Heinrich Federer
Der Fürchtemacher
Heinrich Federer

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2.

In der Tat, als sie um Mitternacht auf den Dorfplatz zu Sachseln kamen, den bachdurchsprudelten, waren noch alle Fenster und Türen lebendig. Zu beiden Seiten des Dorfwassers stand man in Gruppen, schliff und schmierte die Schwerter auf der Friedhofmauer, nagelte die Schuhe unter den Hauslaternen, die Weiber stopften noch Säcke mit Grütze und hartem Spalenkäse und luden sie auf einen Wagen. Der junge, milchfarbene Leutnant Theodor Götschi vom Kreuz, den man den Flinkeler übernamste, sprang, statt über das nahe Brett zu gehen, in einem frechen Bogen über den breiten, vom Gewitter hochgeschwollenen Bach, um die zwei Buben des Sattlertoni anzuschnauzen: »Hü, hoi, die Händ' aus dem Sack! Wo sind die Gäul'? Anspannen! Flink muß alles gehen!«

Leis und elastisch tauchte er bald da bald dort mit raschem Kommando auf, und immer wieder hörte man die hübsche, dünne Stimme schallen: »Hü, hoi, die Händ' aus dem Sack! Flink muß alles gehen!«

Von Sarnen war der Weibel hergelaufen und hatte gebotet: Der Karli von Burgund sei von Lausanne heraufmarschiert und berenne Murten. Das Städtlein sei am Umfallen. Von da gehe es an Bern und dann in unsere Berge. Welsche, verdammte Sklaverei! Noch diese Nacht heiße es nach Luzern ziehen. Dort sammle sich die Urschweiz. Erloschen sei aller Span zwischen Stadt und Land in der allgemeinen Not. Alle Stöcke gespitzt, alle Eisen gewetzt!

Pfarrer Hans Burkart schloß die Kirche auf, zündete am Mauritiusaltar alle Kerzen an und sang mit den Kindern und Großmüttern die Allerheiligenlitanei. Der Sigrist Fridolin Mösli lief indessen mit seinem Buben, dem so plumpen, aber auch so klugäugigen Gert, in den Turm an die Seile, und schon begann der müde, alte Theoduli, des Dorfes Sterbeglocke, zu schwingen. »Weg vom Seil«, schrie der Alte und hieb dem Jungen seine tägliche Ohrfeige, »hab' ich nicht gesagt den Maurizi, du allewiger Plumpsack!« Und nun zog er langsam, schön und straff, wie er abends seine einzige Kuh molk, mit der verrunzelten Sechzigerhand an der hohen und lustigen Vesperglocke auf und nieder, während der Knabe an der Backe strich, ein Ade stotterte und sich draußen gemächlich in Reih und Glied stellte.

»Den Maurizi hab' ich gesagt, du Cheibesturni«, brummte der Läuter für sich hin. »Zur Vesper geht es ja, zum Psallieren mit Halpart und Zweihänder: Dixit Dominus Domino meo . . . Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde zum Schemel deiner Füße lege. . . .«So beginnt mit Psalm 109 die Vesper.

Hoch über dem Greis lachte die volle Glocke durch die Nacht, und er hörte nun auch, wie sie im schönsten Schritt dorfab zogen, die lieben Sachsler, darunter sein Gert, gleich hinter dem Leutnant, übel montiert und leider immer ein wenig außer Takt. Gern hätte er ihm nachgeschrien: Du, die Ohrfeige war nicht bös gemeint . . . alte Gewohnheit . . . alle Ohrfeigen . . . nichts für ungut. . . . Aber jetzt hieß es die Kraft behalten und läuten, läuten, daß den Männern der rechte Ton im Ohr bleibt bis ins Burgund hinunter.

