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Siebzehntes Kapitel

Der Unterschied des Christentums vom Heidentum

Christus ist die Allmacht der Subjektivität, das von allen Banden und Gesetzen der Natur erlöste Herz, das mit Ausschluß der Welt nur auf sich allein konzentrierte Gemüt, die Erfüllung aller Herzenswünsche, die Himmelfahrt der Phantasie, das Auferstehungsfest des Herzens – Christus daher der Unterschied des Christentums vom Heidentum.

Im Christentum konzentrierte sich der Mensch nur auf sich selbst, löste er sich vom Zusammenhang des Weltganzen los, machte er sich zu einem selbstgenügsamen Ganzen, zu einem absoluten, außer- und überweltlichen Wesen. Eben dadurch, daß er sich nicht mehr als ein der Welt angehörendes Wesen ansah, den Zusammenhang mit ihr unterbrach, fühlte er sich als unbeschränktes Wesen – denn die Schranke der Subjektivität ist eben die Welt, die Objektivität –, hatte er keinen Grund mehr, die Wahrheit und Gültigkeit seiner subjektiven Wünsche und Gefühle zu bezweifeln. Die Heiden dagegen, nicht auf sich zurückgezogen, nicht in sich selbst vor der Natur sich verbergend, beschränkten ihre Subjektivität durch die Anschauung der Welt. So sehr die Alten die Herrlichkeit der Intelligenz, der Vernunft feierten, so waren sie doch so liberal, so objektiv, auch das Andere des Geistes, die Materie leben und zwar ewig leben zu lassen, im Theoretischen, wie im Praktischen; die Christen bewährten ihre, wie praktische, so theoretische Intoleranz auch darin, daß sie ihr ewiges subjektives Leben nur dadurch zu sichern glaubten, daß sie, wie in dem Glauben an den Untergang der Welt, den Gegensatz der Subjektivität, die Natur vernichteten. »Die Heiden verspotteten daher deswegen die Christen, daß sie dem Himmel und den Gestirnen, die wir verlassen, wie wir sie gefunden haben, den Untergang androhten, uns selbst aber, den Menschen, die wir doch wie einen Anfang, so auch ein Ende hätten, nach dem Tode ewiges Leben versprächen.« Minucii Felicis Octav. c. 11. § 2. Die Alten waren frei von sich, aber ihre Freiheit war die Freiheit der Gleichgültigkeit gegen sich; die Christen frei von der Natur, aber ihre Freiheit war nicht die Freiheit der Vernunft, die wahre Freiheit – die wahre Freiheit ist nur die durch die Weltanschauung, durch die Natur sich beschränkende –, sondern die Freiheit des Gemüts und der Phantasie, die Freiheit des Wunders. Die Alten entzückte der Kosmos so sehr, daß sie sich selbst darüber aus dem Auge verloren, sich im Ganzen verschwinden sahen; die Christen verachteten die Welt; was ist das Geschöpf gegen den Schöpfer? was Sonne, Mond und Erde gegen die menschliche Seele? Die Welt vergeht, aber der Mensch ist ewig. Wenn die Christen den Menschen aus aller Gemeinschaft mit der Natur losrissen und dadurch in das Extrem einer vornehmen Delikatesse verfielen, die schon die entfernte Vergleichung des Menschen mit dem Tiere als gottlose Verletzung der Menschenwürde bezeichnete, so verfielen dagegen die Heiden in das andere Extrem, in die Gemeinheit, welche den Unterschied zwischen Tier und Mensch aufhebt, oder gar, wie z. B. Celsus, der Gegner des Christentums, den Menschen unter die Tiere herabsetzt.

