Egid Filek
Vom Glück der armen Teufel
Egid Filek

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Flaschenherrgott.

Dimitri Pawlowitsch hockte am Wege, der zwischen den Blumenrabatten von der Offiziersbaracke zum Springbrunnen führte, und setzte mit bunten Steinchen die kunstvolle Mosaik eines russischen Reichsadlers zusammen, den man schon von weitem auf der Böschung auf dem dunkelgrünen Rasen leuchten sah.

Gestern hatte er ein Schiff, ein Kreuz und einen Anker auf dieselbe Weise dargestellt, die ein Erbteil seines Volkes aus uralter Byzantinerzeit war. Alle hatten ihn dafür gelobt, sogar der Wachposten, ein eisgrauer Landsturmonkel. Dimitri schämte sich ein wenig; irgendwas muß man doch treiben in der schrecklichen Langweile eines Gefangenenlagers. Iwan Iwanowitsch, der neben ihm in der Baracke schlief und aus demselben Dorf war, machte zum Zeitvertreib einen Flaschenherrgott. Das ist noch viel mühsamer als die Mosaikarbeit; man muß den Heiland, das Kreuz, die Marterwerkzeuge und was sonst dazu gehört, stückweise schnitzen, mit einer langen Zange durch den engen Hals einbringen und drin erst zusammensetzen. Der Flaschenherrgott war schon fast fertig. Nur die Dornenkrone fehlte noch.

Der Sergeant Alexei kam mit knirschenden Schritten über den Kiesweg. Dimitri bog den schmerzenden Rücken gerade und stand habtacht.

»Dimitri Pawlowitsch, willst du auf einem Gut Feldarbeit leisten?«

Dimitri überlegte. Natürlich waren es die verhaßten Feinde, die ihn hier gefangen hielten, längst nicht wert, daß ihnen 32 russische Hände ihre Arbeit abnahmen. Aber hier langweilte sich ja eine Seele zutode, trotz Mosaik und Flaschenherrgott. Und ein wenig schmeckt es doch nach der ersehnten Freiheit, wenn man außerhalb der Stacheldrahtzäune atmen kann. Er schlug ein.

»Gut«, sagte der Sergeant. »Morgen früh fünf Uhr holt euch der Posten ab. Und hier –« er griff in die Tasche seiner Uniformbluse – »hier ist eine Karte für dich, Dimitri. Aus der Heimat.«

Dimitri hielt mit offenem Mund die Postkarte in der Hand. Er küßte die Schrift und drückte das rauhe Papier an die Wange wie ein geliebtes Kind. Aber Lesen hatte er nie gelernt. So ging er in die Baracke zu Iwan Iwanowitsch. Der verstand die brotlose Kunst.

Iwan drehte gerade seinen an der Bretterwand hängenden Überrock um, wie es befohlen war, damit die Sonne alle bösen Krankheitskeime töten sollte. Dabei tastete er ihn sorgfältig ab und überzeugte sich, ob das gestohlene Papiergeld noch darin knisterte, das ins Futter eingenäht war.

»Iwan Iwanowitsch, preise die seligste Jungfrau. Noch sind wir nicht ganz verlassen. Ein Brief aus der Heimat. Willst du mir ihn vorlesen?«

Iwan nickte und las. Dimitris Vater hatte ihm durch den Popen schreiben lassen und seine drei Kreuze darunter gemalt: es ginge ihnen allen gut, die Wolga sei ausgetreten und habe die Felder überschwemmt, und Sonja hätte so lange auf ihn gewartet; aber weil er gar nicht gekommen sei, so gehe sie jetzt mit Asanjeff, dem Waldhüter, den der gnädige Herr als unentbehrlich vom Militärdienst freibekommen habe.

Da wurde Dimitri sehr traurig. Aber Iwan, der um fünfzehn Jahre älter war und sich nie etwas aus den Mädchen gemacht hatte, zuckte die Achseln: 33

»Ja, so sind die Weiber. Man sollte sich gar nicht mit ihnen einlassen. Du mußt nicht daran denken, Dimitri Pawlowitsch. Komm lieber mit mir zum Hauptplatz, heute spielt unsere Kapelle. Komm, es ist besser für dich, als hier zu sitzen und zu brüten.«

Willenlos ließ sich Dimitri führen. Sie schritten durch die ungeheure Barackenstadt, die sich in der weiten, vom Flusse gebildeten Schotterfläche nach allen Richtungen dehnte, mit breiten Straßen und Plätzen, schaukelnden Bogenlampen, Gemüse- und Blumengärten, wo der kleine Springbrunnen plätscherte und der Spiegel des Schwimmbades im Licht der Abendsonne die Farbe geschmolzenen Kupfers anzunehmen begann. Desinfektionsapparate standen da und dort wie dicke schwarze Stiere; vorn, wo die Landstraße am Lager vorüberging, war ein freier Platz, dort spielte zweimal wöchentlich Militärmusik, abwechselnd die russische und die der Österreicher.