So zog die Truppe am See hinunter und redete nicht, solange sie die Glocke hörte. Zuvorderst im Zug schritt mächtig Peter Amstalden aus, hetzend und in der Luft fechtend und nur an den beleuchteten Wirtshäusern den Schritt ein wenig verzögernd. Aber zuhinterst folgte mit den Leuten von Giswyl und Lungern Heinrich Bürgler, der Landammann, überschaute die ganze Mannschaft, den Proviantwagen und das nachtrabende Schlachtvieh und sagte hie und da zum Zeugherrn und Kassenmeister Pirmin Ming: »Schnallt die Kiste fester an und gebet sie nicht vom Rücken, bis wir aus dem Luzernischen heraus sind.«

*           *
*

Drei Wochen später stolzierte oder stolperte der Tag der Zehntausend heiligen Ritter über den See und das zerschossene Murten wie ein Betrunkener in den Sonnabend hinein. Die zornige Schlacht hatte ausgetobt. Karl der Kühne floh Hals über Kopf auf irgendeiner einsamen Straße davon. In den vom Regen und mehr noch vom Blute nassen Wiesen sah man nur selten einen Arm oder ein Bein sich aus den Gräsern recken und elend wieder zurückfallen.

Im gleichen Gras am schmutzigen Merlacher Bächlein lag der Kreuzwirtsohn Theodor Götschi und schnappte mit aufgestülpter Nase nach Luft. Er fühlte schon nicht mehr recht, welcher Knochen ihm eigentlich zerschmettert sei. Des Sigristen Gert stand ungeschlacht und töricht neben dem Leutnant und ließ die dicke Lippe hangen.

»Da rührt sich noch einer«, lispelte der Verwundete. »Hau zu mit dem Kolben! . . . Willst du wohl dran! . . . Hü, hoi, die Hände aus dem Sack! Flink muß alles gehen.«

Gert machte ein Kreuz über seine niedrige Stirn und schlug dem Ritter den Schädel ein.

Etwas tiefer im Ried bei der Hübelischeuer lagen um Weidenstrünke herum die obern Dörfer Obwaldens, Giswyler und Lungerer, und verbanden ihre Verletzten so gut es ging mit kühlem Huflattich, wanden Binsen darum und knüpften die Wämser darüber zu. Mit seinem Schwager Künegger half Bürgler fleißig mit. Da sah er den Götschi oben an der Halde ausgestreckt mit schneeweißem Gesicht und schwarzen Nasenlöchern und trippelte rasch herzu. Ganz verschwitzt und verschafft, wie er war, glänzte doch immer noch sein fettes Antlitz von einer so pfiffigen Fröhlichkeit, daß einem wohltat, nur schon hineinzugucken. Er bückte sich lächelnd über den Erblaßten und erkannte sogleich, wieviel Uhr es da geschlagen hatte. »Schlaf ein wenig, Flinkeler, das ist jetzt das Gescheitere«, tröstete er und schuhte schnell von diesem unprofitabeln Platze weg. Eigentlich versteckte er eine große Wut hinter seinem Lächeln, weil die Entlebucher und die Stadtluzerner so einträchtig auf den Feldern beisammen lagerten. Aller Witz verließ ihn darob. »Wenn ich jetzt nur den einen herzitieren könnte, den Fuchs vom Ranft! Nicht den heiligen, den andern ohne Rosenkranz, den Fürchtemacher und Unkrautsäer. Hier gäbe es Bauernstolz zu säen und Junkerweizen zu mähen wie noch nie. . . .«

»Schlafen, sagt er. Nachher! Jetzt will ich trinken, ich verbrenne vor Durst«, flüsterte der Leutnant mit dem klirrenden »R« aller Götschi. »Wenn das die Mutter wüßt', . . . die im Keller so guten Wein hat . . . und ich nicht einen Tropfen rechtes, lauteres Wasser! . . . Du, Gert, hat der Burgunder keine Feldflasch? . . . Also denn! . . . Der trinkt doch nicht mehr daraus. . . . Hei, wie das wohl tut! . . . Tiefer halten, tiefer! Hü, hoi, flink muß alles gehen!«

Eine Viertelstunde lag er dann ruhig, die blauen Knabenaugen, die immer noch blauer wurden, in den Himmel versenkt, der auch immer tiefer blaute. »Cheib«, hauchte er noch mit der letzten Ungeduld seines Blutes und wollte sich aufrichten, »wo bin ich denn blessiert? . . . Du, Sigristenbub, lupf mich auf! . . . Erst aber sag mir das Gesätzlein vor . . . weißt, das wir Sachsler beten, wenn der Bach übers Dorf kommt oder die Laui am Stuckliberg hängt . . . flink! . . .« Schweißtropfen wie große, helle Kristalle hingen ihm am Flaum.