Die Heiden betrachteten aber den Menschen nicht nur im Zusammenhang mit dem Universum; sie betrachteten den Menschen, d. h. hier das Individuum, den einzelnen nur im Zusammenhang mit andern Menschen, in Verbindung mit einem Gemeinwesen. Sie unterschieden, wenigstens als Philosophen, strenge das Individuum von der Gattung, das Individuum als Teil vom Ganzen des Menschengeschlechts und unterordneten dem Ganzen das einzelne Wesen. Die Menschen vergehen, aber die Menschheit besteht, sagt ein heidnischer Philosoph. »Wie willst Du klagen über den Verlust Deiner Tochter?« schreibt Sulpicius an Cicero. »Große, weltberühmte Städte und Reiche sind untergegangen, und Du gebärdest Dich so über den Tod eines homunculi, eines Menschleins? Wo ist Deine Philosophie?« Der Begriff des Menschen als Individuums war den Alten ein durch den Begriff der Gattung oder des Gemeinwesens vermittelter, abgeleiteter Begriff. Dachten sie auch hoch von der Gattung, hoch von den Vorzügen der Menschheit, hoch und erhaben von der Intelligenz, so dachten sie doch gering vom Individuum. Das Christentum dagegen ließ die Gattung fahren, hatte nur das Individuum im Auge und Sinne. Das Christentum, freilich nicht das heutige Christentum, welches die Bildung des Heidentums in sich aufgenommen und nur noch den Namen und einige allgemeine Sätze vom Christentum behalten hat, ist der direkte Gegensatz des Heidentums – es wird nur wahrhaft erfaßt, nicht verunstaltet durch willkürliche, spekulative Deutelei, wenn es als Gegensatz erfaßt wird; es ist wahr, soweit als sein Gegensatz falsch ist, aber falsch, soweit sein Gegensatz wahr ist. Die Alten opferten das Individuum der Gattung auf; die Christen die Gattung dem Individuum. Oder: das Heidentum dachte und erfaßte das Individuum nur als Teil im Unterschiede von dem Ganzen der Gattung, das Christentum dagegen nur in unmittelbarer, unterschiedloser Einheit mit der Gattung.

Aristoteles sagt bekanntlich ausdrücklich in seiner Politik, daß der einzelne, weil er für sich selbst nicht sich genüge, sich geradeso zum Staate verhalte, wie der Teil zum Ganzen, daß daher der Staat der Natur nach früher sei als die Familie und das Individuum, denn das Ganze sei notwendig früher als der Teil. – Die Christen »opferten« wohl auch »das Individuum«, d.h. hier den einzelnen als Teil dem Ganzen, der Gattung, dem Gemeinwesen auf. Der Teil, sagt der heilige Thomas Aquino, einer der größten christlichen Denker und Theologen, opfert sich selbst aus natürlichem Instinkt zur Erhaltung des Ganzen auf. »Jeder Teil liebt von Natur mehr das Ganze als sich selbst. Und jedes einzelne liebt von Natur mehr das Gut seiner Gattung, als sein einzelnes Gut oder Wohl. Jedes Wesen liebt daher auf seine Weise naturgemäß Gott, als das allgemeine Gut, mehr, als sich selbst.« (Summae P. I. Qu. 60. Art. V.) Die Christen denken daher in dieser Beziehung wie die Alten. Thomas Aq. preist (de Regim. Princip. lib. III. c. 4) die Römer, daß sie ihr Vaterland über alles setzten, seinem Wohl ihr Wohl aufopferten. Aber alle diese Gedanken und Gesinnungen gelten im Christentum nur auf der Erde, nicht im Himmel, in der Moral, nicht in der Dogmatik, in der Anthropologie, nicht in der Theologie. Als Gegenstand der Theologie ist das Individuum, der einzelne, übernatürliches, unsterbliches, selbstgenuges, absolutes, göttliches Wesen. Der heidnische Denker Aristoteles erklärt die Freundschaft (Ethik 9. B. 9. K.) für notwendig zur Glückseligkeit, der christliche Denker Thomas Aq. aber nicht. »Nicht gehört notwendig, sagt er, Gesellschaft von Freunden zur Seligkeit, weil der Mensch die ganze Fülle seiner Vollkommenheit in Gott hat.« »Wenn daher auch eine Seele allein für sich im Genüsse Gottes wäre, so wäre sie doch selig, wenn sie gleich keinen Nächsten hätte, den sie liebte.«. (Prima Secundae. Qu. 4. 8.) Der Heide weiß sich also auch in der Glückseligkeit als Einzelnen, als Individuum und deswegen als bedürftig eines andern Wesens seinesgleichen, seiner Gattung, der Christ aber bedarf keines andern Ich, weil er als Individuum zugleich nicht Individuum, sondern Gattung, allgemeines Wesen ist, weil er »die ganze Fülle seiner Vollkommenheit in Gott« d. h. in sich selbst hat.

