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Fünftes Kapitel.

Bald begann für Fritz Neumüller, der sich dem Wunsche seines Rechtsfreundes, beim Kassationshof Berufung einzulegen, widersetzt hatte, der Frieden des Gefängnisses, freilich kein freundlicher Frieden, da ja, wie sich der Gefängnisdirektor ausdrückte, der lebendig Begrabene sich immer zwischen Hoffnung und Verzweiflung wiegt.

An einem Dezembermorgen wurde der Mörder Flavio Campanas, von zwei Carabinieri begleitet, aus dem Untersuchungsgefängnis in das Strafhaus von Porta Nuova gebracht, in das von dem nahen Hauptbahnhof her die schrillen Pfiffe der Lokomotiven dringen, als wollten sie die dort Eingeschlossenen an das Getümmel des Lebens, in das die Unglücklichen vielleicht nie mehr zurückkehren sollen, höhnend erinnern.

Dem neuen Insassen war bereits der Ruf vorausgegangen. Der Direktor, der Sekretär, die anderen Beamten, der Kerkermeister und sogar die Gefängniswächter erwarteten neugierig jenen schweigsamen Unmenschen, der seinen Freund und Kunstgenossen so schlecht behandelt hatte und sich verurteilen ließ, ohne auch nur den Mund aufzutun, um seine schwere Schuld zu mildern.

Der Gefängnisdirektor war der beste Mensch, den es auf Gottes Erde gab, und trotz seines peinlichen Amtes, ein Strafhaus zu leiten, von außerordentlicher Liebenswürdigkeit. Er verglich seine Anstalt mit einer Baumschule, in der es gute und böse Pflanzen gab. Seine ganze Sorge widmete er den Zöglingen, und selbst die ärgsten Spitzbuben, die ihn anfänglich mit scheelen Blicken betrachtet hatten, wurden sanft wie die Kinder, nachdem sie in das einzige Auge, das ihm geblieben, geschaut hatten. Mit diesem einen Auge sah der gute Herr Felice gar verborgene Dinge.

»Du hältst dich für schlecht,« sagte er einmal zu einem Sträfling, der ein grauenhaftes Verbrechen begangen hatte, »aber schaue in dein Inneres und du wirst dort noch etwas Gutes finden. In einem unglücklichen Augenblick bist du auf die Bahn des Lasters geraten. Du kannst noch immer auf den Weg des Rechten zurückkehren.«

Der Angeredete hörte schweigend zu und blieb allen guten Ermahnungen gegenüber unempfindlich. Als er aber zu dem Direktor aufschaute und bemerkte, wie aus dem blinden Auge eine Träne träufelte, da kreuzten sich die bösen Blicke mit den guten, die aus dem Auge des Direktors kamen, und nahmen etwas von seiner engelhaften Milde an.

»Du bist hier wegen eines Diebstahls,« sagte er zu einem alten Manne.

»Ich hatte Hunger und deswegen stahl ich. Sie haben mich erwischt, und da setzte ich mich zur Wehr ...«

»Und dabei hast du auch getötet.«

»Ja, das habe ich, weil mir die Freiheit über alles geht. Auch jetzt möchte ich am liebsten ausreißen, wenn die Türen nur nicht gar so fest verschlossen wären.«

»Wenn ich dir nicht wohlwollte,« antwortete der Direktor, »würde ich deinen Wunsch erfüllen. Aber was würde mit dir geschehen? Man würde dich wieder einfangen und deine Strafe verlängern. Wie viele Jahre fehlen dir noch?«

»Sechs Jahre,« seufzte der Greis, »und wer weiß, ob ich noch so lange lebe.«

Das blinde Auge des Direktors weinte eine Träne, und der alte Sträfling schwieg, von so viel Herzensgüte gerührt. Jeder der Insassen der Strafanstalt von Porta Nuova fühlte die reine Herzensgüte dieses edlen Mannes. Sogar diejenigen, die selbst im Kerker ihre herrschsüchtige Natur nicht verleugnen können und durch ihre Willenskraft auf ihre Mitgefangenen einen großen Einfluß ausüben, respektieren in dem Direktor den guten und gerechten Menschen.

