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Elftes Kapitel.

Von diesem vertraulichen Geständnis machte Frau Caterina einen sehr vorsichtigen Gebrauch. Einiges teilte sie ihrem Gatten mit, anderes verschwieg sie ihm, damit er es erraten könne. Zum Beispiel sagte sie ihm nicht, daß das Gericht einen Toten verurteilt und einen Lebendigen begraben habe, aber der Direktor verstand es trotzdem. Und von der neuen Tatsache, die durch den Stand der Dinge geschaffen wurde, war an jenem Tage mit keinem Wort die Rede.

Es trug sich aber ein unverhofftes Ereignis zu, an besten Möglichkeit niemand mehr gedacht hatte, nämlich, daß gerade an dem Tage nach den Enthüllungen Irmas von Rom ein Erlaß anlangte, durch den Herr Felice nach Turin versetzt wurde. Das Ministerium des Innern hatte sich endlich seines alten Wunsches erinnert und ihn betraut, das Strafhaus »La Generale« zu leiten, und so dessen verderbten Insassen in dem neuen Direktor einen zweiten Vater gegeben, der sie ihre Pflicht lehren und auf den Weg des Guten zurückführen werde.

Die Freude über die Ernennung läßt sich schwer beschreiben. Herr Felice umarmte Frau und Kind, und beinahe traten ihm die Tränen in die Augen, wenn er an die Superga und die anderen Hügel in der Umgebung von Turin, an die Dora und den Po, an die Bogengänge und Zwiebackstangen der piemontesischen Hauptstadt dachte. Und doppelt zufrieden war auch Frau Caterina, deren jüngere Schwester in Turin verheiratet war, und die nun mit ihr jeden Tag auf den Markt von Porta Palazzo gehen würde, um dort alle Waren um weniges Geld einzukaufen und so Schätze anzuhäufen. Aber die Freude verdüsterte sich plötzlich bei einem Gedanken, der beiden Gatten gleichzeitig gekommen war. Was sollte mit der armen Irma und mit Nr. 800 geschehen? Manchmal hat das Glück zwei Gesichter, ein lachendes und ein weinendes, oder vielmehr eines, das andere weinen macht. Darum sollte jemand, der ein Herz hat, nicht allzulange lachen.

Gerade also, als Frau Caterina den Vorsatz gefaßt hatte, möglichst zu schweigen, falls ihr dies gelänge, mußte sie alles ihrem Manne sagen, der nunmehr alles wußte. Aber auch dem unglücklichen Flavio mußte das neue Unglück, das über ihn hereingebrochen war, offenbart und mit ihm zusammen ein Mittel gesucht werden, das ihn gegen die Folgen dieses Ereignisses schützen könnte.

Flavio sah in der Versetzung seines edlen Wohltäters nach Turin für sich eine zweite Verurteilung, Irma dagegen bloß eine neue Prüfung des Schicksals, der sie mit jener naiven Gläubigkeit zu widerstehen entschlossen war, mit der die Frau den Kalvarienberg erklimmt. Auf seinem Gipfel erblickte sie die Entsagung, während Flavio nur in dem Tode die Befreiung sah.

Er weigerte sich noch, alles einem Rechtsanwalt anzuvertrauen, der die Wiederaufnahme des Prozesses durchgesetzt hätte. Aber dem Direktor, von dem er sich ja in Bälde trennen sollte, und seiner seelenguten Gattin wollte er nichts verschweigen, und so erzählte er den ganzen Vorgang.

Sie hatten London verlassen und waren auf dem Seewege nach Antwerpen gekommen. Noch schienen sie durch die Bande der Freundschaft verbunden, wenn auch Fritz etwas schweigsamer war. Flavio ließ in seinem Gemütszustande nicht die schweren Sorgen um Irma erkennen, sondern war sogar heiterer als gewöhnlich, da er wußte, daß am Ende seiner Qual die geliebte Frau wieder ganz und gar ihm gehören werde. Auch sah er den Vaterfreuden wie einem unerwarteten Feste entgegen.