Dem Christentum war das Individuum Gegenstand einer unmittelbaren Vorsehung, d. h. ein unmittelbarer Gegenstand des göttlichen Wesens. Die Heiden glaubten eine Vorsehung des einzelnen nur vermittelst der Gattung, des Gesetzes, der Weltordnung, also nur eine mittelbare, natürliche, nicht wunderbare Vorsehung; die Christen aber ließen die Vermittlung fallen, setzten sich in unmittelbaren Verband mit dem vorsehenden, allumfassenden, allgemeinen Wesen; d. h., sie identifizierten unmittelbar mit dem allgemeinen Wesen das einzelne Wesen.

Aber der Begriff der Gottheit fällt mit dem Begriff der Menschheit in eins zusammen. Alle göttlichen Bestimmungen, alle Bestimmungen, die Gott zu Gott machen, sind Gattungsbestimmungen – Bestimmungen, die in dem Einzelnen, dem Individuum beschränkt sind, aber deren Schranken in dem Wesen der Gattung und selbst in ihrer Existenz – inwiefern sie nur in allen Menschen zusammengenommen ihre entsprechende Existenz hat – aufgehoben sind. Mein Wissen, mein Wille ist beschränkt; aber meine Schranke ist nicht die Schranke des andern, geschweige der Menschheit; was mir schwer, ist dem andern leicht; was einer Zeit unmöglich, unbegreiflich, ist der kommenden begreiflich und möglich. Mein Leben ist an eine beschränkte Zeit gebunden, das Leben der Menschheit nicht. Die Geschichte der Menschheit besteht in nichts anderm als einer fortgehenden Überwindung von Schranken, die zu einer bestimmten Zeit für Schranken der Menschheit, und darum für absolute, unübersteigliche Schranken gelten. Die Zukunft enthüllt aber immer, daß die angeblichen Schranken der Gattung nur Schranken der Individuen waren. Die Geschichte der Wissenschaften, namentlich der Philosophie und Naturwissenschaft liefern hierfür die interessantesten Belege. Es wäre höchst interessant und lehrreich, eine Geschichte der Wissenschaften lediglich aus diesem Gesichtspunkte zu schreiben, um den Wahn des Individuums, seine Gattung beschränken zu können, in seiner ganzen Nichtigkeit zu zeigen. Unbeschränkt ist also die Gattung, beschränkt nur das Individuum. Im Sinne der Religion und Theologie ist freilich auch die Gattung nicht unbeschränkt, nicht allwissend, nicht allmächtig, aber nur deswegen, weil alle göttlichen Eigenschaften nur in der Phantasie existieren, nur Prädikate, nur Ausdrücke des menschlichen Gemüts- und Vorstellungsvermögens sind, wie in dieser Schrift gezeigt wird.

