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35.

Drei oder vier Tage habe ich noch in der Zelle beim schimpfenden Duftermann gelegen, habe arge Schmerzen ertragen und mein unseliges Schicksal verflucht. Jeder Gedanke war mir vergangen, mich an Magda zu rächen oder die Scheidung zu beantragen, ich wäre froh gewesen, hätten sie mich heimgehen lassen zu ihr. Ich wäre auf die Knie vor ihr gefallen und hätte sie um Verzeihung gebeten, und sie hätte mich aufnehmen können wie einen verachteten Sklaven, es wäre mir recht gewesen. Aber auch das war nur eine Stimmung gewesen, die nicht von Bestand war. Meine Gefühle für Magda sollten sich noch manches Mal ändern. Den Holzhof habe ich nie wiedergesehen und auch nicht meinen Kumpel Mordhorst. Seltsam, in meiner Erinnerung ist es mir heute, als seien es schöne, friedliche Stunden gewesen, die ich dort am Sägebock verbracht habe, mit meiner blauen Gefangenenjacke angetan, über mir die Kronen der Apfel- und Birnbäume und den durchsonnten Himmel.

An einem späten Nachmittag dann, ich war wieder ganz über das Geschimpfe des mörderischen Brandstifters Duftermann verzweifelt, rasselte zu ganz ungewohnter Zeit das Schloß in der Zellentür, der Wachtmeister kam herein und rief: »Sommer, sofort aufstehen und Ihre Sachen packen! Sie werden entlassen!«

Ich fuhr hoch von meinem Lager und starrte den Wärter mit weit aufgerissenen Augen an.

»Entlassen?« flüsterte ich, und mein Herz pochte stark. Also doch! Also doch!

»Ja, entlassen«, sagte er erbarmungslos, »in die Heilanstalt. Los, los, Mann, packen Sie Ihre Sachen zusammen! Denken Sie, wir haben soviel Zeit für Sie?«

»Ach so«, sagte ich langsam und fing an zu packen. »Ach so – in eine Heilanstalt.«

Der Duftermann sah mir scharf auf die Finger, daß ich auch nichts von seinem kostbaren Eigentum einpackte, und dabei redete er auf den Wachtmeister ein, wie froh er sei, daß ich fortkomme, ich sei der schlechteste Zellengenosse von der Welt gewesen, nie habe ich ein vernünftiges Wort geredet, und mein Krachmachen des Nachts sei einfach unerträglich gewesen. Ich bin ohne ein Wort von ihm gegangen, ich habe ihn nicht einmal mehr angesehen.

Unten, im Büro des Inspektors, stand ein fremder Wachtmeister, und er sah mich prüfend an, und ich sah wohl, daß er bei meinem Anblick das Gesicht verzog. Ich trug noch meinen Nasenverband.

»Ja«, sagte der Inspektor, »das ist der Mann, dem ein anderer Gefangener die Nase hat abbeißen wollen. Sie haben wohl davon gehört, Wachtmeister?«

Der hatte davon gehört.

Der Inspektor setzte hinzu: »Es ist aber soweit ein ganz ordentlicher, ruhiger Mann, ich glaube, Sie können ihm die Kette ersparen, Wachtmeister.«

»Nein, nein!« sagte der Wachtmeister eifrig. »Ich bin für den Mann verantwortlich, nachher läuft er mir fort ...«

»Das tun Sie, Wachtmeister, wie Sie es für richtig halten«, sagte der Inspektor wieder. »Ich habe bloß meine Meinung gesagt. Hören Sie, Sommer«, wandte er sich nun an mich, »quittieren Sie hier mal, daß Sie all Ihre Sachen von uns zurückerhalten haben. Ihr Geld schicken wir Ihnen mit der Post nach ...«

»Senden Sie es bitte an meine Frau«, sagte ich mit plötzlichem Entschluß. »Ich brauche kein Geld mehr.«

»Auch gut«, sagte der Inspektor gleichmütig, und damit war ich entlassen.

Der Wachtmeister legte mir das Kettchen um das Handgelenk, und so bin ich denn durch meine Vaterstadt zum Bahnhof geführt worden, es hat mich aber nicht geniert. Wie gesagt, trug ich noch meinen Nasenverband; selbst Magda hätte mich nicht erkannt.

 

15. 9. 44

Ich sah manchen auf der Straße, mit dem ich mich sonst gegrüßt hätte, und mancher oder manche sah mich an, aber es betraf mich alles nicht mehr so recht. Als mein eigenes Gespenst ging ich durch die Stadt, in der ich einstens geboren wurde, auf deren Gassen ich als Kind gespielt hatte; auf der Bank dort drüben hatte ich einmal mit Magda gesessen, damals trug sie noch einen Zopf, und wir hatten beide Schultaschen unter dem Arm ... Nun gingen wir an meinem eigenen Geschäft vorüber, ›Erwin Sommer, Landesprodukte en gros und en detail‹ stand noch auf den Milchglasscheiben – wie lange noch? Und am Kettchen geführt, einen Handkoffer in der freien Hand, ging derselbe Erwin Sommer daran vorbei, lebendig und doch schon gestorben für all dies, noch gab es Spuren seines Lebens – wie lange noch?

»Ich bin erst einundvierzig Jahre alt«, sagte ich zu meinem Transporteur.

»Was meinen Sie denn damit?« fragte der junge Beamte streng. »Was wollen Sie denn damit sagen?«

»Ach, nichts weiter, Herr Wachtmeister«, antwortete ich. »Aber wenn man mit einundvierzig Jahren bei lebendigem Leibe schon tot und gestorben sein soll ...«

»Ach was, machen Sie sich doch nicht sone Gedanken«, sagte der Wachtmeister friedlich. »In der Heilanstalt, wohin ich Sie bringe, haben Sie es doch besser als im Kittchen, und Sie machen doch einen ganz vernünftigen Eindruck, vielleicht kommen Sie auch noch mal wieder raus. – Wissen Sie was?« fuhr er immer menschlicher fort, »wenn wir nachher im Zuge sitzen, nehme ich Ihnen auch die Kette ab, und draußen lege ich sie Ihnen auch nicht wieder an. Es ist doch bloß hier in der Stadt; man weiß doch nie, was euch Brüdern plötzlich durch den Kopf fährt.«

Ich schwieg. Er meinte es gut, aber er ahnte nicht, wie gleichgültig mir das Kettchen war. Aber er hatte bei seinen ungeschickten Trostversuchen ein Wort gesagt, das mich in meiner niedergedrückten Stimmung wie ein Blitz getroffen hatte. ›Vielleicht kommen Sie auch noch einmal wieder raus‹, hatte er gesagt! Vielleicht ... auch noch einmal wieder ... Und ich hatte mit einer sechswöchigen Unterbringung zur Beobachtung gerechnet, so hatte mich Mordhorst belehrt.

Vielleicht ... auch noch mal wieder ...

War das nur so dahingeredet von dem Wachtmeister, oder wußte der Mann wirklich etwas? Er hatte ja meine Papiere! Natürlich wußte er was: Ich sollte eingesperrt werden auf Lebenszeit! Wirklich lebendig gestorben, wie ich eben gefühlt hatte. Wie ein Schleier lag es vor meinen Augen, und die Sonne, durch die wir gingen, die allen schien, mir schien sie nicht mehr. Nie wieder schien sie mir. Oh, diese Angst ...


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