Kaum waren sie in Antwerpen angelangt, reisten sie nach Köln weiter und von hier nach Hamburg. Bremen und Hannover. In jeder dieser Städte gab Flavio Campana ein Konzert. Am 25. Juni produzierte er sich in Berlin und erzielte einen außerordentlichen Erfolg. Nach einem kurzen Aufenthalt in Heidelberg begaben sich die beiden nach der Schweiz. Für den 15. Juli war ein Konzert im Kursaal von St. Moritz angekündigt, sie hatten also genug Zeit, das Veltlin teils zu Fuß, teils im Wagen zu durchwandern. Von einem deutschen Vergnügungsreisenden war ihnen geraten worden, die Reiseroute zu ändern und die Koffer mit dem Postwagen direkt nach St. Moritz zu senden, sich selbst aber über den Malojapaß dorthin zu begeben. Der treulose Freund hatte diesen Plan befürwortet und Flavio ihn angenommen, da ihn die Kühnheit eines Planes immer lockte. Fritz besorgte die beiden Führer, die sie über den Monte della Disgrazia nach dem Malojapaß begleiten sollten. Er führte auch immer die gemeinsame Kasse, während Flavio bloß ein wenig Scheidemünze zur Verteilung an Bettler bei sich zu tragen pflegte.

Bis dahin hatte sich Flavios Gemütszustand nicht geändert. Er schien derselbe naive und treue Reisegefährte Fritz' zu sein, der seinerseits recht sparsam war, um die Summe, welche die gemeinsame Kasse enthielt, zu schonen.

Auf dem Gang des Postgasthofs von Sondrio war noch heller Tag, obgleich die Wanduhr und gleichzeitig mit ihr die Turmuhren der Stadt schon acht Uhr geschlagen hatten. Flavio war allein im Zimmer zurückgeblieben. Zufällig fiel ihm ein Hemdknopf auf die Erde. Er bückte sich, um ihn aufzuheben und bemerkte zu seinem Erstaunen auf dem Boden zwei Briefe und eine Photographie. Die Briefe waren an Fritz Neumüller gerichtet, das Bild zeigte Irma. Auf der Photographie war mit Bleistift geschrieben: »Meine Irma, 26. März 1878«.

Die Schriftzüge waren unzweifelhaft die seines Freundes. Und was weiter? War das nichts Auffälliges? In seiner Verwirrung warf Flavio die Briefe wieder zu Boden, steckte aber das Bild in seine Tasche, als sollte die Nähe des Herzens den Haß nähren. Was würde er dem falschen Freunde sagen, wenn er ihm jetzt entgegenträte? Konnte er ihm noch lächelnd die Hand drücken und seine Stimme hören, ohne sich auf ihn zu stürzen? Nein, sicherlich nicht!

Er zog rasch seine Reisejacke an und eilte aus dem Zimmer, bevor noch Fritz zurückkam, und dann lief er durch die Straßen von Sondrio, ohne aber nur einen Blick auf die Häuser zu werfen. So befand er sich zweimal gegenüber dem Bahnhof und zweimal vor dem Gasthof, und immer noch setzte er seine Wanderung fort, als wollte er vor sich selbst fliehen. Mit seinem Schmerz allein irrte er durch die verlassenen Gäßchen und durch die Hauptstraße des Städtchens, bis er seine Häuser hinter sich hatte und über dunkle Fußpfade dahineilte. Hier und da hörte er die Turmuhren die Stunde verkünden, ohne daß er auf ihre Stimme achtete. So waren zwei Stunden vergangen, und endlich hatte er einen festen Entschluß gefaßt, mit dem er sicheren Fußes die Schwelle des Gasthofes überschritt. Höflich erwiderte er den Gruß des Wirtes, der ihm gute Nacht wünschte.