Aber das Gefühl der Schranke ist ein peinliches; von dieser Pein befreit sich das Individuum in der Anschauung des vollkommnen Wesens; in dieser Anschauung besitzt es, was ihm außerdem fehlt. Gott ist nichts andres bei den Christen als die Anschauung von der unmittelbaren Einheit der Gattung und Individualität, des allgemeinen und einzelnen Wesens. Gott ist der Begriff der Gattung als eines Individuums, der Begriff oder das Wesen der Gattung, welches als Gattung, als allgemeines Wesen, als der Inbegriff aller Vollkommenheiten, aller von den, sei es nun wirklichen, oder vermeintlichen Schranken des Individuums gereinigten Eigenschaften zugleich wieder ein individuelles, einzelnes Wesen ist. »Wesen und Existenz ist bei Gott identisch«, d. h. eben nichts andres, als er ist der Gattungsbegriff, das Gattungswesen unmittelbar zugleich als Existenz, als Einzelwesen. Der höchste Gedanke von dem Standpunkt der Religion oder Theologie aus ist: Gott liebt nicht, er ist selbst die Liebe; er lebt nicht, er ist das Leben; er ist nicht gerecht, sondern die Gerechtigkeit selbst, nicht eine Person, sondern die Persönlichkeit selbst – die Gattung, die Idee unmittelbar als Wirkliches.

Eben wegen dieser unmittelbaren Einheit der Gattung und Individualität, dieser Konzentration aller Allgemeinheiten und Wesenheiten in ein persönliches Wesen ist Gott ein tief gemütlicher, die Phantasie entzückender Gegenstand, während die Idee der Menschheit eine gemütlose ist, weil die Menschheit nur als ein Gedanke, als das Wirkliche aber, im Unterschied von diesem Gedanken, die unzählig vielen einzelnen beschränkten Individuen uns in unserer Vorstellung vorschweben. In Gott dagegen befriedigt sich unmittelbar das Gemüt, weil hier alles in eins zusammengefaßt, alles mit einem Mal, d. h. weil hier die Gattung unmittelbar Existenz, Einzelwesen ist. Gott ist die Liebe, die Tugend, die Schönheit, die Weisheit, das vollkommne, allgemeine Wesen als ein Wesen, der unendliche Umfang der Gattung als ein kompendiarischer Inbegriff. Aber Gott ist des Menschen eignes Wesen – die Christen unterscheiden sich also dadurch von den Heiden, daß sie das Individuum unmittelbar mit der Gattung identifizieren, daß bei ihnen das Individuum die Bedeutung der Gattung hat, das Individuum für sich selbst für das vollkommne Dasein der Gattung gilt – dadurch, daß sie das menschliche Individuum vergöttern, zum absoluten Wesen machen.

Charakteristisch ist der Unterschied des Christentums und Heidentums in betreff des Verhältnisses des Individuums zur Intelligenz, zum Verstande, zum Νουσ. Die Christen individualisierten den Verstand, die Heiden machten ihn zu einem universalen Wesen. Den Heiden war der Verstand, die Intelligenz das Wesen des Menschen, den Christen nur ein Teil ihrer selbst, den Heiden war darum nur die Intelligenz, die Gattung, den Christen das Individuum unsterblich, d. i. göttlich. Hieraus ergibt sich von selbst der weitere Unterschied zwischen heidnischer und christlicher Philosophie.

Der unzweideutigste Ausdruck, das charakteristische Symbolum dieser unmittelbaren Einheit der Gattung und Individualität im Christentum ist Christus, der wirkliche Gott der Christen. Christus ist das Urbild, der existierende Begriff der Menschheit, der Inbegriff aller moralischen und göttlichen Vollkommenheiten, mit Ausschluß alles Negativen, Mangelhaften, reiner, himmlischer, sündloser Mensch, Gattungsmensch, der Adam Kadmon, aber nicht angeschaut als die Totalität der Gattung, der Menschheit, sondern unmittelbar als ein Individuum, als eine Person. Christus, d. h. der christliche, religiöse Christus ist daher nicht der Mittelpunkt, sondern das Ende der Geschichte. Dies geht ebenso aus dem Begriffe, als der Historie hervor. Die Christen erwarteten das Ende der Welt, der Geschichte. Christus selbst prophezeit in der Bibel, allen Lügen und Sophismen unserer Exegeten zum Trotz, klar und deutlich das nahe Weltende. Die Geschichte beruht nur auf dem Unterschiede des Individuums von der Gattung. Wo dieser Unterschied aufhört, hört die Geschichte auf, geht der Verstand, der Sinn der Geschichte aus. Es bleibt dem Menschen nichts weiter übrig, als die Anschauung und Aneignung dieses verwirklichten Ideals und der leere Ausbreitungstrieb – die Predigt, daß Gott erschienen und das Ende der Welt gekommen ist.

