagen das Heldenmotiv Jasons in Trümmer; stärker als Manneskraft ist die Leidenschaft des Weibes.

Als ich das Stück beendet hatte und müde und glücklich die Feder hinwarf, da ward mir klar: was da stand in schwarzen Notenköpfen auf dem matten Papier, war das Lied meines eigenen Lebens. Die Sehnsucht, die in jedem Manne schlummert, hinauszufahren in die blaue Ferne zu Abenteuern und Kämpfen, wenn der Alltag uns ersticken will; und mein eigenes Ringen um die geliebte Kunst, die mir im Blute liegt als Erbe meines Geschlechtes. Oft hat mir die Mutter vom Großvater erzählt, der Organist an der Nikolaikirche war, ein armer Schulmeister und großer Künstler, den man bei Lebzeiten halb verhungern ließ und mit Nachruf und Gedenktafel feierte, als er tot war. Oft sah ich mich selbst in seligen Träumen an einem Dirigentenpulte stehen, hörte Ströme von Wohllaut 16 unter meinen Händen aus einem gewaltigen Orchester in den strahlenden, weißgoldenen Konzertsaal fließen, bis der graue Morgen kam und mich weckte zur ewig gleichen Brotarbeit. Denn ich war feig in meiner Jugend und wagte nicht, das Kreuz der Kunst auf mich zu laden und ihr nachzufolgen; Freunde und Verwandte rieten zu praktischem Studium und als dann die sichere Anstellung kam mit steigendem Gehalt und Pensionsanspruch und all den anderen Ketten, die an den Brotbaum fesseln, dann war's zu spät. Denn die Kunst ist ebenso grausam wie das Leben und fordert den Menschen mit Haut und Haar, und wer sich nicht ganz ihr zu eigen gibt, der muß früher oder später irgendwo unterkriechen. Und dann lernte ich Dich kennen und fühlte, wie Du die Ergänzung meines Wesens warst, wie die große Ruhe von Dir ausging, deren ich bedurfte zum Glück des Tages, und ich ging hin und ward eine von den Millionen vernünftiger Schrauben in der großen Maschine der Gesellschaft.

Die Schneeglöckchen in Deines Vaters Garten – erinnerst Du Dich noch? Schweigend und mit rotem Köpfchen hast Du Dich zu ihnen gebeugt und eines nach dem anderen abgepflückt, während ich Dir sagte, wie lieb Du mir geworden warst in den paar Tagen, die ich mit den Deinen verbrachte. Und die stille Kleinstadt, in der meine Mutter ihre Mädchenjahre verträumt hatte, die alten Häuser mit Barockschnörkeln und Laubengängen, der kleine Stadtpark mit dem mannshohen Springbrunnen – eine Spielzeugwelt voll Behaglichkeit und Sonne. So wohl tat mir damals das alles. Müde von den tausend Mißerfolgen, mit denen der Anfang jeder künstlerischen Laufbahn gepflastert ist, sah ich das Phantom des Ruhmes in nebelhafte Fernen entweichen und griff mit gierigen Händen nach dem kleinen Glücke von heute und morgen. So mußten wir uns finden. Weißt Du noch, wie wir 17 nach der Trauung mit dem gemütlichen Bummelzuge heimgefahren sind, in die Ecke unseres Abteils gedrückt, Hand in Hand, fast wie Bruder und Schwester? Das war unsere Hochzeitsreise. Andere fürchten sich vor diesen ersten Tagen und wollen sich selbst entfliehen; sie breiten Flügel der Sehnsucht aus und fliegen in unbekannte Länder, wo Palmen rauschen und tiefes Himmelsblau sich über leuchtende Meere spannt; wir flogen nach unserem kleinen Nestchen wie müde Vögel, wenn der Abend kommt – erinnerst Du Dich noch?

Und dennoch hat in mancher Nacht, während Du den tiefen, traumlosen Schlaf der müden Hausfrau schliefst, meine Lampe gebrannt und den wunderbaren Schein eines anderen Lebens auf die Notenblätter geworfen. Draußen vor den Fenstern lag die Finsternis; in melodischen Wellenlinien zeichneten sich die fernen Bergrücken vom schwarzen Samt des Himmels ab, da und dort schimmerte trüb ein fernes Licht, verirrte Töne kamen wie aus weiter Ferne zu mir, geheimnisvolle Laute, die der Tag nicht kennt; und seltsam griff der Gedanke an mein Herz, daß jetzt erst, in dieser weltentrückten Stunde, mein eigentliches Leben begann, das Leben der unbegrenzten Fernen, der großen Wälder, der einsamen Tiefen, und daß dieses Dasein unendlich viel köstlicher und wertvoller war als alle platte Nützlichkeitsarbeit des Tages. Und aus dem dunklen Meere da draußen strömten Melodien in meine Seele herein und es ging weiter von Takt zu Takt, in mühsamer und doch beseligender Arbeit, bis das Werk vollendet war.