»Gute Nacht!« rief Flavio seinem Reisegefährten zu, indem er an die Tür des Nebenzimmers klopfte. Fritz hatte vielleicht schon geschlafen, wachte aber sofort auf. Flavio fragte ihn, ob alles bereit sei, und erhielt eine bejahende Antwort. Es wurde vereinbart, um vier Uhr früh aufzubrechen, und dann riefen sie einander noch einmal »gute Nacht« zu.

Flavio war ruhig geworden. Eine ganze Stunde widmete er der Ordnung seiner Angelegenheiten. Er schrieb seinen letzten Willen nieder, indem er ihn an seine unglückliche Gattin richtete. So hatte er die Nacht schlaflos gesessen, und als der Morgen erschien, brachte er das Bett in Unordnung, damit es nicht auffalle. Dann schloß er den Brief an Irma in seine Brieftasche. Während er vorsichtig seine Pistolen prüfte, klopfte der Kellner an der Tür. Flavio antwortete, daß er schon wach sei.

Er fühlte sich vollkommen Herr seiner selbst und trank mit scheinbar gleichgültiger Miene eine Schale Kaffee. Die Führer waren bereit, Fritz zahlte die Rechnung, und man brach auf. Flavio ging voran, solange der Weg so deutlich war, daß man ihn nicht verfehlen konnte. Hier und da wandte er sich um und ließ sich von den Führern bestätigen, daß er auf dem rechten Wege sei. Um Fritz kümmerte er sich nicht.

Als der Augenblick gekommen war, blieb er auf dem Schneefelde stehen, erwartete den Reisegefährten. packte ihn beim Arm und zog ihn, weit ausschreitend, mit sich. Dabei sprach er eine seltsame Sprache, in der er ihn aufforderte, ihm Erklärungen zu geben. Fritz, der darauf nicht vorbereitet war, wollte, als er von dem verlorenen Bilde hörte, seine Brieftasche herausnehmen, aber Flavio rief ihm zu: »Du suchst vergeblich; ich habe das Bild hier.«

Jetzt war Fritz besiegt. Tiefe Blässe überzog sein Gesicht und er schwieg, um nicht durch seine zitternde Stimme sich zu verraten. Flavio schlug ihm nun das Duell auf dem Schneefelde vor, die Pistolen waren bereit, ebenso auch die Munition, und das Duell sollte nicht früher enden, bevor nicht einer tot sei. Fritz hatte nicht angenommen, aber er schien sich auch nicht zu weigern, so daß das Duell vereinbart war.

Nunmehr ging Flavio den Führern entgegen und forderte sie auf, Zeugen des Zweikampfes zu sein. Als sie sich weigerten, bestand Flavio auf seinem Verlangen. Diese aber blieben fest und kehrten um. Flavio folgte den Führern eine Zeitlang mit den Blicken, ohne Fritz anzusehen, der die Waffe in der Hand hielt und am ganzen Leibe zitterte. Als er aber sah, daß der Feigling, der seine Frau beleidigt hatte, sein Heil in der Flucht suchte, verfolgte er ihn mit stummer Drohung.

Endlich hatte er ihn erreicht, als Fritz die Pistole erhob und Flavio stehenblieb. Die Kugel traf ihn aber nicht, sondern schlug, wenige Schritte von ihm entfernt, in den frischen Schnee ein. Jetzt wandte sich Fritz wieder zur Flucht. Flavio verfolgte ihn, schoß ab, und Fritz stürzte, getroffen, nach vorn. Flavio näherte sich ihm, und da er noch nicht tot zu sein schien, schoß er ihm noch eine Kugel in das treulose Gesicht.