Deswegen, weil die unmittelbare Wohlweislich sagte ich: die unmittelbare, d. h. die supranaturalistische, phantastische, geschlechtlose, denn die mittelbare, vernünftige, naturhistorische Einheit der Gattung und des Individuums gründet sich nur auf das Geschlecht. Ich bin nur Mensch als Mann oder Weib. Entweder – Oder – entweder Licht oder Finsternis, entweder Mann oder Weib – ist das Schöpfungswort der Natur. Aber dem Christen ist der wirkliche, der weibliche, der männliche Mensch »der Tiermensch«; sein Ideal, sein Wesen ist der Kastrat, der geschlechtlose Gattungsmensch, denn der Gattungsmensch ist nichts andres, als der im Unterschiede vom Mann und Weibe, weil beide Menschen sind, personifizierte, folglich geschlechtlose Mensch. Einheit der Gattung und des Individuums über die Grenzen der Vernunft und Natur hinausgeht, war es auch ganz natürlich und notwendig, dieses universale, ideale Individuum für ein überschwengliches, übernatürliches, himmlisches Wesen zu erklären. Verkehrt ist es daher, aus der Vernunft die unmittelbare Einheit der Gattung und des Individuums deduzieren zu wollen; denn es ist nur die Phantasie, die diese Einheit bewerkstelligt, die Phantasie, der nichts unmöglich – dieselbe Phantasie, die auch die Schöpferin der Wunder ist; denn das größte Wunder ist das Individuum, welches als Individuum zugleich die Idee, die Gattung, die Menschheit in der Fülle ihrer Vollkommenheit und Unendlichkeit ist. Verkehrt ist es daher auch, den biblischen oder dogmatischen Christus beizubehalten, aber die Wunder auf die Seite zu schieben. Wenn du das Prinzip festhältst, wie willst du seine notwendigen Konsequenzen verleugnen?

Die gänzliche Abwesenheit des Begriffes der Gattung im Christentum bekundet besonders die charakteristische Lehre desselben von der allgemeinen Sündhaftigkeit der Menschen. Es liegt nämlich dieser Lehre die Forderung zugrunde, daß das Individuum nicht ein Individuum sein soll, eine Forderung, die aber selbst wieder zu ihrem Fundament die Voraussetzung hat, daß das Individuum für sich selbst ein vollkommnes Wesen, für sich selbst die erschöpfende Darstellung oder Existenz der Gattung ist. Es fehlt hier gänzlich die objektive Anschauung, das Bewußtsein, daß das Du zur Vollkommenheit des Ich gehört, daß die Menschen erst zusammen den Menschen ausmachen, die Menschen nur zusammen das sind und so sind, was und wie der Mensch sein soll und sein kann. Alle Menschen sind Sünder. Ich gebe es zu; aber sie sind nicht Sünder alle auf gleiche Weise; es findet vielmehr ein sehr großer, ja wesentlicher Unterschied statt. Der eine Mensch hat Neigung zur Lüge, So sind z. B. bei den Siamern Verstellung und Lüge angeborne Laster, aber gleichwohl haben sie wieder Tugenden, die andern Völkern abgehen, welche diese Laster der Siamer nicht haben. der andere aber nicht: er würde eher sein Leben lassen, als sein Wort brechen oder lügen; der dritte hat Neigung zur Trinklust, der vierte zur Geschlechtslust, der fünfte aber hat alle diese Neigungen nicht – sei es nun durch die Gnade der Natur oder die Energie seines Charakters. Es ergänzen sich also auch im Moralischen, wie im Physischen und Intellektuellen, gegenseitig die Menschen, so daß sie im Ganzen zusammengenommen so sind, wie sie sein sollen, den vollkommnen Menschen darstellen.

