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64.

Es hat keinen Termin meinetwegen gegeben. Das Verfahren gegen mich wurde aus § 51 eingestellt und meine dauernde Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt verfügt. Einen Scheidungstermin gab es wohl, aber ich brauchte zu ihm nicht zu erscheinen, damals war ich schon entmündigt. Ein Obersekretär, vorne in der Verwaltung der Anstalt, ist mein Vormund geworden. Übrigens sind wir beide schuldig geschieden, aber Magda hat ihren Heinrich Heinze heiraten dürfen, über meinen Antrag ist gar nicht verhandelt worden. Ich bin ja nur ein Geisteskranker. Ich habe die Heiratsanzeige in der Zeitung gesehen. Jetzt haben sie zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen; sie haben die Geschäfte zusammengelegt – was geht mich das alles an? Was geht mich die Welt draußen noch an? Es ist mir alles gleichgültig geworden, ich bin ein alternder, abscheulich aussehender Bürstenmacher, mittlerer Arbeitsleistung, geisteskrank. Die Zeiten der ersten tobenden Verzweiflung sind längst vorbei, schon längst habe ich es aufgegeben, meinen Arm unter das Schneidemesser zu legen und zu versuchen, ob ich nicht vielleicht doch eine Minute meines Lebens mutig bin. Ich weiß, jede einzelne Sekunde meines Lebens war ich ein Feigling, bin ich ein Feigling, werde ich ein Feigling sein. Umsonst, auf etwas anderes zu warten. –

Ich genieße ein bestimmtes beschränktes Vertrauen im Hause, ich falle nie lästig, ich mache keinem Arbeit, ich sondere mich von den anderen ab. Ich darf mich ziemlich frei bewegen im Bau. Nur darf ich nie das Arztzimmer betreten, ohne daß der Oberpfleger dabei ist, das ist mir bei acht Wochen strengem Arrest verboten. Ich möchte es oft, ich könnte es manchmal, aber ich wage es nie. Ich bin eben feige.

Ich habe eine behagliche Stellung, ich habe immer genug zu rauchen und leide nie Hunger. Zweimal in der Woche kauft mein Vormund von den Geldern, die meine frühere Frau regelmäßig für mich einzahlt, ein für mich, was mein Herz begehrt und was zulässig ist. Ich kann nie verbrauchen, was eingezahlt wird, ich werde als wohlhabender Mann sterben. Ich ahne es nicht, wer mich beerben wird, es interessiert mich auch nicht. Mein früher errichtetes Testament ist durch die Scheidung hinfällig geworden, und ein neues darf ich nicht errichten, ich bin nämlich geisteskrank. Aber ich bin doch nicht so geisteskrank und apathisch geworden, daß ich nicht noch einen Plan hätte und eine kleine Hoffnung. Gewiß, den Gedanken an das Schneidemesser habe ich aufgeben müssen, aber ich kann erleiden, ich vermag zu ertragen, was über mich hineinbricht. Ich bin, wie ich wohl ohne Überheblichkeit sagen darf, ein großer Dulder.

Ich habe noch nicht erwähnt, daß wir im untersten Stock des Anbaus immer fünf oder auch sieben Tuberkulöse liegen haben, ehemalige Leidensgefährten, die man von uns isoliert hat. Sie bekommen immer etwas besseres und reichlicheres Essen und brauchen nicht mehr zu arbeiten, bis sie sterben. Diese Kranken haben kleine Fläschchen, in die sie ihren Auswurf spucken, und ihre Isolierung ist nicht so streng, daß ich, der ich mich ziemlich frei im Bau bewegen darf, nicht manchmal ein solches Fläschchen erwischen könnte. Ich trinke es dann einfach aus. Ich habe schon drei solcher Fläschchen ausgetrunken, und ich werde noch mehr austrinken. Nein, ich will nicht in diesem Totenhaus uralt werden und dann langsam verrecken, ich will einen Tod sterben, wie ihn alle draußen haben können – nach eigener Wahl. Ich bin sicher, ich bin heute schon tuberkulös. Ich habe ständig Stechen in der Brust und huste viel, aber ich melde mich nicht zum Arzt, ich verstecke meine Krankheit; ich will erst so krank sein, daß ich unter keinen Umständen gerettet werden kann. Und dann, wenn ich erst im Anbau liegen werde und die letzte Stunde ganz nahe ist, werde ich den Medizinalrat zu mir kommen lassen, und ich werde zu ihm sprechen: »Herr Medizinalrat, ich habe Ihnen viel Kummer und Ärger gemacht, und Sie haben es mir nie verzeihen können, daß Sie meinetwegen Ihr bereits erstattetes Gutachten wieder umstoßen mußten, wodurch Ihr Ruf als Psychiater bei den Gerichten gelitten hat, aber nun, da mein Tod ganz nahe ist, verzeihen Sie mir, und tun Sie mir noch einen letzten Gefallen.« Und er wird seinen Frieden mit mir schließen, weil ich ein Sterbender bin, und man einem Sterbenden nichts abschlägt, und wird fragen, was für ein Gefallen das ist.

Und ich werde wieder zu ihm sprechen: »Herr Medizinalrat, gehen Sie ins Arztzimmer und mischen Sie mir mit eigener Hand aus Alkohol und Wasser einen Schnaps, nur ein Wasserglas voll. Nicht so einen, daß ich sofort hinstürze und nichts von ihm habe, wie damals, sondern einen, der mich wirklich noch einmal glücklich macht.«

Und er wird mir meinen Wunsch erfüllen und mit dem Glas an mein Lager treten, und ich werde trinken, nach so vielen Jahren der Entbehrung endlich wieder trinken, Schluck für Schluck, in langen Abständen, voll das unendliche Glück auskostend. Und ich werde noch einmal jung werden, und ich werde die Welt blühen sehen mit allen Frühlingen und allen Rosen und den jungen Mädchen von eh und je. Eine aber wird vor mich treten und wird ihr bleiches Gesicht über mich, der vor ihr auf die Knie fällt, neigen, und ihre dunklen Haare werden mich ganz einhüllen. Ihr Duft wird um mich sein, und ihre Lippen auf den meinen liegen, und ich werde nicht mehr alt und verunstaltet, sondern jung und schön sein, und meine reine d'alcool wird mich hinauf zu sich ziehen, und wir werden entschweben, in Rausch und Vergessen, aus denen es nie ein Erwachen gibt!

Und wenn mir so geschieht in meiner Todesstunde, werde ich mein Leben segnen, und ich werde nicht umsonst gelitten haben!

 


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