Es unterlag wohl jetzt keinem Zweifel mehr, daß Fritz Neumüller wirklich tot war und für immer stumm wie die Tannen und die Fichten auf den Bergen und im Tale. Leblose Stille herrschte ringsumher. nicht einmal die Krähen gaben auch nur den geringsten Laut von sich. In dieser tiefen Gletscherstille setzte sich Flavio auf einen Felsblock. War er mit seiner Tat zufrieden? Ja, er war es. Keine Reue drückte ihn. Hätte er die Tat nicht vollbracht, wäre er entschlossen gewesen, sie zu vollbringen. Er bedachte aber, daß binnen kurzem von Chiesa oder von dem nächsten Gehöft Leute herbeikommen würden, da ja die Führer sicherlich nicht geschwiegen hätten. Sollte er sich dann wie ein Nichtswürdiger festnehmen und in den Kerker werfen lassen, ohne daß ihm seine und seiner Gattin Verteidigung möglich wäre? Flavio überlegte, und der erste Gedanke war der, daß der Freund das ganze Geld bei sich trage, es aber nicht mehr brauchen könne, während ein Lebender, besonders wenn er sich nicht verhaften lassen wollte, nicht mit leerer Brieftasche durch die Welt ziehen könne.

So trat er denn zu dem Leichnam, suchte in den Taschen und hatte keine Furcht vor dem stieren Blick, der jetzt das Auge seines Mörders zu suchen schien. Er nahm die Brieftasche aus dem Rock des Toten, hatte aber dann eine andere Idee. Er dachte, die Leute würden, wenn der Leichnam des Geldes beraubt gefunden würde, mutmaßen, der Mord sei aus gemeinen Motiven erfolgt. So war Flavio zu dem Felsen zurückgekehrt und dachte daran, seine eigene Brieftasche dem Toten in den Rock zu stecken. Aber dann stieg ein dritter Gedanke in ihm auf. Eine lange Schar von traurigen und grausamen Vorstellungen hielt ihn auf dem Felsblock zurück. Nachdenklich wie ein Philosoph saß er da, und beinahe war er schon entschlossen, sein schweres Schicksal zu tragen und sich als Mörder zu stellen. Der Wechsel der Brieftaschen schien eine einfache Sache, wenn die Visitenkarten Flavio Campanas nicht in der Tasche des Toten gelassen würden und vor allem auch nicht das Porträt Irmas, das ihm der Zufall in so seltsamer Weise in die Hände gespielt hatte. Doch wenn man auch den Toten für Flavio Campana hielt, was lag ihm jetzt daran, Fritz oder Flavio zu sein? Für die Gesellschaft waren beide tot. Ja, es war sogar besser, wenn die Leute meinten, Fritz Neumüller sei der Mörder und der Dieb. So könnte er eine Art Rache nehmen, die einzig sichere Form der irdischen Gerechtigkeit.

Er blieb noch immer auf dem Stein sitzen und dachte nach. Plötzlich bemächtigte sich seiner eine Idee, die viel stärker war als alle anderen Gedanken, die ihn unwiderstehlich trieb, ihr zu gehorchen. Er näherte sich dem Leichnam ein zweites Mal, öffnete seine eigene Brieftasche, küßte das Bild seiner von solchem Unglück heimgesuchten Lebensgefährtin, sah dann alle Papiere, die sich in der Brieftasche befanden, durch, legte sie wieder hinein und steckte die Brieftasche in den Rock des Toten.

Auf dem Schnee neben dem Leichnam lag die Pistole, von der Fritz einen so schlechten Gebrauch gemacht hatte. Flavio nahm sie und kehrte zu dem Felsen zurück, um noch einmal nachzudenken. Der Gedanke, der ihn mit solcher Stärke erfaßt hatte, war folgender: Irma gegenüber den Anschein zu erwecken, daß er tot sei, damit die Arme nicht den Schmerz erleiden sollte, einem Wesen das Leben zu geben, das nicht ihrer Liebe entsprossen sei. Wenn der beleidigte Gatte unter der Erde lag und sein Mörder hinter Kerkermauern saß, so könnte jene unschuldige Kreatur das Recht erlangen, geliebt zu werden. Das künftige Kind werde dann vielleicht von der Mutter die Liebe zu seinem Vater, der es nicht sei, lernen und zugleich in Fritz Neumüller den Mörder seines Vaters hassen.