Darum bessert und hebt der Umgang; unwillkürlich, ohne Verstellung ist der Mensch ein anderer im Umgang, als allein für sich. Wunder wirkt namentlich die Liebe und zwar die Geschlechterliebe. Mann und Weib berichten und ergänzen sich gegenseitig, um so vereint erst die Gattung, den vollkommnen Menschen darzustellen. Bei den Indern (Menu Ges.) ist erst derjenige »ein vollständiger Mann, der aus drei vereinigten Personen, seinem Weibe, sich selbst und seinem Sohne besteht. Denn Mann und Weib und Vater und Sohn sind eins.« Auch der alttestamentliche, irdische Adam ist unvollständig ohne das Weib, sehnt sich nach ihm. Aber der neutestamentliche, der christliche, der himmlische, der auf den Untergang dieser Welt berechnete Adam hat keine geschlechtlichen Triebe und Funktionen mehr. Ohne Gattung ist die Liebe undenkbar. Die Liebe ist nichts andres als das Selbstgefühl der Gattung innerhalb des Geschlechtsunterschieds. In der Liebe ist die Wahrheit der Gattung, die sonst nur eine Vernunftsache, ein Gegenstand des Denkens ist, eine Gefühlssache, eine Gefühlswahrheit, denn in der Liebe spricht der Mensch seine Ungenügsamkeit an seiner Individualität für sich aus, postuliert er das Dasein des andern als ein Herzensbedürfnis, rechnet er den andern zu seinem eignen Wesen, erklärt er nur sein durch die Liebe mit ihm verbundnes Leben für wahres menschliches, dem Begriffe des Menschen, d. i. der Gattung entsprechendes Leben. Mangelhaft, unvollkommen, schwach, bedürftig ist das Individuum; aber stark, vollkommen, befriedigt, bedürfnislos, selbstgenugsam, unendlich die Liebe, weil in ihr das Selbstgefühl der Individualität das Selbstgefühl der Vollkommenheit der Gattung ist. Aber wie die Liebe, wirkt auch die Freundschaft, wo sie wenigstens wahr und innig, wo sie Religion ist, wie sie es bei den Alten war. Freunde ergänzen sich; Freundschaft ist ein Tugendmittel und mehr: sie ist selbst Tugend, aber eine gemeinschaftliche Tugend. Nur zwischen Tugendhaften kann Freundschaft stattfinden, wie die Alten sagten. Aber doch kann nicht vollkommne Gleichheit, es muß vielmehr Unterschied stattfinden, denn die Freundschaft beruht auf einem Ergänzungstriebe. Der Freund gibt sich durch den andern, was er selbst nicht besitzt. Die Freundschaft sühnt durch die Tugenden des einen die Fehler des andern. Der Freund rechtfertigt den Freund vor Gott. So fehlerhaft auch ein Mensch für sich selbst sein mag: er beweist doch darin schon einen guten Kern, daß er tüchtige Menschen zu Freunden hat. Wenn ich auch selbst nicht vollkommen sein kann, so liebe ich doch wenigstens an andern die Tugend, die Vollkommenheit. Wenn daher einst der liebe Gott wegen meiner Sünden, Schwächen und Fehler mit mir rechten will, so schiebe ich als Fürsprecher, als Mittelspersonen die Tugenden meiner Freunde ein. Wie barbarisch, wie unvernünftig wäre der Gott, der mich verdammte wegen Sünden, welche ich wohl begangen, aber selbst in der Liebe zu meinen Freunden, die frei von diesen Sünden waren, verdammte!

