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Dreizehntes Kapitel.

In der Vorhalle des Mailänder Hauptbahnhofes hatte Herr Felice im Augenblick seiner Abreise eine Schar von Amtskollegen gefunden, die ihm die Hand drücken und eine glückliche Reise wünschen wollten. Und mit einem einzigen, aber gerade deswegen um so schärfer sehenden Auge hatte er auch Irma, in Tränen aufgelöst, bemerkt und seiner Frau und Felicita einen Wink gegeben, sich mit Irma zu beschäftigen. Seinen bureaukratischen Kollegen, die die schöne Frau natürlich bewunderten, hatte er ruhig eine Notlüge gesagt, die er schon früher vorbereitet hatte.

Als endlich die Tür des Abteils, der die ganze Familie des Direktors beherbergte, geschlossen worden war und die drei Köpfe zum Fenster hinausschauten, stieg Irma auf das Trittbrett, küßte zum letzten Male Frau Caterina und Felicita und stellte dann mit bewegter Stimme die seltsame Frage: »Werden Sie uns verzeihen, Herr Direktor? Werden Sie uns alles verzeihen?«

»Was soll ich Ihnen denn verzeihen, meine gute Irma?« antwortete der Direktor. »Hätte er doch nur ja gesagt, dann wären wir heute schon auf dem Wege der Barmherzigkeit. Hoffentlich gelingt es Ihnen noch, ihn zu überzeugen.«

Irma nickte mit dem Kopfe. Jetzt schrien alle Schaffner »Fertig!« dann pfiff die Lokomotive, und Irma fragte noch einmal: »Mein guter Herr Direktor, werden Sie uns verzeihen?« Und während der Zug sich in Bewegung setzte, versicherte Herr Felice Irma, daß er alles verzeihe.

Lange noch klangen ihm aber jene seltsamen Fragen, die mit einer gewissen Steigerung gestellt worden waren, im Ohr. Was wollte sie damit sagen? Man kann doch nur etwas Vergangenes verzeihen. Was bedeutet es aber, die Verzeihung für die Zukunft zu sichern? Vielleicht wollten diese Armen ...

Herr Felice beendigte diesen Satz nicht, aber Frau Caterina begriff ihn. Auch sie hegte den Verdacht, daß das unglückliche Paar Freiheit und Liebe auf dem Wege eines gemeinsamen Todes erreichen wollte. Er hätte ja vielleicht zur gleichen Zeit, in der sie in einem Hotelzimmer Gift nahm, mit einer Schusterahle einen Selbstmord begehen können. Und am nächsten Morgen würde dann ein Brief von der menschlichen Gesellschaft wenigstens die eine Gunst verlangen. daß die beiden im Grabe beieinander ruhen dürften. Aber dann bedachte Herr Felice noch einmal diese Möglichkeit und verwarf sie, da es ihm ausgeschlossen schien, daß Irma nicht doch noch auf die endliche Befreiung ihres Flavio zu warten entschlossen war. Diese Betrachtung hatte ihn beruhigt, und man war bei Einbruch der Nacht beinahe in Turin angelangt.

Zur selben Zeit aber war Irma zu dem Graben geeilt, der zwischen den Kerkermauern und den Bastionen von Porta Nuova eingeschlossen war. Dort hatte sie in die Öffnung, aus welcher das Wasser von der Wäscherei des Gefangenhauses herkam, einige Zündholzschachteln hineingeworfen, damit Flavio wissen solle, sie sei dagewesen. Die Nacht vorher hatte sie, während der Himmel von dichten Wolken verdeckt war und tiefes Schweigen herrschte, einen Schlosser gedungen, mit einer Feile das äußere Gitter derart zu bearbeiten, daß die Kraft eines Mannes genügte, es mit geringer Mühe zur Seite zu biegen. Der junge Schlosser hatte seine Aufgabe gewissenhaft durchgeführt und natürlich eine sehr gute Bezahlung verlangt, weil er ja doch etwas nicht Ungefährliches gewagt hatte. Überdies hatte Irma versprechen müssen, seinen Namen in keinem Falle zu verraten.

So war endlich die Nacht hereingebrochen, Irma wartete draußen mit ängstlicher Spannung. Sie lauschte dem leisen Murmeln des Wassers, das ihr Mut zuzusprechen schien. In den ersten Stunden der Nacht waren ein paar Leute über die Bastionen gegangen, aber nach Mitternacht war die breite Allee vollkommen Vereinsamt und stumm. Später aber schüttelte ein Sturm die Kastanienbäume, als wollte er ein Gewitter ankündigen. Trockene Äste fielen herunter, und sie glaubte Schritte zu hören, als kämen Leute, die den Flüchtigen einfangen sollten.