In dem kleinen Kreis, den unser Freund, der Kapellmeister Bernhard, mit seinem prachtvollen Temperament beherrscht und zusammenhält, habe ich meine Argonautensonate zum ersten Male gehört, zum ersten Male einen Hauch jenes unsagbaren Schöpferglücks empfunden, das die Bibel in die 18 schlichten Worte kleidet: er sah, was er gemacht hatte, und es war gut.

Eine Schülerin Bernhards sollte den Violinpart spielen. Er stellte mich vor; ich hatte den unbestimmten Eindruck von zwei großen, hellgrauen Augen, die verträumt aus einem schmalen Gesichte blickten, von einem schweren, mattblonden Haarknoten, der auf dem weichen Nacken ruhte wie eine drückende Last. ›Wird sie das können?‹ fragte ich zweifelnd. Bernhard warf seine wirre Mähne zurück: ›Sie wird, verlaß dich drauf.‹ Er schlug die ersten Akkorde an; zögernd und befangen setzte die Geige ein. . . . Und nun geschah etwas Wunderbares: die blassen Wangen entzündeten sich zu hellem Rot, in den Augen glomm geheimes Licht, reicher und voller rauschte es unter dem Bogen hervor; das war die Melodie der Nacht vor meinem Fenster, die große Sehnsucht nach dem Lande des Wunderbaren, nach dem anderen Leben jenseits des Tages, ja, das war mein Werk, wie ich es gefühlt und erträumt, ins Licht der Wirklichkeit gehoben von dieser kleinen Hand, die schmal und schwach schien und doch so stark war und gebietend; die Augen brannten mir, mühsam hielt ich die Tränen zurück. Die Sonate war zu Ende; eifrig redeten die anderen durcheinander und drängten sich um die Geigerin, die tiefatmend am Flügel stand; Aufbau, Melodienführung, Technik der Komposition fanden Beifall und Anerkennung; man prüfte und verglich und vergaß mich selbst über meinem Werk, und eine große Befriedigung erfüllte mich. Bernhard saß mit verschränkten Armen auf dem Klavierstuhl und blickte um sich wie ein Triumphator. ›Hab' ich Dir zu viel versprochen? Ja, sie kann was, die Kleine. Annemarie, das Stück werden Sie an Ihrem Konzertabende spielen, verstanden? Bombenerfolg und ein dicker Lorbeerkranz für den Komponisten wird garantiert!‹ ›Gefällt Ihnen meine Arbeit?‹ 19 fragte ich mit erzwungener Gleichgültigkeit und fühlte, daß mir etwas den Hals zusammenpreßte. ›Sie ist sehr schön‹, sagte sie, und ihre Stimme war weich und klingend wie ihr Geigenton und erfüllt von derselben restlosen Hingebung an eine größere Macht. ›Es ist so viel Sehnsucht darin‹, fügte sie hinzu, so leise, daß ich sie kaum verstand. ›Sehnsucht – wonach?‹ ›Ich weiß es nicht‹, antwortete sie nach einem kleinen Schweigen, ›nach etwas Großem, Erschütterndem, nach tiefer Traurigkeit oder heftiger Freude – ich kann es auf der Geige spielen, wie ich das meine, aber Worte sagen doch nichts.‹ ›Und Sie kennen diese Sehnsucht auch schon?‹ ›Oh ja‹, sagte sie und ihre Augen träumten in die Ferne, ›schon als Kind habe ich immer auf etwas gewartet, auf eine Zukunft, die ein geheimnisvolles Glück bergen sollte wie jenes, dem die Argonauten nach Kolchis entgegenfahren . . . und ich wartete Jahr für Jahr und immer hat mich das Leben enttäuscht.‹ ›Das Leben – mein Gott, Sie sind doch noch so jung. Wieviele Möglichkeiten des Glückes liegen noch vor Ihnen!‹ ›Sie irren, ich bin gut über zwanzig.‹ ›Und Sie warten noch immer?‹ fragte ich mit einer seltsamen Bangigkeit. ›Ich warte noch immer.‹ Ihr Blick begegnete dem meinen und wieder brach aus den großen grauen Augen jenes glimmende Licht.