Wenn nun aber schon die Freundschaft, die Liebe aus für sich unvollkommnen Wesen ein, wenigstens relativ, vollkommnes Ganzes machen, wieviel mehr verschwinden in der Gattung selbst, welche nur in der Gesamtheit der Menschheit ihr angemeßnes Dasein hat »Nur sämtliche Menschen«, sagt Goethe – Worte, die ich zwar schon woanders angeführt habe, aber mich nicht enthalten kann hier zu wiederholen –, »erkennen die Natur; nur sämtliche Menschen leben das Menschliche.« und eben darum nur ein Gegenstand der Vernunft ist, die Sünden und Fehler der einzelnen Menschen! Das Lamento über die Sünde kommt daher nur da an die Tagesordnung, wo das menschliche Individuum in seiner Individualität sich als ein für sich selbst vollkommnes, absolutes, des andern nicht zur Realisierung der Gattung, des vollkommenen Menschen, bedürftiges Wesen Gegenstand, wo an die Stelle des Bewußtseins der Gattung das ausschließliche Selbstbewußtsein des Individuums getreten ist, wo das Individuum sich nicht als einen Teil der Menschheit weiß, sich nicht von der Gattung unterscheidet, und deswegen seine Sünden, seine Schranken, seine Schwächen zu allgemeinen Sünden, zu Sünden, Schranken und Schwächen der Menschheit selbst macht. Aber gleichwohl kann der Mensch das Bewußtsein der Gattung nicht verlieren, denn sein Selbstbewußtsein ist wesentlich an das Bewußtsein des andern gebunden. Wo darum dem Menschen nicht die Gattung als Gattung Gegenstand ist, da wird ihm die Gattung als Gott Gegenstand. Den Mangel des Begriffs der Gattung ergänzt er durch den Begriff Gottes, als des Wesens, welches frei ist von den Schranken und Mängeln, die das Individuum, und, nach seiner Meinung, weil er das Individuum mit der Gattung identifiziert, die Gattung selbst drücken. Aber dieses von den Schranken der Individuen freie, unbeschränkte Wesen ist eben nichts andres als die Gattung, welche die Unendlichkeit ihres Wesens darin offenbart, daß sie sich in unbeschränkt vielen und verschiedenartigen Individuen verwirklicht. Wären alle Menschen absolut gleich, so wäre allerdings kein Unterschied zwischen der Gattung und dem Individuum. Aber dann wäre auch das Dasein vieler Menschen ein reiner Luxus; ein einziger genügte hinlänglich dem Zweck der Gattung. Alle miteinander hätten an dem einen, der das Glück der Existenz genösse, ihren hinreichenden Ersatzmann.

