Heinrich Federer
Der Fürchtemacher
Heinrich Federer

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4.

Bittere Briefe gingen nun von Luzern nach Sarnen, Briefe voll Höflichkeit und händewaschender Unschuld kamen zurück.

Heinrich Bürgler war gerade am Käsen auf Arnialp, als der Träger von Giswyl die Nachricht vom eingetürmten Vetter heraufbrachte. Er kochte ruhig weiter, indem er mit seinen kurzen, kupferfarbenen Ellenbogen die schönsten Schleifen über dem Kessel zog.

Die Hirten und Sennen saßen abends ums Feuer, während der Vollmond herrlich zur offenen Türe hereinsah, spuckten fleißig in die Glut und stritten, ob man sich nicht zusammenrotten und den lieben Nachbar aus der Falle reißen solle. Landammann Bürgler aber schlug den fertigen Laib Käse ins Linnen, klammerte die Spalen drum, hob den Hundertfünfziger mit einem Arm hoch zur Türe hinaus und lachte: »So was ist rund und süß und vollkommen wie der Vollmond da draußen, aber braucht auch eine Herrgottsgeduld. Hingegen mein armer Vetter selig – jawohl, zu den Toten rechne ich ihn – hat nie gut gekäst. Er zappelte und pressierte und wollte alles mit Gewalt und Hitz erzwingen. Warten konnte er nicht. So gab es kein Rundes und Gesundes. Sein Käsbissen faulte einem schier unterwegs vom Teller zum Mund.«

»Schon, schon«, nickten die andern, »aber . . .«

»Was für eine Trölerei hat er jetzt wohl wieder angestellt, daß sie ihn gleich türmen? Einen Landeshauptmann! Es geht ihm diesmal scharf an den Kragen, da ist nichts mehr zu wollen. Beim Teufel, nun muß wohl auch manch gute Sach' mitbluten. . . . Merkt euch, Buben, pfiffig und geduldig muß man sein, sonst gibt es keinen schmackhaften Käse.«

Er käsete auch die weiteren Tage gemächlich fort und lächelte kostbar zwischen den kugligen Backen hervor, als ein Ratsbote von Luzern bis da hinaufeilte und berichtete, Peter Amstalden sei unter der Folter windelweich geworden und habe ihn und den Künegger als einzige Hetzer und Anstifter der Verschwörung zitiert. »Ihr werdet doch«, hieß es im Schreiben, »solchen Makel nicht auf Euch belassen und seid also höflich eingeladen, vor meinen Herren zu Luzern Euch schneeblank zu reinigen. . . .« Da lachte Bürgler mächtig und rief: »Was fällt euch ein? Wo hattet ihr denn all die Zeit die Augen? Saht ihr wirklich nicht, daß Peter immer angetrunken war?«

»Ja«, riefen die Sennen, »er lief eigentlich immer mit einem kleinen Schwips herum.«

»Schon auch mit einem strammen Rausch«, verbesserte Heini Bürgler. »So verstört und besoffen redete er denn auch. Aber wer gab noch etwas auf seinen Schwatz? Er allein Luzern anzünden! . . . Luzern ausrotten! Ist denn eure Stadt nur so ein Spatzennest? Ja, verrückt war er immer, und jetzt tun eure Daumenschrauben und spanischen Stiefel das übrige. Sein Wahnsinn über euch! . . . Ha, das paßte euch gerade, zu diesem harmlosen Sünder noch ein paar unschuldige Bauern aufzuspießen. . . . Legt andern Fallen, nicht mir!«

Indem er so spottete, fing er die Dickete ins Garn und schwang den Brei aufs Käsbrett. Aber er zitterte, ward unsicher, und beinahe wäre ihm der ganze Schmarren aus den Händen geglitten. Darüber staunten alle.