Wenn ein Gefangener sich weigerte, die Suppe zu essen, wenn der Kerkermeister vergeblich versuchte, eine in den Werkstätten ausgebrochene Meuterei zu bändigen, wenn ein ungeduldiger Gefängniswächter mit der Strafzelle droht und dadurch erst recht den Widerspruch des Sträflings provozierte, da brauchte der gute Herr Felice nur zu erscheinen, um diese Bösewichte, die eben noch mit Mord und Totschlag gedroht hatten, zu besänftigen.

»Hier bin ich,« pflegte in solchen Fällen der Direktor zu sagen, »ich bin zu euch gekommen, um euch ein gutes Wort zu bringen, da ich euch doch nichts anderes bieten kann. Wenn ihr wollt, könnt ihr mir, der ich unbewaffnet in eure Mitte getreten bin, das Leben nehmen, aber es käme ja dann ein anderer an meine Stelle, der euch nicht so gut verstände.«

Und die Leute beruhigten sich, und für einige Zeit war die Wirkung der Anstifter paralysiert. Aber der Direktor übte auch Gerechtigkeit.

»Du bist es gewesen, Nr. 603, gestehe es nur! Du sollst auch deine Strafe haben. Du mußt als erster die schlechte Suppe essen. Aber erst will ich mich überzeugen, ob sie wirklich so schlecht ist. Laßt sie mich kosten.«

Die Suppe sah wohl recht schwarz aus, aber schlecht war sie nicht. Herr Felice aß einige Löffel und sagte, daß er an seinem eigenen Tische schon manchmal eine schlechtere Suppe gegessen hätte. Und Nr. 603 gab das gute Beispiel und aß die Suppe, da er dem guten Auge des Direktors nicht widerstehen konnte. So betrachtete Herr Felice mit diesem Auge das Übel, und mit der Nachsicht des anderen blinden Auges, das zu nichts mehr gut war als zum Weinen, besiegte er es.

Als die bevorstehende Ankunft des neuen Pensionärs dem Direktor mitgeteilt worden war, wußte er schon alles, hatte er doch nicht nur die Zeitungsberichte über den Fall gelesen, es waren ihm auch auf anderem Wege erschöpfende Informationen zugekommen. Als er in dem großen Buche Vor- und Zunamen, Beruf, Alter, bereits verbüßte Strafzeit und deren Rest eingetragen hatte, mußte er seiner Pflicht Genüge leisten und dem neuen Gefangenen das schwarze lockige Haar schneiden lassen. Dann wurde der einst so berühmte Künstler in das schmutzige gestreifte Sträflingsgewand gekleidet, und dieser traurige Harlekin erhielt nun die Nr. 800, die ihm für die ganze Zeit seiner Gefängnisstrafe bleiben sollte.

Herr Felice hatte früher den Besuch des Untersuchungsrichters erhalten, der offiziell gekommen war, um sich nach einem Sträfling aus Palermo zu erkundigen, der wegen verschiedener erst jetzt entdeckter Verbrechen vor Gericht erscheinen sollte. Aber bald kam die Rede auf Nr. 800, in deren Prozeß so vieles dunkel geblieben war. Aus der Haltung des Angeklagten vor und nach der Verurteilung gehe hervor, daß ein unerforschtes Geheimnis dahinter stecke.

In dem Gespräche der beiden Amtspersonen kam die Rede auch auf die Möglichkeit eines Duells, wie sie der Advokat Masi in seiner Verteidigungsrede behauptet hatte. Doch der Untersuchungsrichter warf ein, daß auch unter dem Vorwande eines Duells als wirkliche Ursache der Tat der Wunsch, sich von der Nebenbuhlerschaft eines Gatten zu befreien, nicht ausgeschlossen sei. Man habe ja in der Verhandlung das Bild Irmas, einer sehr schönen Frau, wenn die Photographie nicht lüge, gesehen. Der Untersuchungsrichter mußte aber auch eingestehen, daß seine privaten Nachforschungen nach der kranken Zeugin ohne Resultat geblieben seien. Immerhin aber sei er überzeugt, daß die Witwe in der ganzen Sache eine bedeutende Rolle gespielt habe. Es sei nur schade gewesen, daß man sie nicht in der Verhandlung hatte befragen können. Sie hätte sicherlich um so mehr gesprochen, je verstockter der Angeklagte geschwiegen hatte.