Man war nämlich übereingekommen, daß er um diese Zeit schon geflohen sein müßte, und daß er, sobald er die Zündholzschachteln auf dem Wasser schwimmen sah, ihre Anwesenheit erkennen sollte, um sich dann im Kanal zu verbergen und den günstigen Augenblick abzuwarten, in dem er das äußere Gitter zur Seite biegen und so mit einem Schlag frei sein würde.

In einer Reisetasche würde Irma Kleider verborgen halten, damit Flavio mit ihnen seine verhaßte Kerkerlivree vertauschen könnte. Dann sollten die beiden so gleichgültig wie möglich zum Bahnhof gehen und dort einen Nachtzug nehmen, der sie an die Landesgrenze nach Chiasso oder nach Ala bringen würde.

Aber die Nacht verfinsterte sich immer mehr, die Sterne verloschen, der Wind heulte, als wollte er Unglück prophezeien, während sich das erwartete Geräusch aus dem Wasser nicht hören ließ und kein menschliches Antlitz an dem Eisengitter erschien.

Den häufigen Blitzen folgten furchtbare Donnerschläge, und dann stürzte der Regen in ungeheuren Fluten zur Erde.

Irma fühlte sich durch eine übermenschliche Gewalt imstande, den Unbilden des Wetters zu trotzen. Sie hatte den Schirm geöffnet und wartete und wartete.

»Lieber Gott,« betete sie, »rette ihn!«

Das Gewitter war kurz, aber von fürchterlicher Gewalt, so daß Irma von Wasser und Wind entsetzlich gepeitscht wurde.

Beim Schein eines Blitzes glaubte sie zu sehen, daß das Wasser des Grabens so hoch gestiegen war, daß es die rechteckige Öffnung fast bedeckte und nur die letzte Stange sichtbar blieb.

Eine schreckliche Angst erfaßte Irma. Sicherlich war er in den engen Kanal eingedrungen, um bis zu ihr zu gelangen, und das böse Wetter hatte ihm den Weg der Rettung versperrt und durch seine steigende Gewalt bis zum Eingang zurückgedrängt, wo ihn die Verfolger erwarteten. Und dieser Gedanke schien Irma noch nicht so grauenhaft wie die Möglichkeit, daß Flavio ertrunken wäre.

Die Arme zitterte vor Furcht und Kälte. Zwischen dem dröhnenden Brüllen des Donners glaubte sie einen Augenblick lang eine Stimme: »Irma! Irma!« rufen zu hören.

Als der Regen aufgehört hatte und das Grollen des Donners nur noch aus der Ferne ertönte, näherte sich Irma dem Wassergraben und bemerkte, daß das Gitter vollkommen im Wasser war. Eine Uhr schlug vier. Binnen kurzem würde es Tag werden, und so war in dieser Nacht nichts mehr zu machen. Verzweifelt kehrte sie ins Hotel zurück, wo sie mit Verwunderung aufgenommen wurde; denn sie hatte am Abend zuvor ihre Rechnung beglichen und gesagt, sie werde in der Nacht abreisen. Als sie den Versuch machte, ihre Rückkehr zu erklären, versagte ihr die Sprache; sie konnte nur weinen. Dann dachte sie an alles Böse, das unterdessen im Kerker vorgefallen sein könnte, und war sich bewußt, daß sie in den Bereich der häßlichen Mauern nicht mehr eintreten könne, ohne ihren Wohltäter in Verdacht zu bringen. Man kannte sie ja drinnen als eine Hausfreundin des Direktors. Jeder Wachtposten hatte ihr bereitwillig das Tor geöffnet. Unter welchem Vorwand konnte sie sich dem neuen Direktor vorstellen? Aber auch wenn sie einen solchen gefunden hätte, war keine Hoffnung vorhanden, zu Flavio zu gelangen.

Das kummervolle Wachen während der ganzen Nacht hatte sie ermüdet. Sie fühlte beinahe, daß infolge Regen und Kälte der Keim der Krankheit in ihre Poren eingedrungen wäre, die ihr bald Erlösung vom Leben verschaffen würde.

Immer wieder kehrten ihre Gedanken zu den Ereignissen zurück, die sich im Gefängnis abgespielt hatten. In ihrer Einbildungskraft sah sie Flavio von den Schildwachen überrascht, mit den schmutzigen Fluten kämpfend, von den Aufsehern geprügelt und in die Strafzelle gesperrt. Und so würde er von nun an mit aller Strenge behandelt werden und nie mehr die Blumen und das Gras, die Bäume und alle köstlichen Dinge der Schöpfung, die seiner armen Seele Trost gaben, Wiedersehen dürfen.