Jedoch am nächsten Morgen wollte ihm nicht einmal der erste Sud ordentlich geraten. Paßte er denn zuwenig auf? Vergaß er etwas? Oder hielt er das kleine Ohr mit dem goldenen Ringlein zu tief ins sonderbare, wie aus einer fernen Menschenkehle kommende Schreien des Gesöds? . . . Wer schrie da von weit, weit her, aus Turmestiefen: »Hilf, hilf . . . grausig ist das Loch . . . wehtun die Strick' . . . ich schwitz' vor Angst! . . . Aber du müßtest Angst haben . . . durch dich lieg' ich in solcher Not . . . du bist der Schuldige . . . komm also, stelle dich, verteidige mich, trag' und leid' mit, so dir deine Seel' lieb ist!«

Statthalter Heintzli bemühte sich von Sarnen zu ihm herauf, der noble, weißhaarige Alte mit dem steifen, verhärmten Gesicht, das seit dem jähen Tod seiner zwei Buben nie mehr lachen wollte. »Geht mit mir, Kollega«, keuchte er, »'s gilt die Ehr' des Landes. Zeigen wir der Stadt das Weiße im Obwaldneraug'! Bei glattem Gewissen ist nichts zu fürchten.«

»Ich fürchte auch nichts«, schnitt Bürgler hochmütig ab. »Was sollt' ich fürchten? Und gerade darum lach' ich und bleib', wo ich bin. Keinen Schritt schenk' ich diesen Affen von Luzern. . . . Was schaut Ihr mich so an? Zählt Ihr etwa meine sieben Haar'? Um Luzern ist mir noch keins entfallen. Und jetzt«, fuhr er fort und wandte sich zum Kessel, denn er hielt wirklich vor den zwei blauen, schmerzlichen Augen des Greises nicht länger stand, »jetzt bin ich am Käsen und kann wegen einer Narretei nicht davon. . . . Da seht, schon hab' ich mich verschwatzt . . . alle Teufel und Wetter!« Der ganze Brei fiel auseinander.

Da reiste Heintzli allein nach Luzern und reinigte sich mit erhobenen drei Fingern von jedem Verdacht. »Warum ich mich herwage«, sagte er bitter, »wisset ihr, warum der andere nicht, wisset ihr nun auch.« Von da an galt Bürgler als überwiesen.

Noch einmal erging Botschaft an ihn. Der Sigristensohn von Sachseln stotterte sie mit seiner kindsäugigen, rührenden Unbeholfenheit hervor: »Bruder Klaus bitt' und erwart', daß der Herr Vetter dem armen Fründ in der Not tragen helf' und mitlauf' zu Licht oder Asche.«

Dem Heini Bürgler, der übel geschlafen und die schreckhaften Träume in den käsenden Vormittag weitergewoben hatte, mißfiel das Wort Asche ungemein. Aber nicht darum tat er einen so merkwürdigen Schrei, sondern weil die Schotte, die er verkühlte, in faule Blasen zerplatzte und elend in die Nase stank. Fast ward dem Gert übel. Er mußte sich setzen. Aber auch der Bürgler sah grün und grau aus wie das mißratene Gesöd, und sein unfehlbares Lächeln hatte einen falschen Schein. Er bot dem Läufer Brot und fetten Maienkäse. Der wurde rot, zögerte und brockte hervor: »Mag nicht . . . 's tät' nicht wohl . . . ein andermal . . .« Darauf Bürgler verstockt: Er lasse sich gern segnen, aber nicht bemuttern wie ein Gof vom heiligen Vetter im Ranft. Nächsthin woll' er übrigens selber zum Bruder kommen und das Tunliche bereden. Da, nehm' er einen Gulden für drei heilige Messen zu den Schmerzen Mariä.

Als der Landammann wieder allein war, mußte er ins Gras an die Sonne hinausliegen, so sehr fistelte ihn und zupfte und riß die Gicht an allen Muskeln. So früh im Herbst und so barsch war sie noch nie gekommen. »Heini, werd' mir nicht alt«, sprach er sich zu und probierte die Knie möglichst weit auseinanderzuspreizen.

Am Sonntag darauf tagte eine Obwaldner Gemeinde über der heiklen Amstalden-Affäre. Die Weißen oder die Herrenpartei forderten, daß Bürgler mit seinem Schwager Künegger nach Luzern gehe und mit Amstalden konfrontiert werde. Aber die Roten oder Bäuerischen, zehnmal zahlreicher, lehnten ungestüm ab. Die Kläger müßten zum Richter des Angeklagten kommen, nicht diese den Klägern um Gottes willen nachlaufen. Wüst und wild zog man über Luzern los, und aus den verzerrten Gesichtern war zu lesen, daß es keine ärgeren Feinde gebe als Brüder, die sich nicht mehr verstehen.