Der weichherzige Gefängnisdirektor hatte während dieser Mitteilungen mehr als eine Träne in seinem blinden Auge zerdrückt. Dann fragte er den Richter, wie er sich gegenüber dem merkwürdigen Sträfling verhalten solle.

»Sie könnten,« antwortete der Untersuchungsrichter, »sehr vieles tun, wenn es Ihnen gelänge, den Bären zu zähmen, seine Schweigsamkeit zu brechen und mit Ihrer bekannten Herzensgüte verschiedene Umstände zu erfahren, die im Prozesse nicht zur Sprache gekommen sind.«

Da warf aber der andere ein, daß es sich doch um eine res judicata handle. Da mußte der Untersuchungsrichter gestehen, daß er die Hoffnung nicht aufgegeben habe, auf ein neues Faktum zu stoßen, wodurch die Wiederaufnahme des Prozesses notwendig würde.

Natürlich ließ sich der gute Herr Felice diese menschenfreundliche Aufforderung sehr angelegen sein, und er wollte sein möglichstes tun, um das Vertrauen Fritz Neumüllers zu erlangen. Dieser zeigte sich keineswegs so unzugänglich wie vor dem Schwurgericht. Es war ganz seltsam; er schien durch die Verurteilung erleichtert. Der Direktor benutzte den günstigen Zufall, als einer seiner Schreiber das Gefängnis verließ, diesen durch den neuen Sträfling zu ersetzen. Er hatte ihn zu sich gerufen und fragte ihn: »Wollen Sie nicht in meinem Bureau als Schreiber arbeiten? Ich weiß wohl, daß Sie in der Untersuchungshaft weder schreiben noch sprechen wollten, um jede Rechtfertigung zu vermeiden. Aber jetzt, nachdem die Zeit der Sühne begonnen hat, laufen Sie keine Gefahr mehr, wenn Sie sprechen oder schreiben. Wollen Sie also mein Gehilfe sein?«

Er hatte den Gefangenen nicht mit seiner Nummer angesprochen, und als dann der Inspektor das Zimmer verlassen hatte, da wurde der Ton seiner Stimme noch milder und er fügte hinzu: »Lieber Herr Neumüller, entschuldigen Sie, wenn ich Sie im Beisein anderer nicht so anspreche und wohl sogar manchmal gezwungen sein werde, Sie nur mit der Nummer zu rufen.«

Fritz Neumüller aber unterbrach mit einer Raschheit, wie man sie an ihm gar nicht gewohnt war, den Direktor, um ihm zu sagen, daß er es vorzöge, seinen Namen zu vergessen und für alle nur die Nr. 800 zu sein. Der Direktor war wieder einmal zu Tränen gerührt und konnte gar nicht begreifen, warum ein Mann von der Jugend und Intelligenz seines neuen Pensionärs so resigniert mit dem Leben abgeschlossen habe. Im übrigen fand er Nr. 800 zu jeder Beschäftigung bereit. Früher habe er weder sprechen noch schreiben wollen, weil jedes Wort und jede Zeile zu neuen Untersuchungen Stoff geboten hätte, und er für das Böse, das er begangen hatte, rasch seine Strafe gewollt habe.

