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24.

Ich erwache, ich sehe um mich. Nein, ich bin nicht erwacht, noch träume ich. Was ich eben sah, war ein weißgekalkter Raum mit einem Eisengitter an seiner einen Seite – das ist noch etwas aus meinem Traum. Ich liege da, mit geschlossenen Augen, ich versuche mich zu erinnern ... da geschah doch etwas in der Nacht. Dann besinnt sich meine linke Hand. Ganz unwillkürlich tastet sie auf dem Fußboden entlang, und nun trifft sie auf die kühle Glätte von Glas. Sie hebt die Flasche zum Munde, und nun trinke ich wieder, mit geschlossenen Augen trinke ich noch einmal Schwarzwälder Zwetschgenwasser, wieder bin ich bei Elinor. Ich bin bei Elinor! Das Leben geht weiter, ich schwinge mich noch höher ... Ich habe nur eine Zeit geschlafen, und nun bin ich wieder bei Elinor.

Zwei, drei Schlucke, und nun ist die Flasche leer. Ich sauge an ihr: Kein Tropfen kommt mehr. Mit einem tiefen Seufzer stelle ich sie nieder und öffne wieder die Augen. Ich sehe eine weißgekalkte, recht schmutzige Zelle, die Wände von vielen Inschriften und schweinischen Zeichnungen zerkratzt. An der einen Wand sitzt sehr hoch, dort, wo sie schon schräg wird, ein kleines vergittertes Fenster. Dies Fenster steht offen, ich sehe durch die Öffnung einen blaßblauen, von matter Sonne erfüllten Himmel. Auf der vierten Seite hat diese Zelle ein festes Gitter aus Eisenstangen. Genau wie die Gitter an den Tierkäfigen in den Zoologischen Gärten. Außerhalb des Gitters steht ein Ofen, dann ist da noch eine Tür, die geschlossen ist. Ich bin gefangen! Ich sehe auf mein Lager. Ich liege in Kleidern auf einem jämmerlichen Eisenbett, auf einem Strohsack mit zerrissener Decke. Meine Zelle enthält sonst noch einen Tisch, einen Schemel und einen fürchterlich stinkenden Kübel. Ja, und dann enthält sie die Flasche, die ich soeben geleert habe ...

Ich springe von meinem Lager auf, ich hebe die Flasche gegen das Licht: Wirklich, es ist kein Tropfen mehr drin! Ich stelle sie endgültig fort, hinter den Kübel, und während ich dies tue, kommt ein Stück der Erlebnisse dieser Nacht zurück, blitzartig erleuchtet ...

Ich sehe die unordentliche, düster beleuchtete Gaststube, ich sehe mich, Erwin Sommer, den Inhaber eines Landesproduktengeschäftes, angesehenen Bürger von 41 Jahren, ich sehe mich, wie ich mit dem Gendarmen handgemein bin, wie ich mich mit Händen und Krallen meiner Verhaftung widersetze – wir wälzen uns am Boden, und die behäbige Wirtin mit dem weißen Scheitel, die sich so vor meiner Schußwaffe geängstigt hat, die jetzt aber weiß, daß ich mit meiner Schußwaffe nur geprahlt habe, sie versetzt mir während dieses Kampfes hinterlistige Tritte und Püffe, sie kneift mich und fährt plötzlich mit allen fünf Fingern in mein Gesicht, alles, während ich mit dem Gendarmen um meine Freiheit kämpfe. Und im selben Augenblick während dieses Kampfes sehe ich Elinor, die mit einem unergründlichen Lächeln auf uns beide Kämpfenden schaut, aber nicht einen Finger rührt, um dem einen oder anderen Kämpfenden zu helfen. Kein Wort auch spricht sie.

Und doch hätte ich mich vielleicht freigekämpft, denn in mir tobte ein Entsetzen, daß ich, ein gesitteter Bürger, wie ein X-beliebiger in ein richtiges Gefängnis abgeführt werden sollte, ich, ein angesehener Mann, vor dem viele Leute zuerst den Hut zogen, ins Kittchen – ja, diese Verzweiflung gab mir solche Kräfte, daß ich mich wohl doch noch von dem Wachtmeister freigekämpft hätte – wenn nicht Elinor gewesen wäre. In irgendeinem Moment unseres Kampfes, wohl gerade in dem Augenblick, da sich der Sieg mir zuneigte, stand sie plötzlich bei uns mit einer Flasche von meinem Schwarzwälder Zwetschgenwasser; sie sagte sanft lächelnd und strahlte mich dabei mit ihren hellen Augen freundlich an: »Seien Sie doch friedlich, altes Papachen! Der Wachtmeister erlaubt Ihnen auch, sich eine Flasche Schnaps mitzunehmen. Es ist ja nur für eine Nacht, altes Papachen, bis Sie Ihren Rausch ausgeschlafen haben ...«

Damit war mein Kampfmut gelähmt, und sie wurden leicht Herr über mich. Wieder verführten mich der Alkohol und Elinor (das war wohl das gleiche Gift: Alkohol und Elinor); so oft schon hatten sie mich getäuscht und in die beschämendsten Niederlagen hineingeführt, aber ich war noch immer nicht klug geworden. Für eine Flasche Schnaps verkaufte ich meine Aussicht auf Freiheit. Und da stand sie nun, dort hinten, bei dem stinkenden Kübel: leer. Und hier stand ich, zwischen gekalkten Wänden, hier ein Eisengitter, dort oben, nahe der Decke, ein kleines Fensterloch. Ohne Freiheit. Ohne Elinor. Ohne Schnaps.

