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Sechstes Kapitel.

Es war eine späte Nachtstunde, als Herr Felice endlich daran dachte, Nr. 800 dem Kerkermeister zu übergeben. Im Augenblick der Trennung sagte er ihm nur die wenigen Worte: »Was ich heute erfahren habe, kann große Bedeutung haben.«

»Wie meinen Sie das?« fragte Nr. 800 mit zitternder Stimme.

»Ich werde nicht in Sie dringen, wenn Sie nicht von selbst sprechen wollen. Doch denken Sie wohl darüber nach! Ein wenig Vertrauen zu mir wird Sie nicht reuen.«

Der Sträfling senkte den Kopf und folgte seinem Wächter schweigend in die Zelle, wo ihn bald ein tiefer Schlaf übermannte und so den Rat des Direktors wenigstens für diese Nacht vergessen ließ.

Dagegen konnte Herr Felice lange keinen Schlaf finden, da er über das, was er mutmaßte, nachdenken mußte. Seiner Frau sagte er nichts, sondern wachte allein, bis er endlich in früher Morgenstunde einschlief. So kam er später als sonst in sein Bureau, wo er seinen Schreiber bereits in emsige Arbeit vertieft fand.

»Haben Sie heute nacht nachgedacht?« fragte er Nr. 800, sobald er mit dem Künstler von gestern abend allein war. »Und haben Sie einem Freunde nichts zu sagen?«

Fritz Neumüller suchte zu lächeln, ohne daß ihm dies gelingen wollte.

»Ja, ich habe nachgedacht,« antwortete er, »ich muß mich Ihnen anvertrauen, der Sie so gut sind. Nicht als ob ich erwarte, daß für mich daraus ein Vorteil erwachse, sondern um meinen Wohltäter nicht böse zu machen. Wenn Sie wollen, fragen Sie mich.«

Und der Gefängnisdirektor fragte mit leiser Stimme: »Sie haben weder mir noch jemand anderem jemals gesagt, daß Sie ein solcher Meister auf der Geige sind.«

»Man hat mich niemals danach gefragt,« war die Antwort nach einem kurzen Stillschweigen.

Der zartfühlende Herr Felice wollte durch seine nächste Frage den Unglücklichen nicht allzusehr aufregen, darum dachte er angestrengt nach, bevor er sie stellte. Endlich forschte er: »Hat der andere, der Tote, der als Violinvirtuos so berühmt gewesen ist, sein Instrument besser beherrscht als Sie?«

Da mußte Nr. 800, und diesmal ohne jeden Zwang, lächeln, als wollte er sagen, der Tote habe einen großen Ruf als Geiger genossen, doch stelle auch er seinen Mann.

Herr Felice gab sich aber mit diesem vielsagenden Lächeln nicht zufrieden, sondern behauptete kühn: »Flavio Campana spielte nicht besser.«

»Flavio Campana,« antwortete der Sträfling, »konnte auf seinem Instrument besser jubeln und triumphieren. Seine Geige lachte, meine versteht es nur zu weinen.«

Aber das tränenerfüllte Auge schien in der Seele des andern mehr noch lesen zu wollen.

»Von welchem Meister haben Sie Ihre Kunst gelernt?«

Die Antwort lautete stolz: »Die Kunst kann nicht gelehrt werden. Der Künstler wird geboren und bildet sich selbst seine Schule.«

»Ich hatte gedacht, daß Flavio Campana Ihr Lehrer gewesen sei.«

»Sie mögen recht haben. Er war es.«

Herr Felice wollte heute nicht noch mehr fragen, doch der Gefangene fuhr aus freien Stücken fort, seinem gütigen Ausfrager zu gestehen. »Alles will ich Ihnen sagen,« murmelte er, während seine Augen in die Weite zu blicken schienen. »Vor Gericht habe ich nicht gesprochen, weil ich es für unnütz erachtete. Niemand hätte mir geglaubt. Ich habe ihn im Duell getötet. Um eine Frau, die einst mein war und mich zärtlich geliebt hatte, zu schonen, habe ich mich nicht verteidigt. Doch jetzt wird auch sie mich wohl vergessen haben.«

Der alte Schmerz lebte in den Worten des Gefangenen wieder auf. Wie ein Hauch, den viele kummervolle Nächte gezeitigt hatten, breitete sich die Empfindung des Hasses über das edle Antlitz des Duellanten vom Monte della Disgrazia aus. Der Direktor glaubte jetzt klar zu sehen: er sprach von der Witwe Flavio Campanas, von der unglücklichen Frau ...

Doch der Sträfling leugnete dies. Nicht um Irma, dieses heilige Wesen, habe es sich gehandelt. Der Nebenbuhler habe seinen Verrat entdeckt und auf dem Schneefeld des Monte della Disgrazia rächen wollen. Auf einen Zweikampf nicht vorbereitet, habe der Freund fliehen wollen, aber, zur Verteidigung gezwungen, den andern, der sich zur Flucht gewandt hatte, in die Schultern getroffen. Um aber die Gefahr abzuwenden, daß der bewaffnete Gegner sich umwende und ihn in die Brust schieße, habe er noch einmal geschossen. Und die Ursache des Konflikts? Hatte Flavio Campana eine Geliebte? Zu einer und derselben Frau hatte sie beide die Liebe hingezogen. Und lebte diese Frau noch? Vielleicht! Vielleicht habe sie in einer neuen Liebe die alte schon längst vergessen. Sei es nicht doch Irma? Nein, nein, Irma sei eine Heilige ...

Die Enthüllung der Nr. 800 hatte das Dunkel ein wenig zerstreut, aber anderer Nebel war herabgestiegen. Bloß zwei Dinge waren für Herrn Felice nunmehr sicher: Nr. 800 war wirklich Fritz Neumüller und gewiß kein gemeiner Mörder. Aber vor dem blinden Auge des Direktors tauchte die Vision einer weiblichen Gestalt, der unglücklichen Frau Flavio Campanas, der schönen Irma, auf.


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