Am nächsten Tage begann Nr. 800 im Bureau des Direktors zu arbeiten. Er half dem Sekretär, hielt die Papiere in Ordnung, kopierte die Eingaben und schrieb die Briefe derjenigen seiner Gefängnisgenossen, die weder lesen noch schreiben konnten. Einen Brief schrieb er auch in eigener Sache, und zwar an die Witwe von Flavio Campana, in dem er in wenigen Worten anfragte, ob sie das gesandte Geld erhalten habe. Er unterzeichnete Fritz Neumüller in Buchstaben, Nr. 800 in Ziffern. Aber gerade während Herr Felice die Briefmarke aufklebte, brachte die Post die Empfangsbestätigung aus London. Fritz Neumüller jedoch schien nicht zufrieden, wenn er auch nervös lachte und den vorbereiteten Brief zerriß. Er gestand dem Direktor, daß er der Dame noch zwölfhundert Lire schulde und ihr mitteilen wolle, daß er ihr nach Beendigung der Strafzeit alles bis auf den letzten Centesimo zurückzahlen werde. Von dem Erträgnisse seiner Arbeit im Gefängnisse hoffe er dies leisten zu können. Der Direktor erteilte ihm natürlich gern die Erlaubnis, diesen Brief, der ein so seltsames Versprechen enthielt, eingeschrieben nach London zu senden. Nach einigen Tagen aber kam der Brief zurück, er trug den Vermerk des Postbeamten, daß Irma Campana London verlassen habe, ohne eine Adresse anzugeben. Als der Gefangene dies erfuhr, erbleichte er ein wenig, wenn man in Anbetracht der Blässe, die sein Gesicht stets bedeckte, von Erbleichen sprechen konnte. Er sprach aber kein Wort, sondern bat nur um die Erlaubnis, diesen vielgereisten Brief aufheben zu dürfen, und diese wurde ihm erteilt, weil die Gefängnisordnung keinen Punkt enthielt, der dies verbot.

Das fleißige Zusammenarbeiten, der fortwährende Kontakt zwischen Nr. 800 und seinem mitleidigen Direktor hatten bald ein fast freundschaftliches Verhältnis zwischen den beiden gezeitigt. Gerade weil Herr Felice, ganz im Gegensatz zu den Weisungen des Untersuchungsrichters, niemals versucht hatte, seinen Schützling auszuforschen, gewann er sein Vertrauen um so mehr und erfuhr, auch ohne zu fragen, eine Menge Einzelheiten über das Vorleben von Nr. 800. Dieser war zwar noch immer nicht wortreich geworden, aber er hatte seine frühere Verschlossenheit aufgegeben und zu dem einäugigen Direktor eine aufrichtige Zuneigung gewonnen, die dieser mit gleichen Gefühlen erwiderte. Er dachte sogar daran, ihn seiner Frau und seinem Töchterchen vorzustellen.

Während der sechs Werktage war Fritz Neumüller nur eine Nummer und er mußte unter der Aufsicht des Direktors langweilige Eintragungen und Abschriften machen. Der Sonntag, an dem er ausruhen durfte, brachte ihm aber tödliche Langeweile. Den Gottesdienst wollte er nicht besuchen, obgleich der Gefängnisgeistliche wiederholt versucht hatte, den Honig seiner Beredsamkeit auf den gottlosen Häftling träufeln zu lassen. Da machte eines Tages der Gefängnisdirektor den Vorschlag, er möge sich während des Gottesdienstes mit Gartenarbeiten beschäftigen. Für Fritz Neumüller war dies ein Glücksstrahl, und freudig nahm er das Angebot des menschenfreundlichen Mannes an. Wie freute er sich darauf, wieder freiere Luft atmen zu dürfen, die Liebkosungen des Windes zu spüren, das Murmeln des Wassers zu hören. Die Berührung mit der Natur schien ihm der schönste Ersatz für die Verehrung Gottes in einem geschlossenen, dumpfen Raume. Hatte er auch noch niemals mit Spaten und Schaufel die Erde bearbeitet, so war er doch sicher, diese Beschäftigung in kurzer Zeit zu lernen und sich nützlich zu betätigen.

Einmal fragte ihn der Direktor, ob er keine Lust habe, Klavier zu spielen. Er verneinte, und Herr Felice glaubte zu verstehen, daß er fürchte, die Musik werde unheilvolle Erinnerungen aufs neue heraufbeschwören. Doch Fritz Neumüller zeigte ein gewisses Interesse an dem Instrument, das ihm früher so große Triumphe verschafft hatte, indem er fragte, wer denn eigentlich auf dem Klavier spiele. Und Herr Felice mußte ihm gestehen, daß er selbst Musik mache, wobei er wohl oder übel ein paar Liederstrophen, die er schlecht singe, auf dem Instrument begleite.