Sie war endlich eingeschlummert und träumte, Flavio sei ihr erschienen und habe ihr geraten, sich unter dem Vorwande, sie habe tags zuvor etwas in der Wohnung des Herrn Felice vergessen, zum neuen Direktor zu begeben. Jetzt dachte sie darüber nach, welchen Gegenstand sie vergessen haben könnte. Sie wollte dem Direktor erzählen, daß sie einen Fächer auf einer alten Truhe im Vorzimmer habe liegen lassen. Als sie aber versuchte, aus dem Bett zu steigen, stürzte sie ohnmächtig zu Boden. –

Wie war denn in Flavio der Plan zu Flucht gereift?

Er hatte täglich einige Stunden lang im Garten gearbeitet, um die vom Wind oder vom Regen zu Boden gebeugten Pflanzen zu stützen, das ordnungslos wachsende Gesträuch in Reih und Glied zu bringen, das Unkraut auszujäten und die dürren Blätter der Hopfenlaube abzureißen. So hatte er den Kanal bemerkt, der ihm zur Flucht verhelfen sollte.

Diese Flucht war sein Traum. Er hätte ja auch früher fliehen können, bevor ihn seinerzeit ein Gendarm festgenommen hatte. Aber damals hatte er keine Sehnsucht gefühlt, da ihm sein Glück für immer verloren schien. Auch war er so naiv gewesen, zu glauben, daß das von ihm vergossene Blut ein heiliges Anrecht auf Sühne besitze. So erwartete er den Rächer, der ihn in Como erreichte.

Als er aber dann seine immer noch schöne und heiß liebende Irma wiedersah und ihre Küsse fühlte, da wurde in ihm der Gedanke lebendig, die Freiheit zu erlangen, mit seiner Frau über den Ozean zu fahren und in einem fernen Lande einen Zufluchtsort für ihre Liebe zu finden, die das Unglück so grausam verfolgt hatte.

Und diese Freiheit bot ihm der Kanal. Nr. 800 hatte ihn sorgfältig vom Unkraut gereinigt, das sich an dem starken Eisengitter angeklammert hatte. Bei dieser Gelegenheit hatte er auch die Beobachtung gemacht, daß ein immer vom Wasser bespültes Gitter nicht sehr stark sei, da der Rost jeden Tag ein Stückchen Eisen vernichtet und die Stangen schwächt. Er überzeugte sich, daß er sie mit Anwendung aller Gewalt herausdrehen könnte. Mittels eines Strickes und eines Spatens würde er leicht imstande sein, die senkrechten Stangen derart auseinanderzutreiben, daß es ihm möglich war, seinen Körper durchzuzwängen. Jedesmal. wenn er sich dem Gitter nähern konnte, lockerte er es ein wenig. In den kurzen Gesprächen, die er in ungarischer Sprache mit Irma führte, hatte er ihr seinen Plan auseinandergesetzt. Natürlich wollten weder Irma noch Flavio durch ihre Flucht Herrn Felice und seine Familie in Verlegenheit bringen.

Als der Gedanke der Wiederaufnahme des Prozesses aufgetaucht war, da war es nicht allein die Schande seiner Frau, die an den Pranger gestellt und der ekelhaften Neugier der Welt preisgegeben werden sollte, nicht allein die geringe Wahrscheinlichkeit eines Freispruchs, sondern vielmehr die Hoffnung, zu fliehen, die ihn veranlaßt hatte, auf die Wiederaufnahme des Prozesses zu verzichten. Und am selben Tage, an dem Herr Felice nach Turin abreiste, kam Nr. 800, der die Stufen in der Umfassungsmauer der Irreführung halber gemacht hatte, zu dem Platz, um einen Eisenstab zu entfernen und dann noch zwei senkrechte Stangen umzubiegen und so in dem Kanal zu verschwinden. Er hatte dies alles nach und nach bewerkstelligt, während die Schildwache ihm den Rücken zuwandte. Sobald sie ihm wieder nahe kam, kehrte er zu seiner Arbeit mit dem Spaten zurück. Manchmal blieb der Soldat stehen, um der Arbeit des Gefangenen zuzuschauen. aber er bemerkte nichts Auffallendes und setzte seine Runde fort. Bevor der Augenblick der Ablösung gekommen war, war Nr. 800 in dem Kanal verschwunden. Von innen arbeitend, bog er die Stangen wieder gerade, so daß das Gitter wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt wurde.