Und plötzlich fällt mir noch eine Schlußszene, eine allerletzte Szene von diesem Abend her ein, eine so beschämende Szene, daß ich die Fäuste balle und die Zähne zusammenbeiße ... Wir sind handelseins geworden, der Gendarm und ich. Er hat viel von seinen Dienstvorschriften geredet, aber ich habe ihm wohl Scherereien genug gemacht, und er hat wohl auch Befürchtungen, daß ich ihm bei dem Weg durch die Nacht noch Schwierigkeiten mache ... Er hat eingewilligt, daß ich die Flasche Schnaps noch mitnehmen darf; ich trage sie mit losem Korken griffbereit in der Hosentasche. Dafür habe ich ihm mein Ehrenwort gegeben, ihm nicht wieder zu widerstehen und keinen Fluchtversuch zu machen. Trotzdem hat er mir ein kleines stählernes Kettchen um das rechte Handgelenk gelegt, er mißtraut vielleicht dem Ehrenwort eines Betrunkenen doch ein bißchen. Und nun stehen wir unter der Tür, ich habe mich umgewendet und habe zu Elinor gesagt: »Gute Nacht, Elinor, ich danke dir auch für alles, Elinor.«

Und sie antwortet mit gleichmütiger Stimme: »Gute Nacht, altes Papachen, schlaf auch schön« – grad als wäre ich irgendein beliebiger Stammgast, der nach seinem Abendschoppen zum friedlichen Ehebett heimgeht. Also, hiernach wollen wir nun wirklich gehen, ich und der Wachtmeister, da ruft die Wirtin plötzlich mit schriller Stimme: »Und mein Wein? Und mein Schnaps?! Und die zerbrochenen Gläser?!! Der Lump hat ja noch nicht bezahlt, der besoffene, Herr Wachtmeister! Das geht doch nicht! Lassen Sie ihn erst zahlen.«

Der Wachtmeister sieht mich erst bedenklich an, seufzt und fragt dann leise: »Haben Sie Geld?«

Ich nicke.

»Also dann bezahlen Sie, daß ich endlich nach Haus komme!« Und laut: »Wieviel macht's denn?«

Die Wirtin rechnet, dann sagt sie: »Siebenundsechzig Mark einschließlich Bedienung. Und richtig, dann noch das Telefongespräch, durch das ich Sie gerufen habe, Herr Wachtmeister. Macht alles zusammen siebenundsechzig Mark zwanzig.«

Ich greife in meine Tasche. Ich bringe ein bißchen Geld hervor. Ich greife in die Brusttasche meines Jacketts: sie ist leer. Plötzlich erinnere ich mich ... Ich sehe auf Elinor hin, erst mit einer stummen Frage, dann bittend, auffordernd, drängend ... Ich kann doch hier nicht auch als Zechpreller dastehen! Elinor sieht nicht auf mich, mit einem unergründlichen schwachen Lächeln blickt sie auf das Geldhäufchen, das ich auf einen Tisch gelegt habe. Dann gleitet ihr Blick von dort fort und zur Wirtin hin ... Elinors Lippen öffnen sich ein wenig, das Lächeln um ihren Mund verstärkt sich ... die Wirtin ist auf das Geld losgeschossen und hat es im Nu durchgezählt.

»Dreiundzwanzig Mark«, schreit sie kreischend. »Sie Lump, Sie verdammter Zechpreller, Sie! Erst stehlen Sie mir meine Nachtruhe und bedrohen mich mit einem Revolver und dann ...«

Sie schilt immer weiter, der Wachtmeister hört gelangweilt und gähnend zu. Schließlich, als die Wirtin mir gar wieder mit ihren Krallen ins Gesicht fahren will, wehrt er sie ab und sagt: »Jetzt ist's genug, Frau Schulze.« Und zu mir: »Haben Sie wirklich nicht mehr Geld?«

»Nein!« sage ich und sehe Elinor fest dabei an. Diesmal sieht sie mich wieder an, ebenso fest, ohne eine Spur von Lächeln. Und nun tut dieses Mädchen blitzschnell wieder etwas Erstaunliches: sie greift in den Ausschnitt ihrer Bluse und zieht für einen Augenblick den mir abgenommenen Packen Geldscheine hervor. Ich sehe den blauen Schimmer der Hundertmärker. Im Mundwinkel erscheint Elinors Zungenspitze, spöttisch lächelt das Mädchen jetzt. Der Packen Geld verschwindet wieder im Busen. Sie legt die Hand auf die Brust, hebt sie ein wenig an, daß ich den schönen, vollen Ansatz sehe, und dann wendet sie sich endgültig von mir ab, geht hinter die Theke.