»Mein achtjähriges Töchterchen,« fügte er hinzu, »hat auch bereits begonnen, Klavier spielen zu lernen. Sie übt aber nur bei geschlossenen Türen, um die Mutter nicht zu stören.«

Nr. 800 sagte weiter nichts, und auch der Direktor setzte das Gespräch nicht fort. Fritz Neumüller brachte den Gartenarbeiten weit mehr Interessen entgegen als dem Klavier, und mit einer wahren Begeisterung widmete er sich, wenn er nicht gerade im Bureau beschäftigt war, der Bearbeitung jenes Fleckchens Erde, das von hohen Mauern eingeschlossen war. Unter einer von diesen floß, durch drei starke Eisengitter hindurch, ein freundlich murmelndes Bächlein, das auf der anderen Seite des Gartens wieder austrat, natürlich auch hier mit massiven Eisengittern versehen.

Oft verweilte Nr. 800 in der Betrachtung des bescheidenen Wässerchen, das ohne Eile in den Bereich des Gefängnisses eintrat und ebenso gemächlich hindurchfloß, indem es sich häufig von einem herabgefallenen Ast in seinem Laufe aufhalten ließ. Was für Gedanken mochten sich wohl hinter der hohen Stirn des Gefangenen verbergen? Manchmal schaute einer seiner Unglücksgefährten, der in der Strafzelle eingeschlossen war, neidisch in den Garten hinunter, und der Posten stehende Soldat beobachtete wohl dann beide, indem er an seine eigene Freiheit, an die Rückkehr in das bürgerliche Leben dachte, während vielleicht gerade in diesem Augenblick vor dem Tore der Strafanstalt ein armer Teufel stehen mochte, der, müde der wiedererlangten und schlecht benutzten Freiheit, nach dem sicheren Brot des Gefängnisses Sehnsucht fühlte.

Eines Tages fand sich Nr. 800 der guten Caterina, der Gattin des Gefängnisdirektors, gegenüber, die nicht wußte, was sie zu dem berühmten Sträfling sagen sollte, und in Ermangelung eines passenderen Gesprächsstoffes eine Unterhaltung über den Gemüsebau anfing, den prächtigen Salat über alle Maßen lobte und endlich, errötend, als beginge sie eine Sünde, fragte, ob er denn niemals den Wunsch fühle, Klavier zu spielen. In rührend bescheidener Weise fügte sie hinzu: »Meinem Töchterchen habe ich schon manches Mal verboten, ihre Fingerübungen fortzusetzen, wenn Sie in der Nähe sind, um Ihr Ohr nicht zu verletzen.«

Diese Begegnung zeigte Nr. 800 in einem weit besseren Rufe, als er ihn bisher genossen hatte. Die düsteren Schatten schienen von seinem Antlitz zu weichen, über das ein freundliches Lächeln glitt, und mit einer Liebenswürdigkeit und Beredsamkeit, wie man sie an ihm noch niemals beobachtet hatte, gestand er der guten Dame, wie dankbare Gefühle gegen ihren so edlen Gemahl sein Herz berge, wie er es als ein unerwartetes Glück empfinde, in freier Luft arbeiten zu dürfen, wie er aber trotzdem den Mangel an Musik als seine härteste Strafe ansähe.

Frau Caterina hatte nur auf dieses Geständnis gewartet, um ihn einzuladen, bisweilen in die Wohnung des Direktors zu kommen und dort der Musik zu huldigen.

»Mein Mann,« sagte sie, »hat dies schon lange mit mir besprochen. Der Inspektor wird gern mein Komplize sein. Kommen Sie also an einem der nächsten Abende zu uns, um nach Herzenslust zu spielen. Wenn Sie uns nicht fortschicken, werden wir gern zuhören.«

Und Nr. 800 verbeugte sich anmutig und meinte beinahe scherzend, daß er den Befehlen der gnädigen Frau mit Freude gehorchen werde, aber sie dürfe von seinem Klavierspiel gar nichts Besonderes erwarten.

Noch am selben Abend wurde Fritz Neumüller von dem Inspektor in das Häuschen des Direktors begleitet. Das Gaslicht blendete einen Augenblick lang den Sträfling, der an die abendliche Finsternis seiner Zelle gewöhnt war. In einem großen Spiegel, dem gegenüber ein anderer Spiegel aufgehängt war, sah er eine lange Reihe von traurigen Harlekinen, von denen jeder einzelne seine Gesichtszüge trug. Da es in den Zellen natürlich keine Spiegel gab, weil sie ja leicht in gefährliche Waffen verwandelt werden könnten, so bemerkte Nr. 800 zum ersten Male die Größe seiner Ohren, die in den Tagen der Kunst und der Liebe die reichliche Menge der Haare verborgen hatte. Auch Nase und Stirn schienen ihm etwas gewachsen, seine Wangen dagegen eingefallen und bleich.