Flavio entfernte sich von dem Eingang des Kanals, um nicht gesehen zu werden, aber er blieb doch so nahe, daß er alles, was vorging, hören und sehen konnte.

Als die Ruhestunde gekommen war, hämmerte das Herz des Flüchtlings in gewaltiger Aufregung. Er bemerkte die Nachforschungen, die angestellt wurden, und in einem Augenblick hörte er eine Stimme, die sagte: »Hier hat er sicherlich nicht durch können!« und ein anderer antwortete darauf: »Es ist klar wie die Sonne, daß er die Mauer überstiegen hat. Der Kerl muß wirklich Glück gehabt haben, wenn er sich hierbei nicht den Hals gebrochen hat.«

Ängstlich blickte Flavio nach den Zeichen aus, die er mit Irma vereinbart hatte. Endlich bemerkte er die schwimmenden Zündholzschachteln. Irma war also da.

Kaum waren die Schatten der Nacht hereingebrochen, dachte Flavio an ein anderes schwieriges Unternehmen: sich umzuwenden, mit dem Munde die äußere Luft zu atmen, das schmutzige Wasser, das aus dem Graben kam, nicht zu scheuen und ihr das erste freie Wort zuzuflüstern. Er versuchte seinen Körper in verschiedener Weise zu biegen, aber es gelang ihm nicht, seine Absicht auszuführen. Das Stück des Kanals, das ihn von der anderen Öffnung trennte, war nach seiner Schätzung nicht mehr als zwanzig Meter lang. Er drang noch ein Stück vor, bis seine Füße an ein Eisengitter stießen. Im ersten Augenblick freute er sich, sein Ziel erreicht zu haben, aber bald bemerkte er, daß dieses Eisengitter in der Mitte des Kanals sei, also seine Flucht unmöglich mache.

Früh am Morgen begannen die Wachen den Flüchtling wieder zu suchen. Am Abend vorher hatten sie bereits zweimal den Eingang des Kanals in dem unbestimmten Dämmerlichte untersucht, ohne etwas Verdächtiges bemerkt zu haben. Jetzt aber sahen sie einen rasierten Kopf knapp neben dem Eisengitter, und als sie näher traten, entdeckten sie den dazu gehörigen Körper, der die traurige Harlekinskleidung des Strafhauses anhatte.

Andere Wächter eilten herbei, die das Gitter öffneten, das Nr. 800 hinter sich geschlossen hatte. Schwieriger war es, den Körper des Unglücklichen durchzuzwängen, da dieser seinen Kerkermeistern hierbei nicht half. Er sagte nichts und schien in dem rasch fließenden Wasser bleiben zu wollen. Vielleicht war er tot.

Bald sollte Gewißheit geschaffen werden. Ein Schlosser, der gerufen worden war, erweiterte die Öffnung, und so konnte endlich Nr. 800, schweigsamer als je, in das traurige Haus zurückkehren. Er wurde in das Gefängnisspital gebracht, aber der Arzt konstatierte schnell, daß diese Nummer zu streichen sei. Flavio war tot, von den Fluten erstickt, die während des nächtlichen Gewitters in den Kanal eingebrochen waren. Vergeblich hatte er es versucht, zum Eingangsgitter zu gelangen und die Stangen aufzubiegen. Der Wolkenbruch hatte mit solcher Plötzlichkeit gewütet, daß wenige Minuten genügten, um seinen Tod herbeizuführen.

Der Gefängnisarzt, der festgestellt hatte, daß Flavio seit vier oder fünf Stunden tot sei, schrieb auf eine Tafel: »Nr. 800 durch Ertrinken erstickt.«

Im Laufe des Tages kamen ein Bezirksrichter und ein Zivilarzt, um den Tatbestand aufzunehmen. Dann befahl der Vizedirektor, den Leichnam in die Totenkammer zu bringen. Dort wurde Fritz Neumüller – denn als solcher figurierte er in dem Verzeichnis der Gefangenen – mit seinem trockenen Anzug bekleidet. Dann gab ihm der Kaplan den kirchlichen Segen, und in den ersten Stunden des folgenden Tages wurde der Leichnam auf den Kirchhof geschafft. Er genoß sogar das Glück, von dem Pfarrer des Bezirks, der wußte, daß Fritz Neumüller ein berühmter Musiker gewesen sei, und selbst die Musik schätzte und liebte, bis ans Grab begleitet zu werden. Und das war das letzte Glück, das Flavio in dieser Welt beschieden war.


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