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Vierzehntes Kapitel.

In dem Zimmerchen des »Hotel Firenze« lebte Irma, von einem heftigen Fieber erfaßt, einige Tage lang dem Tode näher als jemals. Während Flavio nicht weit von ihr, mit dem letzten Gedanken an sie gerichtet, starb, irrte die Arme dank der Großmütigkeit des Leidens, das sie gepackt hatte, im Reiche des Traumes. Da sah sie wenige gute Menschen, die von Turin und aus anderen fernen Städten gekommen waren, um ihr Gesellschaft zu leisten, aber sie erblickte auch das verhaßte Trugbild Fritz Neumüllers, der auch im Tode noch nicht gesättigt schien und sie quälte.

Ein Arzt, der die Kranke untersuchte, stellte die Diagnose fest und prophezeite, daß die Heilung innerhalb einer Woche erfolgen werde, falls keine Komplikation eintrete. Es sei ein rheumatisches Fieber, das mit schweißtreibenden Mitteln und mit Chinin behandelt werden müsse.

Der von dem Äskulapjünger angegebene Termin war noch nicht erreicht, als sich Irma eines Morgens genesen fühlte, aber sofort in eine andere Verzweiflung verfiel. Was war aus Flavio geworden? Vergeblich versuchte sie aber aus dem Bette sich zu erheben, sie war zu schwach dazu.

In ihrem Gedächtnis forschte sie nach den Ereignissen der jüngsten Vergangenheit. Sie erinnerte sich, ihre Koffer nach dem Bahnhof geschickt zu haben, und suchte nun in ihrem Geldtäschchen nach dem Gepäckschein. In diesem Augenblick klopfte es an der Tür, und die Wirtin trat ein und übergab ihr einen Brief, der an jenem Tage gekommen war, an welchem Irma von dem Fieber befallen worden war. Sie warf einen Blick auf das Kuvert und erkannte sofort die Schriftzüge Flavios. Ein Strahl der Hoffnung leuchtete ihr. und sie fragte, ob der Brief gestern angekommen sei. Die Wirtin verneinte dies und sagte, daß der Brief schon vor sechs Tagen vom Briefträger gebracht worden sei.

Irma öffnete ihn. und schon bei den ersten Worten, die sie las, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie bat die Wirtin, sie allein zu lassen, und dann las sie weiter, ohne sich die Augen zu trocknen, so daß die Tränen auf das schicksalsschwere Blatt fielen. Der Brief lautete:

 

»Meine Irma!

Wenn Dein Glauben echt und wahr ist, werde ich Dir nahe sein, wenn Du dieses Blatt lesen wirst.

Denn wenn die kühne Flucht, die unsere Herzen einander nahe bringen soll, nicht gelingen sollte, so werde ich dem verhaßten Leben, das mir bevorsteht, ein Ende machen, indem ich mir die Pulsadern öffne. Dann wird mein Geist wenigstens frei sein und Tag und Nacht die Liebe in Deinen schönen Augen suchen.

Aber wenn unser Traum in Erfüllung geht, werden wir eines Tages lächelnd diese furchterfüllten Zeilen lesen, die ich nach und nach im Amtszimmer geschrieben habe, und die ein Diener, der die Schuhe der Strafhausarbeiter an die Fabrikanten abzuliefern hat, in jener Stunde, in der ich die Flucht versuchen werde, in den Briefkasten werfen wird. Wenn sie nicht gelingt, so soll Dir mein Schreiben darüber Gewißheit geben, daß ich bereits tot und begraben bin.

Kümmere Dich nicht um meinen Leichnam, der ja schon im Leben nur mehr eine Nummer war und im Tode den verhaßten Namen tragen wird.

Sei stark in Deinem Glauben und suche nicht freiwillig den Tod. Lebe, um mich noch zu lieben. Deine Kunst wird Dein Trost sein.

Lebe und liebe Deinen Flavio, der Dich erwartet.«

 

Irma trocknete ihre Tränen. Ein Gedanke stieg in ihr auf: vielleicht war Flavio doch nicht tot. So nahm sie ihre ganze Kraft zusammen und begab sich in das Strafhaus. Dort wollte sie mit dem neuen Direktor sprechen, der sie aber nicht empfing. Sie wurde nur zum Vizedirektor zugelassen, der sie aufforderte, Platz zu nehmen und nach ihrem Begehren fragte.

»Ich bin die Witwe Flavio Campanas,« begann Irma, »und möchte wissen, ob mir Nr. 800 in diesen letzten Tagen geschrieben hat.«

»Nr. 800 ist tot,« sagte der Vizedirektor in unfreundlichem Tone und erinnerte sich hierbei mit großem Ärger an die böse Nacht, die ihm diese Nummer verursacht hatte.

Irma wurde durch eine unsichtbare Kraft aufrechterhalten, und ihr bleiches Gesicht veränderte keine Miene. Der Vizedirektor fuhr fort: »Was für einen Ärger hat uns dieser Mensch bereitet!«

»Was hat er denn getan?« wagte Irma mit schwacher Stimme zu fragen.

»Er wollte fliehen, seine Berechnungen wurden ihm aber durch ein zweites Eisengitter in der Mitte des Kanals durchkreuzt. Dann kam das Gewitter, und die enge Straße, die er sich zur Flucht gewählt hatte, wurde überflutet. So ertrank er.«

Irma antwortete nichts. Die Überzeugung, daß Flavio keinen Selbstmord begangen, sondern eines natürlichen Todes gestorben sei, schien ihr eine Art Trost.

Der Vizedirektor sagte ihr noch, sie möge sich, falls sie nähere Auskünfte haben wolle, an das Gemeindeamt wenden. Dort werde sie auch die Nummer des Grabes erfahren.

Irma folgte dem Rate und fand Nr. 1213. Auf den frischen Erdschollen des Grabes weinte sie heiße Tränen und pflanzte auf ihnen ein Immergrün.

In jener Nacht hatte sie, bevor sie die Augen schloß, nur einen Wunsch, nicht mehr zu erwachen. Doch er ging nicht in Erfüllung.

Oft noch betete sie für den teuren Toten. Und immer wieder wurde vor dem Schlafengehen in ihrem Herzen der Wunsch lebendig: »Herr der Barmherzigkeit, lasse mich sterben, vereinige mich mit meinem Flavio! Herr der Barmherzigkeit, erfülle bald mein Sehnen!«

Und eines Tages stieg die Barmherzigkeit vom Himmel und erlöste sie von ihrem Leben.

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Berliner Buchdruckerei-Aktien-Gesellschaft


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