Diese schrecklichen Bilder quälten sein armes Gehirn, das nicht weiter überlegen wollte. Doch im letzten Augenblick kam ihm ein anderer Gedanke: sich zu retten und als Fritz Neumüller weiterzuleben. Doch nein! Diese Idee verwarf er und eine andere drängte sich ihm auf. Wenn es ihm gelang, in ein fernes, fernes Land zu kommen und dort in der Kunst Vergessenheit zu finden? Aber konnte er alles vergessen? Irma wäre immer in seinem Gedächtnis geblieben, sie, die ihren Gatten beweinen, Fritz Neumüller geflüchtet glauben und so den größten Schmerz empfinden würde.

Wahnsinn drohte ihn zu erfassen. Zweimal kehrte er noch zu dem Leichnam des Unglücklichen zurück, der im Schnee beinahe begraben war. Er wollte ihm das Bild Irmas wegnehmen. Dann änderte er seine Gedanken, indem er die Möglichkeit erwog, daß er in jedem Augenblick verhaftet werden könnte, und daß die unschuldige Irma, wenn das Bild bei dem Mörder Flavios gefunden würde, neue Kränkungen zu erleiden hätte.

So waren zwei Stunden vergangen, und er stand noch immer da. als er vom Tale her Leute kommen sah.

»Jetzt werden sie,« so sagte er zu sich selbst, »die Brieftasche und meine Visitenkarten, sowie auch das Bild Irmas finden und glauben, daß der Tote Flavio Campana, ich also mein eigener Mörder sei. Auch Irma soll es glauben. Es ist so besser! Wenn sie mich verhaften, so werde ich als Fritz Neumüller verurteilt werden, und der Name Flavio Campana wird rein und ohne Makel bleiben. Wenn ich mich retten kann, so werde ich mich vielleicht eines Tages Irma entdecken, und wir werden das bißchen Glück in irgendeinem weit abgelegenen Erdenwinkel verbergen. Das Unglückskind wird niemals erfahren, wer sein Vater gewesen, und meinen ehrlichen Namen tragen. Es wird mich Vater nennen, und das wird meine Rache für den Verrat seines Vaters sein.«

Die Leute kamen immer näher. Flavio steckte die beiden Pistolen in seine Tasche, stützte sich auf seinen Alpenstock, sprang über einen Graben, sprang dann über die Steine, die aus dem Schnee herausragten, und entfernte sich so auf einem anderen Wege, als er gekommen war. Als die Nacht hereinbrach, kehrte er auf weiten Umwegen nach dem Tal des Malleroflusses zurück.

Die schwarzen Fluten schienen ihn einzuladen und ihm zuzurufen: »Komm zu uns! Hier findest du Ruhe und Frieden!«

Flavio folgte ihnen aber nicht, sondern warf ihnen nur die Pistole des Toten zu.

Und weiter ging es dann nach Sondrio und nach Colico und dann nach Como. Eine Nacht hatte er in einem Wirtshause in Varenna verbracht und war am anderen Morgen in einer Barke nach Bellagio gefahren. Er hatte immer mit seinem Gelde, das er aus der Brieftasche des Toten genommen hatte, bezahlt und reichliche Trinkgelder gegeben, so daß ihn die freundlichen Grüße der Kellner stets begleiteten. Sein Touristenanzug erweckte nirgend Verdacht, aber auf dem Bahnhof in Como sah ihn ein Gendarm und verhaftete ihn. Den Rest seiner Erlebnisse kannte man ja. Er hatte sich vorgenommen, vor Gericht kein Wort zu sprechen, in welcher Weise er auch befragt würde. Darum habe er sich auch geweigert, etwas Schriftliches von sich zu geben. Erst die Verlesung der Zeugenaussage Irmas hatte ihn aus seiner Ruhe gebracht. Als es in dieser hieß, daß die Witwe des Flavio Campana infolge einer Fehlgeburt krank sei, hatte ihn ein Weinkrampf erfaßt und er mußte die Zähne und die Lippen zusammenbeißen, das Gesicht aber mit den Händen verbergen.