Dann kam der Konzertabend. Wir saßen im Künstlerzimmer beisammen und betäubten unsere Aufregung mit schlechten Witzen. ›Wenn das jetzt kein ganzer Erfolg wird, so hänge ich die Geige in den Kasten und werde eine brave Durchschnittsfrau mit Mann und Kindern‹. meinte Annemarie. Endlich mußte sie hinaus. Die Argonautensonate begann. Ich war allein im Künstlerzimmer; vom Saale her fiel ein breiter Lichtkegel in den matt erleuchteten Raum; durch die offene Tür konnte ich das Podium sehen, die grellen Rampenlichter, 20 die schlanke, weiße Gestalt, die sich so fein abzeichnete von dem schwarzen Flügel, das rote Gesicht Bernhards, halb verdeckt von den Notenblättern. Jetzt begann die Geige zu singen; lautlose Stille lag über dem Saale. War es Angst, was mich plötzlich erfaßte, Angst vor der bunten, vielköpfigen Menge da draußen, der mein armes, kleines Lied jetzt auf Gnade und Ungnade ausgeliefert war? Und warum nahm Bernhard das Allegro so langsam, warum klang die Geige heute so matt? Der erste Satz war zu Ende. Tiefe Stille . . . wie? Hatte mein Werk so wenig Eindruck gemacht? Doch nein, das war ja Beifallsklatschen, lautes, wildes Getöse, das dem Brausen eines Wasserfalles glich. Bernhard winkte mir, herauszukommen, aber um keinen Preis hätte ich mich jetzt gezeigt. Ich mußte das Ende abwarten. Und es kam der zweite, dritte und vierte Satz; der Beifall wurde stärker, Füße trommelten gegen den Boden, Rufe erschollen – und plötzlich wurde ich fortgezogen und stand da droben im hellen Lampenlichte; in meiner Linken zuckte eine kleine, heiße Mädchenhand, die Rechte umklammerte die breite Klaviertigerpranke Bernhards; zu meinen Füßen aber, wo es flimmerte und rauschte, sah ich Dein gutes, treues Gesicht, müde und abwesend, so sehr Du Dich bemühtest zu lächeln; denn Du warst ja nur mir zuliebe mitgekommen und mit Deinen Gedanken daheim in Wirtschaft und Küche, in den Erbärmlichkeiten des Tages; was dieser Abend für mich bedeutete, konntest Du nicht ahnen. Und von der kleinen Hand in meiner Linken ging ein heimliches Leben aus, ein Suchen und Fragen: Bist du wirklich der große Künstler? Sei stark und du kannst ein Herrschender werden in jenem Reiche, wo du heute nur zu Gast bist, wohin dich das Schicksal für Minuten emporgehoben hat, um dich morgen früh wieder zurückzuschleudern in die Niederungen des Brotberufes. . . . Der schmale, funkelnde Lichtstreifen der 21 Rampe zwischen Dir und mir wurde zur geheimnisvollen Grenze zweier Welten. Ein heißer Strom floß in meinen Körper; Finger, glatt wie Seide, umschlossen die meinen in keuscher und inniger Liebkosung; es waren dieselben Finger, die das Lied gespielt hatten, das Lied meiner Sehnsucht . . . und jetzt wußte ich: die Hände werden sich loslassen, die Herzen nicht.

Das war die große Stunde meines Lebens. Von ihr sind alle die kleinen Erfolge ausgegangen, die meinen Namen ein wenig emportrugen über die ungezählte Schar derer, die kommen und gehen und auf immer vergessen werden. Und ich habe Annemarie geliebt, weil ich ihr etwas geben durfte, was ihr groß und köstlich erschien: ein Stück des Lebens im Spiegel meiner Kunst. Sie aber hat mich geliebt, weil sie mir schenken konnte, was mir sonst niemand gab auf dieser Welt: einen kleinen Funken aus dem großen Feuer des Ruhmes, das die ewige Sehnsucht aller Künstlermenschen ist. Und tiefes Verstehen der eigenen Seele, die müde und halb verdorrt war und unter dem warmen Scheine der neuen Liebe aufblühen durfte gleich der wunderbaren Rose von Jericho. Hat sie nicht auch für Dich geblüht? Hast Du es nicht selbst empfunden, daß ein stärkeres, größeres Menschentum in mir erwacht ist, daß auch ich Dir mehr geben konnte, als mein altes Ich je imstande war zu geben?

Du warst mir Freundin und Gefährtin und mein Alltag war Dein, meine Sorgen und Gedanken haben sich Tag für Tag um Dein Dasein gerankt, ich habe gern und freudig die Mühe um das tägliche Brot und die tausend kleinen Dinge auf mich genommen, die unser Leben sind; aber irgendwo in meiner Seele war eine stille Kammer, wo ich ganz allein mit mir selber war. War das Sünde?