»Der Bürgler braucht nur zu winken, nur zu husten«, schrie man, »und wir glauben, daß er falsch bezichtet wird.«

Man gemeindete auf Bürglers Sagimatt beim Zollhaus, am obern Seezipfel, wo die würdigen Berge wie Senioren im Halbkreis zuhörten. Dort holpert die Kleine Melchaa nach bösen Abenteuern aus der Schlucht hervor, treibt sogleich eine Säge, wässert eine Wiese und macht dann frühen Feierabend im See. Als nun Landammann Bürgler mit Hallo und Lebehoch zur Tribüne begleitet wurde, da fiel ihm ein, wie er diese Wiese und Säge dem Amstalden einst halb aus Jux, halb im Ernst als billigen Ruheposten zugesagt hatte, wenn das Abenteuer mit Luzern wohl oder übel bestanden sei. Das focht ihn nun wenig an. Aber als er auf das Känzelchen stieg, mußte er zum schwarzen Loch schauen, aus dem der Bach wie aus einem Kerker hervorsprang, sich schüttelnd, vom Licht geblendet und gleichsam bis in den letzten Tropfen vom Ausgestandenen erschauernd.

Und da, Herrgott von Obwalden! standen da in der Kluft nicht zwei Männer? Schattig, hoch, massenhaft wie Bäume wuchsen sie aus dem Abgrund. Der eine glich dem Bruder Klaus, so bolzgerade stand er da und so hilfreich hielt er den andern am Ellbogen. Der aber war abgezehrt und fiel schlaff in die Knie, als wären seine Gelenke gebrochen. Der Kopf mit langem Haar nickte vornüber . . . der Amstalden. . . . Jetzt zeigte Bruder Klaus mit einem Arm, der lang wie ein Ast war, exakt auf das Pültchen und den Mann, der die drei Tritte ersteigen wollte, und winkte ihm . . . in die Schlucht . . . in die Haft . . . in den Tod? . . . Der Landammann sah bald zwei, bald vier Stufen, glitschte aus, stolperte. Ihm brauste das Ohr. Obwohl es Sonntag war, meinte er, die Säge arbeite, kreische, Bretter fielen, schwarze Bretter zu Gerüst und Sarg. Er blieb unten stehen und hielt sich schwer atmend am Gesimse. »Liebe Landsleut, mir ist nicht wohl«, begann er. »Hab' ja noch geankelt um die drei heut morgen und dreißig Kühe gemolken, bin fünf Stunden unterwegs, versteht . . . und dann diese Hetze der Luzerner, ich bitt' euch! . . . Drum mach' ich kurz. Erstunken und erlogen ist alles Geschwätz gegen mich.« Er hob die Schwurfinger. ». . . Im Namen der heiligsten Dreifaltigkeit, ich weiß von nichts. . . . Ein Todsünder und Verdammter, wer mir's nicht glaubt. . . . Jetzt macht, was ihr wollt, ich, Heini Bürgler, fürcht' mich nit. . . .«

Er trotzte gegen die Schlucht hinauf. Ach, da standen doch nur zwei Tannen. In frommer Sonntagsstille ruhte das Rad der Säge. Bürgler hatte seine hohe, weiche, süßölige Stimme zurückgewonnen und sprang lachend und leicht wie ein Knabe in den brausenden Beifall des Volkes zurück. Sein Lachen steckte an. Lachten nicht alle Gesichter ringsum, auch der Bach, die Föhren, die ganze Schlucht überlaut? Grinste nicht das gesamte zerfurchte Antlitz der Berge in einem einzigen teuflischen Gelächter? Das schütterte bis in die Einsiedelei des Bruder Klaus. Aber der wetterfeste von Flüe antwortete ins Gehöhn: »Du dummer Teufel, schreib es dir auf die Hörner: Nur wer zuletzt lacht, lacht . . .!«


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