Er hatte nicht daran gedacht, daß die Photographie des Leichnams, die Irma gezeigt worden war, ihr die Gewißheit gegeben hatte, daß der Tote Fritz Neumüller und nicht Flavio Campana sei. Als im Laufe der Verhandlung festgestellt worden war, daß Irma Campana den Toten als ihren Gatten erkannt hatte, da wurde er von Freude und Schrecken gleichzeitig erfaßt. Irma konnte den geheimen Gedanken, den Flavio allen anderen verbarg, erfaßt haben, um ihn in seiner Rolle zu unterstützen. Oder aber Irma hatte, von dem starken Blutverlust und von der seelischen Aufregung geschwächt, nichts verstanden und war nicht imstande gewesen, Wahrheit von Irrtum zu unterscheiden. Schließlich hatten beide Freunde lange Locken und unbärtige Gesichter.

Es war doch eine eigenartige Ironie des Schicksals. Eben noch hatte der Angeklagte keinen anderen Wunsch gehabt als die Verurteilung, um seinen Namen aus der Welt getilgt und in eine Nummer verwandelt zu sehen. So würde Irma, die unglückliche Mutter, ein wenig Frieden in der Liebe zu ihrem Geschöpfe finden und seiner, den sie im Grabe wähnte, pietätvoll gedenken, zugleich aber während ihres ganzen Lebens den Räuber ihrer Ehre und Liebe hassen.

Jetzt erfuhr er aber, daß Irma keine Mutterpflichten mehr hatte. Wie gern wäre er jetzt zu ihr geeilt, um ihr zu sagen: »Mut, mein armes Lieb! Ich lebe und liebe dich!«

So wahnsinnig war seine Sehnsucht, daß er sich beinahe verraten und alles den Geschwornen enthüllt hätte. Wenn er aber die Zeugenaussage Irmas zerstörte, was bliebe der Gerechtigkeit noch übrig? Einem Angeklagten glaubt man wenig. Eine so unwahrscheinliche Versicherung hätte man gewiß angezweifelt. Die Gerichtsverhandlung wäre unterbrochen worden, um neue Nachforschungen anzustellen. Noch einmal hätte sich der Londoner Gerichtsbeamte an das Bett Irmas begeben, um ihr in höflicher Weise mitzuteilen, daß ihr Gatte nicht ermordet worden sei, sondern daß er lebe und sich so wohl befinde, wie sich eben ein Mörder, der seine Verurteilung erwartet, wohl befinden könne. Eine solche Mitteilung hätte Irma den Tod gegeben und daher mußte Flavio Campana seine Rolle weiterspielen und schweigen.

So war dank dem Schweigen des Angeklagten, dem Geschwätz der Sachverständigen und der Zeugen die Tragödie zu ihrem Schlusse gelangt.

Kaum war Flavio verurteilt worden, so fühlte er sich wie befreit. Von dem Geld, das ihm geblieben war, ließ er nur ganz wenig für sich zurück und bestimmte, daß der Rest der Witwe des Flavio Campana im Namen des Fritz Neumüller geschickt werde, ohne weiteres hinzuzufügen.

Als diese Sendung ohne irgendeine Antwort blieb, hatte Flavio gedacht, daß Irma noch krank sei, und in seiner Einbildungskraft sah er die Sterbende in Erwartung eines tröstenden Wortes. Darum hatte er von dem Direktor die Erlaubnis verlangt, an Irma mit den ihr wohlbekannten Schriftzügen zu schreiben und Nr. 800 zu zeichnen. Dieser einfache und mitleidsvolle Brief war in den Kerker zurückgekehrt, weil die Adressatin abgereist war, ohne anzugeben, wohin.

Und dann war Irma zu ihm gekommen. Als sie ohnmächtig in der Kanzlei des Direktors dalag, hatte er sie zum ersten Male wiedergesehen. Doch ein schwerer Zweifel hatte sich in ihm geregt. War sie seinetwegen gekommen oder wegen des anderen? Irma war aufgewacht und hatte sich mit heißer Liebe an seine Brust geworfen.


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