Allerdings ist das Wesen der Menschen eines, aber dieses Wesen ist unendlich; sein wirkliches Dasein daher unendliche, sich gegenseitig ergänzende Verschiedenartigkeit, um den Reichtum des Wesens zu offenbaren. Die Einheit im Wesen ist Mannigfaltigkeit im Dasein. Zwischen mir und dem andern – aber der andere ist der Repräsentant der Gattung, auch wenn er nur einer ist, er ersetzt mir das Bedürfnis nach vielen andern, hat für mich universelle Bedeutung, ist der Deputierte der Menschheit, der in ihrem Namen zu mir Einsamen spricht, ich habe daher, auch nur mit einem verbunden, ein gemeinsames, menschliches Leben – zwischen mir und dem andern findet daher ein wesentlicher, qualitativer Unterschied statt. Der andere ist mein Du – ob dies gleich wechselseitig ist –, mein anderes Ich, der mir gegenständliche Mensch, mein aufgeschlossenes Innere – das sich selbst sehende Auge. An dem andern habe ich erst das Bewußtsein der Menschheit; durch ihn erst erfahre, fühle ich, daß ich Mensch bin; in der Liebe zu ihm wird mir erst klar, daß er zu mir und ich zu ihm gehöre, daß wir beide nicht ohne einander sein können, daß nur die Gemeinsamkeit die Menschheit ausmacht. Aber ebenso findet auch moralisch ein qualitativer, ein kritischer Unterschied zwischen dem Ich und Du statt. Der andere ist mein gegenständliches Gewissen: er macht mir meine Fehler zum Vorwurf, auch wenn er sie mir nicht ausdrücklich sagt: er ist mein personifiziertes Schamgefühl. Das Bewußtsein des Moralgesetzes, des Rechtes, der Schicklichkeit, der Wahrheit selbst ist nur an das Bewußtsein des andern gebunden. Wahr ist, worin der andere mit mir übereinstimmt – Übereinstimmung das erste Kennzeichen der Wahrheit, aber nur deswegen, weil die Gattung das letzte Maß der Wahrheit ist. Was ich nur denke nach dem Maße meiner Individualität, daran ist der andere nicht gebunden, das kann anders gedacht werden, das ist eine zufällige, nur subjektive Ansicht. Was ich aber denke im Maße der Gattung, das denke ich, wie es der Mensch überhaupt nur immer denken kann und folglich der einzelne denken muß, wenn er normal, gesetzmäßig und folglich wahr denken will. Wahr ist, was mit dem Wesen der Gattung übereinstimmt, falsch, was ihr widerspricht. Ein anderes Gesetz der Wahrheit gibt es nicht. Aber der andere ist mir gegenüber der Repräsentant der Gattung, der Stellvertreter der andern im Plural, ja sein Urteil kann mir mehr gelten, als das Urteil der zahllosen Menge. »Mache der Schwärmer sich Schüler, wie Sand am Meere; der Sand ist Sand; die Perle sei mein, du o vernünftiger Freund!« Die Beistimmung des andern gilt mir daher für das Kennzeichen der Gesetzmäßigkeit, der Allgemeinheit, der Wahrheit meiner Gedanken. Ich kann mich nicht so von mir absondern, um vollkommen frei und interesselos mich beurteilen zu können; aber der andere hat ein unparteiisches Urteil; durch ihn berichtige, ergänze, erweitre ich mein eignes Urteil, meinen eignen Geschmack, meine eigne Erkenntnis. Kurz, es findet ein qualitativer, kritischer Unterschied zwischen den Menschen statt. Aber das Christentum löscht diese qualitativen Unterschiede aus, es schlägt alle Menschen über einen Leisten, betrachtet sie wie ein und dasselbe Individuum, weil es keinen Unterschied zwischen der Gattung und dem Individuum kennt: ein und dasselbe Heilmittel für alle Menschen ohne Unterschied, ein und dasselbe Grund- und Erbübel in allen.

Eben deswegen, weil das Christentum aus überschwenglicher Subjektivität nichts weiß von der Gattung, in welcher allein die Lösung, die Rechtfertigung, die Versöhnung und Heilung der Sünden und Mängel der Individuen liegt, bedurfte es auch einer übernatürlichen, besondern, selbst wieder nur persönlichen, subjektiven Hülfe, um die Sünde zu überwinden. Wenn ich allein die Gattung bin, wenn außer mir keine anderen, qualitativ anderen Menschen existieren, oder, was völlig eins ist, wenn kein Unterschied zwischen mir und den andern ist, wenn wir alle vollkommen gleich sind, wenn meine Sünden nicht neutralisiert und abgestumpft werden durch die entgegengesetzten Eigenschaften anderer Menschen, so ist freilich meine Sünde ein himmelschreiender Schandfleck, ein empörender Greuel, der nur durch außerordentliche, außermenschliche, wunderbare Mittel getilgt werden kann. Glücklicherweise gibt es aber eine natürliche Versöhnung. Der andere ist an und für sich der Mittler zwischen mir und der heiligen Idee der Gattung. »Der Mensch ist dem Menschen Gott.« Meine Sünde ist dadurch schon in ihre Schranke zurückgewiesen, in ihr Nichts verstoßen, daß sie eben nur meine, aber deswegen noch nicht auch die Sünde des andern ist.


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