Felicita, ein reizendes, aufgewecktes Kind, ließ sich nicht lange bitten und gab die schwierigsten Fingerübungen zum besten, spielte dann noch eine Sonate als Zugabe und wurde durch Küsse und Liebkosungen der Eltern und durch ein melancholisches Lächeln des seltsamen Gastes belohnt. Jetzt setzte sich Fritz Neumüller an das Klavier. Der wirkliche Fritz Neumüller, nicht Nr. 800, der in der elenden Zelle geblieben war, in die der dumpfe Lärm der Werkstätten drang, während Fritz Neumüller in einem gemütlichen, von Licht und Blumenduft erfüllten Zimmer aufgefordert wurde, eine Probe seiner Kunst zu geben.

Er schlug erst mit einer Hand ein trauriges Thema an, das er einmal bei irgendeinem alten Meister gefunden hatte, dann fiel auch die zweite Hand ein, und das Klavier sang ein Lied voll Seufzer und Schmerzen, voll Kummer und Herzenspein. Hier und da drang die erste Melodie wieder hervor wie eine ängstliche Frage, auf die die Improvisation des Künstlers melancholisch antwortete. Und immer wieder schienen die Töne leiddurchwühlt zu fragen: Warum, warum? Dann schwieg die Musik einen Augenblick, um denselben Schmerz in einer anderen Variation über dasselbe Thema auszudrücken. Es war, als pochte ein Hammer auf ein wundes Herz, um sein Weinen zu ersticken. Das Herz bäumte sich aber auf in wildem, gewaltigem Weh, bis es dann, von Verzweiflung überwältigt, seine Kraft verlor und immer schwächer und schwächer schlug, um endlich für immer stillzustehen ...

Der gute Herr Felice wurde von dem ergreifenden Klavierspiel seines Schutzbefohlenen derart gerührt, daß er mit beiden Augen weinen mußte und in das Nebenzimmer ging, um seine Empfindungen zu verbergen, die zu stark auf ihn einstürmten. Frau Caterina bewies mehr Widerstandskraft, und Felicita blieb ganz unempfindlich, nachdem sie während des Klavierspiels des geständigen Mörders die Augen nicht von den Tasten abgewandt hatte, als wollte sie von seiner Technik etwas profitieren.

Nach dieser Improvisation jedoch spielte Fritz Neumüller einige Sonaten, ohne aber nach dem Urteil von Frau Caterina, die sich auf Musik verstand, eine wirkliche Virtuosität zu zeigen, wie sie eines Königs des Pianoforte würdig gewesen wäre. Sie äußerte ihren Eindruck zu ihrem Manne, der sich von der starken Ergriffenheit, in die ihn das Spiel Fritz Neumüllers versetzt hatte, allmählich erholte.

Aber auch an den folgenden Abenden hatte dieser keinen Beweis der hervorragenden pianistischen Tüchtigkeit geben können, mit der er im Verein mit Flavio Campana so oft die Begeisterung des Publikums so vieler Konzertsäle in ganz Europa erweckt hatte. Auch schien es merkwürdig, daß ihn die großen Meister des Klaviers, wie Mozart, Beethoven und Chopin, gar nicht sehr interessierten und daß er es vorzog, eine Romanze von Caracciolo zu spielen und dazu leise den Text zu singen, um dann etwa die Begleitung nach seiner Idee umzuändern.

An einem Festtage hatte Nr. 800 trotz der großen Mittagshitze, durch einen breitkrempigen Strohhut gegen die Sonnenstrahlen geschützt, im Garten gearbeitet, und war eben im Begriff, sich in die Zelle zu begeben, um dort Siesta zu halten, als er den guten Herrn Felice traf, der ihn fragte, was er zu tun gedenke. Als ihm Fritz Neumüller seine Absicht mitgeteilt hatte, machte er ihm den Vorschlag, in seine Wohnung zu gehen, um dort ein wenig Musik zu machen. Frau und Tochter seien zwar ausgegangen, und er selbst müsse sie abholen. Aber bald würden sie alle zurückgekehrt sein. Mit Freude nahm Nr. 800 den freundlichen Antrag an, und der Direktor führte ihn ohne weiteres Zögern in die gute Stube seines Häuschens, um ihn dann allein zu lassen.