Sie setzten sich auf eine Bank und blickten durch die Drahtzäune auf die Straße hinaus, wo die Bürger der nahegelegenen Stadt mit ihren Frauen und Töchtern spazieren gingen und neugierig ins Lager spähten, dessen Betreten strengstens verboten war.

»Sie glotzen uns an wie wilde Tiere«, murmelte Iwan und ballte die Faust.

Dimitri vergrub sein Gesicht in den Händen und lauschte der Musik. Schwermütig, langhingedehnt klangen die Weisen seiner Heimat, wie das monotone Wehen des Windes über den unermeßlichen Ebenen, die in der Ferne verdämmern, wo Himmel und Erde zu einem grauen Nebelstreif zusammenfließen; das Gurgeln der Wolga war darin und der klagende Ruf der Wildgänse. Er hörte eine Melodie, die Sonja oft gesungen, Sonja, die Falsche, die jetzt gewiß in den Armen 34 des Waldhüters lag und nicht mehr an ihn dachte. Er brütete vor sich hin und merkte gar nicht, wie ihm die Tränen die Wangen herabliefen, die rundlich und weich und schmutzig waren wie die eines Kindes.

Ihm war, als habe er heute die Heimat verloren. . . .

Der kleine Trupp von Arbeitern hielt am nächsten Tag im Schatten einer mächtigen Eiche Mittagsrast. Vor ihnen dehnte sich die große Wiese, wo sie seit Morgengrauen das Heu gewendet hatten. Der Gutsverwalter kam, ein großer grauer Sechziger mit hohen Schaftstiefeln; er klopfte dem Wachposten auf die Schulter und bot ihm eine Zigarre. Tüchtige Arbeiter, diese Russen! Sie schafften es beinahe besser als die eigenen Knechte, die längst alle draußen im Feld standen. Dort schossen sie auf den Feind und hier taten Feinde ihre Arbeit. Die reine verkehrte Welt, so ein Krieg!

Dimitri lag im Gras, sah nach den fliehenden weißen Wolken und grübelte über die unerhörten Dinge, die er hier gesehen. Ein Dampfpflug war auf einem Nachbarfeld hin- und hergekrochen, ein schwarzer Drache mit stählernen Riesenklauen, die Erde metertief zerfleischend; daneben hatte eine Dreschmaschine gedonnert, getrieben von der zitternden, keuchenden Lokomobile; oben warfen sie die goldgelben Garben hinein und unten floß das Getreide heraus. Dimitri bekreuzte sich. Wie Zauberei erschien ihm das alles.

Und die weißen Wolken zogen fort und fort nach Osten, wo die Heimat war und der graue Wolgastrom und Sonja. . . .

Leichte Tritte von nackten Mädchenfüßen näherten sich. Eine Magd brachte den Feldarbeitern das Mittagmahl. Sie wiegte sich in den breiten Hüften; der kurze Rock schlug bei jedem Schritt an das braune, feste Fleisch ihrer runden Beine. Das Haar hatte die Farbe des reifen Getreides und legte sich in breiten Zöpfen gleich einer Krone um die niedrige Stirn. 35

Dimitri starrte sie an wie eine Erscheinung. Iwan stieß ihn mit dem Ellbogen:

»Sieh nicht hin.«

Aber Dimitri sah doch mit offenem Munde zu, wie sie aus dem mitgebrachten großen Korb die Töpfe, Teller und Blechlöffel nahm und ein großes blaues Tuch unter der Eiche ausbreitete. Dabei gingen ihre Blicke unter halbgesenkten Lidern heimlich von einem zum andern, voll von der verhaltenen Neugier, die der Anblick der fremden Männer in ihr erregte. Jetzt begegneten ihre Augen denen Dimitris. Sie stieß ein ganz leises, girrendes Lachen aus. Als sie an ihm vorüberkam, streifte sie mit ihrer runden, festen Hand seine Schulter. Ihre kurzen, schaukelnden Röcke schwenkten einen seltsamen Geruch aus. War es der Dampf der Erde oder des Heus, das in weichen Wellen auf der Wiese lag, oder der unbeschreibliche Duft eines jungen, schwellenden Mädchenkörpers?