Und dennoch: nicht einen Augenblick kann ich vergessen, wieviel Glück ich Dir verdanke. Jenes liebe, heimliche 22 Alltagsglück, so genügsam und bescheiden, daß ein freundliches Lächeln am Morgen, ein paar Blumen auf dem Schreibtische, wenn ich abends müde heimkam, sein kleines Dasein fristen konnten wie ein Tropfen Öl die treue, gute Lampe, die den sanften Schimmer der Behaglichkeit über den kleinen Tisch ausgießt. Aber meine Hände haben nach Größerem gegriffen als nach diesem Glück.

War das Sünde, Sünde gegen Dich?

Du, dann muß ja alles Erleben Sünde sein, und alle die tausendfältige Wirkung, die von den bunten Dingen der Welt ausgeht und geheimen Widerhall in unseren Herzen wachruft, ist Schuld und fordert irgendwie Sühne; dann ist jeder schuldig, der den Staub der gebahnten Straße verläßt, um auf der Wiese Blumen zu pflücken oder im Waldmoos liegend dem ewigen Choral zu lauschen, den der Wind in den Kronen der Bäume singt. Gesetz und Sitte sprechen prunkvolle Worte vom Erlaubten und Verbotenen; mit strengen, geraden Linien wollen sie das Leben umgittern und ordnen nach Maß, Zahl und Gewicht; und doch ist das Leben so unermeßlich reich, so tausendfarbig bunt und vielgestaltig, es spottet aller Zahlen und Maße, und wo die schmale Grenze zwischen Erlaubtem und Verbotenem liegt, hat noch kein Gesetzmacher und kein Sittenrichter ergründet.

Und als ich erfuhr, daß unsichtbar hinter mir der Tod steht, da mußte ich tiefer in mein Inneres hineinhorchen unter dem Zwang seiner Gegenwart; und da ist mir klar geworden, daß ein Schicksal über mich gekommen ist, das getragen sein muß, das ewige Männerschicksal, aus uralten Sagen klingend, die vom Grafen von Gleichen, von der dunklen Tragik des zwiespältigen Herzens erzählen, geteilt zwischen der Frau und der Geliebten, zwischen Sehnsucht nach Herzensruhe und dem 23 Drang der heißen Leidenschaft, die in der kühlen Klarheit der Ehe keinen Platz hat und haben darf.

So kam es, daß ich Annemarie um ihr Bildnis bat, als sie vor wenigen Wochen ihre große Konzertreise antrat, und sie hat meinen Wunsch erfüllt und mich gebeten, ihr nicht zu schreiben. Sie wird lange fern bleiben, ein halbes Jahr, vielleicht noch länger, und es kann geschehen, daß sie als Frau oder als Geliebte eines fremden Mannes heimkehrt; dann ist alles zu Ende zwischen ihr und mir und dann will ich Dir in einer guten Stunde diese Blätter geben und Dir alles sagen, was geschehen ist.

Wenn sie aber wiederkommt und ich nicht mehr bin, dann richte ich an Dich die letzte Bitte: gib ihr das Bild zurück. Ist es ein Rest des alten Kinderglaubens, wenn ich Dir sage, daß meine Seele keine Ruhe finden kann, solange Du diesen Wunsch nicht erfüllt hast? Nicht deshalb sollst Du es tun, weil einer es verlangt, der Dir einmal teuer war und Dich trotz allem, was geschehen, lieb gehabt hat: sondern aus eigener Erkenntnis, aus dem tiefen Verstehen heraus, das zugleich Verzeihen ist. Aus vergangenen Zeiten meines Lebens höre ich ein Wort herüberklingen: es wird viel verziehen werden denjenigen, die viel geliebt haben.«

* * *

Da hob sie den brennenden Kopf und starrte lange verloren ins Leere; mit den Augen der Seele, die mehr sehen als die des Leibes, erkannte sie jetzt erst das Bild desjenigen, der so lange an ihrer Seite gegangen war. Und es schien ihr, als erhelle sich plötzlich das Dunkel, das zwischen Mann und Weib von Ewigkeit her gesetzt ist.

Nein, sie wird nicht anklagen und nicht richten, sondern mit stiller Hand den Ring dieses Lebens schließen, das aus den 24 Blättern da vor ihr emporsteigt; sie wird Annemarie ihr Bild zurückgeben, einmal, nach Wochen und Monaten vielleicht, bis der große Schmerz überwunden und der letzte Funken weiblicher Eifersucht verglommen ist. Und sie legte den Kopf mit dem wirren Haar auf die Arme und weinte still. Draußen aber, hoch über dem schwirrenden Getöse der erwachenden Stadt, klangen Morgenglocken. 25



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