Die Zimmer waren verdunkelt, aber Fritz gewöhnte sich bald an das Dunkel und er konnte alle Gegenstände des bescheiden ausgestatteten Salons unterscheiden. Der Eingangstür gegenüber hing ein Porträt des Herrn Felice, den der Maler so dargestellt hatte, daß man nur das gesunde Auge sah. Ihm zur Seite lächelte das freundliche Gesicht der guten Frau Caterina, und in der Mitte zwischen den liebevollen Eltern hatte das Bild des Töchterchens seinen Platz gefunden. Die andere Wand zierte eine Lithographie des Königs Viktor Emanuel II., unter dessen Herrschaft der Direktor seine Laufbahn begonnen hatte. Ein gelangweiltes Sofa, das sich nach Vertrauen und Liebe zu sehnen schien, und ein Tischchen von Mahagoniholz, auf dem ein Photographiealbum lag, vervollständigten die Einrichtung des Zimmers, in welchem Fritz seine Wohltäter erwarten sollte.

Plötzlich packte Nr. 800 ein Schauder. Er begann zu zittern. Wenn ihn seine Augen nicht täuschten, so erblickten sie auf dem Klavier eine Geige ... Nein, es war keine Vision! Es war eine wirkliche Violine, neben der der Bogen lag. Nr. 800 stürzte sich auf das Instrument, wie ein Verdurstender auf einen Trunk frischen Wassers. Er nahm die Geige in die Hand, doch im nächsten Augenblicke legte er sie wieder nieder und schaute ängstlich umher, ob er auch wirklich ganz allein sei. Im Hause war kein lebendes Wesen außer dem Kanarienvogel und der schwarzen Katze, die in der Küche lag und den Baß schnurrte. Nr. 800 nahm, wie es Flavio Campana zu tun pflegte, die kleine Freundin zwischen den linken Oberarm und das Kinn, schüttelte das Haupt, als wollte er die langen Locken, die längst der Schere zum Opfer gefallen waren, nach rechts und links werfen, und dann schaute er wie inspiriert nach oben und begann erst leise zu spielen. Zum Himmel erhob sich der klagende Gesang der Saiten, als wollte er dort nach einer fernen Liebe suchen, die der Künstler auf Erden vergeblich erstrebt hatte. Es war keine Stradivari-, nicht einmal eine Amatigeige, sondern ein armseliges Ding, das wenige Lire gekostet hatte. Aber diese schlechte Violine schien von einer leidgequälten Seele erfüllt, die weinte und jammerte, die nach Hilfe rief und sich nach Glück sehnte. Und dann schwieg sie lange ...

Der Künstler blickte noch einmal umher, ob er keine Zeugen habe, und dann begann er wieder. Noch ein paar mächtige Bogenstriche. Dann setzte er zu einem Furioso ein. Gegen ein gewaltiges Schicksal schien diese Flut von Tönen zu kämpfen. Der Bogen flog wie behext über die Saiten. Die Wände des Zimmers breiteten sich aus und verschwanden, der Urwald war in die Stube gekommen und mit ihm das Reich der alles überwindenden Liebe, die gleichzeitig fleht und gebietet ...

Als dieses auf der Geige gespielte Gedicht zu Ende war, da warf sich der Künstler, bis in das Innerste gepackt, auf das Sofa, und der Bogen fiel ihm aus der Hand.

Da ertönte eine Stimme aus dem Dunkel: »Sie sind nicht Fritz Neumüller! So kann nur ein Engel spielen!«

Es war Herr Felice, der ihm diese Worte begeistert zurief.

»Ich bin nicht Fritz Neumüller!« rief der Künstler aus, aber schnell fügte er hinzu: »Fritz Neumüller ist ja tot, ich bin bloß eine Nummer!«


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