Dimitri wandte sich ab und versuchte an Sonja zu denken, die schwarzbraune Haare und schmale Hände hatte; aber es gelang ihm nicht recht. Ein ganzes Jahr lang war er von ihr getrennt gewesen. Vor dieser rotwangigen, lebensvollen Wirklichkeit verblaßte das Bild von damals.

Am nächsten Tag arbeitete er an der Dreschmaschine. Anfangs hatte er sich vor dem Ungetüm gefürchtet, das ungeheure Getreidemassen in seinen breiten Rachen schlang, mit Eisenzähnen zerfraß und zerfetzte und dann das gebrochene Korn im breiten Strahl in die Säcke spie. Aber er war anstellig, der Aufseher lobte ihn, der Verwalter sprach ihn sogar an, und Dimitri kramte die paar Brocken aus, die er im Lager von den deutschredenden Kameraden gelernt hatte. Als es vom Kirchturm des nahen Dorfes zwölf schlug, kam das Mädchen mit dem Essen. Und während die Blechlöffel der Heißhungrigen vom Boden der Teller und Schüsseln die letzten 36 Reste von Fleisch und Gemüse herunterschabten, saß sie neben Dimitri, die Arme um die an den Leib gezogenen Knie geschlungen, lachte über sein schlechtes Deutsch und zeigte große, weiße Zähne. Wo sie wohne, wollte er wissen. Und sie deutete mit der Hand: dort, wo das kleine Gitterfenster aus der grellweißen Wand des Wirtschaftshofes guckte wie ein schwarzes Auge, unter dem Nußbaum, ja, dort war ihre Kammer. Sie lud ihn ein, sie zu besuchen, und lachte wieder ihr gurrendes Lachen: er war ja ein Gefangener und durfte nicht aus dem Lager heraus!

Der Wachposten näherte sich und verbot Dimitri zu sprechen. Das Mädchen sprang auf, räumte die Geschirre zusammen und ging.

Dimitri arbeitete schweigend bis zum Abend. Als sie wieder in der Baracke saßen, sagte er zu Iwan:

»Iwan Iwanowitsch, glaubst du, daß es gut wäre, hier zu bleiben . . . später, wenn einmal der Krieg zu Ende sein wird? Es sind ein paar von uns, die sich ankaufen und heiraten wollen.«

Iwan hatte die Zange zur Hand genommen und dem Heiland in der Flasche nach einigen vergeblichen Versuchen die Dornenkrone aufgesetzt. Er schüttelte den Kopf:

»Du wirst immer fremd hier sein. Und der Grund ist teuer, viel teurer als drüben die schwarze Erde in der Heimat.«

Dimitri zuckte die Achseln und betrachtete das Kunstwerk seines Kameraden. Wunderschön war es ausgefallen: die großen, hoffnungslos ins Leere gerichteten Augen des Heilandes, die Leiter, der Schwamm, die Lanze . . . er versank in fromme Betrachtung. Plötzlich hob er den Kopf:

»Iwan Iwanowitsch, mein Seelchen, deine Joppe ist zerrissen. Willst du, daß ich sie dir ausbessern soll?« 37

Dimitri verstand sich auf Flickschneiderei. Der andere lächelte in sich hinein. Dimitri rückte näher:

»Iwan, wenn ich dir die Joppe flicke: willst du mir dafür den Herrgott schenken?«

»Ja,« sagte Iwan nach kurzem Besinnen. »Aber du darfst ihn nicht weiterschenken, hörst du?«

Dimitri nickte zerstreut.

Schwül und drückend lag die Nacht über dem Barackenlager; es war, als wollte der Sommer noch einmal zurückkommen mit seinem Sternengefunkel und der warmen Luft voll Heugeruch und Heimchenzirpen.