Gert zerrte am Oberläppchen und stotterte und buchstabierte: »Herre Christ . . . sei mir . . . sei mit mir . . .«

»Hü, hoi . . . und was . . . und . . .?«

»Und . . . ich spei . . . in die Händ' . . . und . . .«

»Flink, flink . . . muß alles gehen . . . spei in die Händ' . . . So! . . . oh, das ist ja Blut . . . schau, wieviel! . . . Hü, hoi . . . flink . . . flinker . . .« Er zuckte zusammen, steifte die Knie und wurde plötzlich still.

Das wächserne Näschen neugierig gegen den Abendstern gespitzt, lag er da in seinem schönsten, heiligsten Saft, wie ein Stück Schnee mitten in Rosen oder eine weiße, stille Wolke im Abendrot.

»Stirb mir nicht!« heulte der Sigristenbub entsetzt. »Und ich spei in die Händ' und vollbring's . . . so ist das Gebet . . . Herrgott, er wird kalt. . . . Aber jetzt . . .«

Wie unsinnig spuckte der große Kerl in die Faust, schwang den Säbel und sprang unter die Burgunderleichen. »Wer ist noch nicht tot, wer?« drohte er. Und er mußte in all der Verwesung seinen linkischen und doch so unversehrten und frischen Leib anstaunen und fragen: »Herrgott, die fallen um und verderben wie Fliegen. Doch mir hat seit den Ohrfeigen vom Vater niemand ein Haar gekrümmt. Ist das gut? . . .«

Um die gleiche Stunde saßen etliche Luzerner am Zaun, der vom Zigerli zum hintern Prehl geht, scheuchten mit den Haselruten die Seemücken von den blutigen Kleidern und lallten wie schlaftrunken vor Müdigkeit. Da saß auch der Entlebucher Landeshauptmann pflichtschuldig neben den Herren am Rhyn, von Wyl, Sonnenberg, den Pfyffern, Zoger und Schürpf. Diese Aristokraten hatten großartig gefochten, auch Philipp Eduard, der puppenhaft zarte und hübsche am Rhynsohn, der sich jetzt scheute, ins feuchte Gras zu sitzen, und seine dünnen Beine auf dem Kittel eines Willisauer Knechts ausstreckte. Sein Haar klaffte in einem breiten Schwerthiebe über dem Wirbel auseinander, war aber gegen die Ohren hinunter wieder sorgsam gestrichen und gesalbt. Es duftete nach burgundischen Pomaden. Der Amstalden riß und stopfte immer frisches Gras in den Hemdlatz. Ihm war von einem savonischen Degen die rechte Brustwarze weggesäbelt.

Endlich trug ein Senne die längst bestellte Milchsuppe her, und alle schöpften mit den gleichen hölzernen Kellen, nur Philipp Eduard hatte einen silbernen Löffel.

»Wohl bekomm's allen zusammen!« segnete Gerold Pfyffer. »Das schmeckt nach der Hasenjagd.«

Dem Amstalden stieg es halb ernst, halb spaßig auf die Zunge, und er mußte herausstoßen: »Nun trinken wir doch einmal aus einem Napf und von einem Geköch, ihr Herren und wir Bauern. Schmeckt also die Milch sauer? Süßer, mein' ich. Guten Appetit, ihr Junker, auch zum gleichen Braten und Kuchen. Denn bald strecken wir unverschämte Bauern die Arme noch viel weiter.«

Der alte am Rhyn zog die Brauen tief, aber der junge ließ den Löffel in die Schüssel fallen, sprang auf und schrie: »Dann sauf ein anderer weiter! . . . Aber, paßt auf, Vater, das ist wieder der Peter, der alte Schimpfer von Schüpfheim.«

»Jetzt hättest du bei einem Haar die schöne Milch versaut«, antwortete Amstalden barsch. Er fischte den Silberlöffel heraus und warf ihn weit über die Köpfe ins Ried. Da ging auch der alte am Rhyn weg. »Nun aber trinken wir weiter«, ermunterte Peter gutmütig und schöpfte gewaltig heraus. Denn nie hatte ihm der Milchbrei so gut gemundet, nicht einmal der fette von seiner Alp bei Sörenberg, und hier war doch mit wenig Butter, aber mit viel Wasser vom Prehlerbächlein gekocht worden.


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