Oh, wie klug und raffiniert sie ist: gerade im richtigen Moment erinnerte sie mich an mein Wort, aber meinem Wort nicht ganz trauend, erinnerte sie mich auch an die Verbundenheit unseres Fleisches. Bittersüß, von einem kalten Feuer, eine Geliebte, die sich mir nie ganz hingeben, die ich nie ganz besitzen würde – die wahre Königin des Alkohols!

»Nein«, sage ich mit trockener Stimme, »mehr Geld habe ich nicht bei mir. Aber senden Sie die Rechnung an mein Kontor, meine Frau wird sie sofort bezahlen.«

Die Wirtin keift: »Ihre Frau wird Besseres zu tun haben, als die Rechnungen eines Säufers zu bezahlen! Wachtmeister, kehren Sie seine Taschen um, vielleicht hat er doch noch etwas bei sich ...«

»Nichts«, sage ich. »Aber ich habe eine Tasche draußen stehen, Herr Wachtmeister, wenn ich die holen darf ...?«

Wir holen die Aktentasche, meinen Einkauf in jenem kleinen Luftkurort, herein. Ich breite meine Einkäufe aus: meine beiden papageienbunten Pyjamas, das raffinierte Toilettenzeug, das französische Parfüm ... Wie lange ist es her, daß ich dies alles, weltmännisch scherzend, von jungen Mädchen einkaufte? Ich werde es nie benutzen! Wie lange ist es her, daß ich auf der Seeterrasse dort grünen Aal zu Burgunderwein aß und Betrachtungen darüber anstellte, ein wie behagliches Leben ich als zur Ruhe gesetzter Kaufmann führen würde? Wie lange? Erst gute zwölf Stunden! Und nie werde ich dieses behagliche Leben führen! Jetzt trage ich eine Kette um das Handgelenk und werde als Verbrecher von der Polizei eskortiert! O ade, gutes Leben!

»Was soll ich mit dem feinen Krimskrams?!« zetert die Wirtin. »Sieben Haut- und Nagelscheren allein! Das kann ich nicht brauchen. Ich will mein Geld haben! Und diese gemeinen Schlafanzüge!«

Aber ihrer Stimme ist anzuhören, daß dies nur ein Rückzugsgefecht ist, ihre Gier ist erwacht.

»Ich habe um hundert Mark herum dafür bezahlt«, sage ich. »Und draußen stehen auch noch zwei Flaschen Schwarzwälder und eine Flasche Korn – die sollen Sie auch noch haben –, sind Sie nun zufrieden?«

Sie zetert noch ein wenig, aber dann gibt sie sich zufrieden.

»Aber die Flasche Parfüm möchte ich Ihrem Mädchen als Trinkgeld schenken«, sagte ich und nahm sie.

»Meinethalben«, sagt die Wirtin. »Mit solchem Nuttenzeug mag ich mich nicht einstinken.«

Und sie probiert, ob die Hose des bunten Pyjamas auch lang genug für sie ist.

»Elinor!« rufe ich durch das Lokal, denn ich kann wegen der Kette nicht fort von dem Wachtmeister. »Hier habe ich noch eine Flasche echt französisches Parfüm für dich ... Komm, Mädchen!«

»Ach, lassen Sie mich zufrieden!« ruft sie mürrisch zurück. »Ich habe jetzt wirklich genug von Ihnen. Bringen Sie den Kerl doch weg, Wachtmeister, ich möchte ins Bett!«

Die brutale Rücksichtslosigkeit, mit der sie mich im Stich ließ, sobald sie ihren Zweck erreicht hatte, raubte mir fast den Atem. Dann rief ich: »Verläßt du dich nicht ein bißchen sehr auf meine Anständigkeit, Elinor?« scharf durchs ganze Lokal.

»Bringen Sie den besoffenen Trottel weg, Wachtmeister!« schrie sie jetzt. »Ich will nicht mehr von ihm angequatscht werden. Er war mir immer eklig, hoffentlich behaltet ihr ihn ewig im Kittchen!«

Ich begriff, in einem Augenblick begriff ich. Jetzt war ihr mein Geld sicher, ich hatte selbst seinen Besitz geleugnet. Und sie trug es bestimmt nicht mehr bei sich, sie hatte es schon irgendwo hinter der Theke versteckt. Nun ließ sie die Maske fallen – ich war ein ekelhafter Trottel. Wahrhaftig, ich war es wirklich. Wie gut, daß ich noch eine Flasche Schnaps zum Trost in der Tasche hatte! Aber wie, wenn mich nun auch der Schnaps verließ?

»Also kommen Sie endlich!« sagte der Wachtmeister und zog am Kettchen.

Ich folgte ihm wortlos. Der Gendarm setzte sich auf sein Rad und radelte, für einen Radler langsam, für einen Fußgänger reichlich schnell, los. Ich trabte nebenher. Im Gefängnis des großen Nachbardorfes, in demselben Ort, an dem ich mit der Bahn am Abend vorher eingetroffen war, lieferte er mich ein.


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