Dimitri fieberte nach dem fremden Weib. Im Traum fühlte er sie an seiner Seite; seine gierigen Finger krampften sich in ihr weißes, kühles Fleisch. Seit vielen Monaten hatte er kein weibliches Wesen in der Nähe gesehen. Und hatte doch so warmes, junges Blut. Er war dem Wahnsinn nahe. Dann erschien ihm der Wij, das furchtbare Gespenst der russischen Bauern; das Gesicht von Eisen, die Wimpern bis zur Erde reichend, daß er die Augen nicht öffnen kann; seine Glieder gleichen knorrigen Baumästen, sein ungeheurer Leib der fetten, blauschwarzen Erde des heiligen russischen Landes. Er streckte die Arme nach ihm aus – mit einem Schrei fuhr Dimitri empor und starrte erschreckt in das kalte, höhnisch lächelnde Mondgesicht, das zum Barackenfenster hereinsah.

Der Flaschenherrgott wanderte am nächsten Tag in Dimitris Rocktasche sorgsam verborgen, auf den Arbeitsplatz und in der Mittagspause in die Hände des fremden Mädchens. Und Dimitri sah das grünliche Licht, das in den Tiefen ihrer großen, staunenden Augen aufglomm; er fühlte den Gegendruck ihres warmen Körpers, als er hinter dem breiten Baumstamm seinen Arm um sie schlug und sie einen 38 Augenblick lang an sich preßte. Dann riß er sich los und schaffte den ganzen Nachmittag mit Dreimännerkraft.

Iwan Iwanowitsch war diesmal nicht mitgegangen. Als Dimitri heimkam, sah er ihn forschend an. Er wich seinen Blicken aus. Und die Stelle auf dem Wandbord, wo gestern der Flaschenherrgott gestanden hatte. blieb leer.

Da nickte Iwan Iwanowitsch mit seinem runden dicken Kopf, auf dem der erste Reif des Alters lag.

»Ja, die Weiber, die Weiber . . .,« murmelte er.

Und er nickte wieder, als er mitten in der Nacht von einem ungewohnten, leisen Geräusch erwachte und den Platz an seiner Seite leer fand.

Dimitri mußte einen großen Bogen durch den Wald machen. Draußen auf dem freien Felde stand er still und sah sich um. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals hinauf. Weit und breit war nichts Verdächtiges zu sehen. Und er schritt über die weißen Decken des Nebels, der auf den Wiesen lag, dem Gutshof zu. Der Nußbaum rauschte im Wind, unter seinen breiten Ästen schimmerte ein Licht. Unverdrossen stampfte Dimitri weiter. Das Licht wurde heller, nahm Gestalt an – in dem hölzernen Fensterladen war ein Herz ausgeschnitten, das im rötlichen Schimmer durch die Nacht leuchtete; und durch dieses rote Herz sah das arme dumme Kind Dimitri Pawlowitsch die größte Enttäuschung seines jungen Lebens.

Auf einem roh gezimmerten Tisch brannte die Lampe; da saß ein Soldat, den linken Arm in der Binde, den rechten um die Hüfte des Mädchens geschlungen. Sie zeigte ihm das Kunstwerk in der Flasche und sprach eifrig auf ihn ein. Dimitri konnte nichts hören, denn die Fensterscheiben waren fest geschlossen; aber er sah, wie das Gesicht des Soldaten finster ward, wie er sich erhob und heftig nach der Flasche griff – und nun schleuderte er sie voll Wut in eine Ecke, ein 39 Klirren und Krachen und tausend Splitter, auf den Dielen des Fußbodens durcheinandertanzend; das Mädel aber hob beschwörend die Hand und in ihren Augen war Furcht und demütige Ergebung wie bei einem Hund, der seinen Herrn um Verzeihung bittet. Sie umarmte den Soldaten und zog ihn nieder auf ihren Schoß, und dann setzten sie sich nebeneinander auf das Bett, das mit seinen dicken, rotgestreiften Polstern fast die ganze Rückwand des engen Raumes einnahm.

Dimitri Pawlowitsch sah nicht mehr nach ihnen. Der Kopf brannte ihm und sein Herz war wund und weh. Also so waren sie, die Weiber. . . . Ob sie nun blonde Haare hatten oder braune: falsch, falsch sind sie alle und Iwan Iwanowitsch hat recht.

Müde und langsam schritt er dem Lager zu, als trage er an einer großen Last. Dort war ja nun doch jetzt seine Heimat, seine Freunde, seine Kameraden. Vielleicht würde man ihn einsperren, hungern lassen, peitschen: es war ihm alles gleich. Er ging durch die Nacht mit gleichgültigem, hartem Schritt und Tritt, im Bann der eisernen Pflicht des Gehorsams, dem Erbe von ganzen Generationen geknechteter, rechtloser Sklaven. 40



 << zurück weiter >>