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29.

Also, ich hatte mich freiwillig zur Arbeit gemeldet. Der Oberwachtmeister Splittstößer gab mir eine ganz neue blaue Jacke als Gefängniskluft heraus, und ich wurde mit zehn oder zwölf anderen auf einen von hohen Mauern umgebenen Gefängnishof geführt, wo Berge von Holz lagen. Auch wir hatten wohl früher das Anmachholz für unsere Zentralheizung, das wir in Klaftern auf der Försterei gekauft hatten, zum Gefängnis fahren und dort zerkleinern lassen. Ich hatte mir nie einen Gedanken darüber gemacht, wer da wohl mein Holz gesägt und gehauen hatte. Nun stand ich selber alle Tage acht Stunden am Sägebock, mir gegenüber ein vielfach vorbestrafter gewohnheitsmäßiger Einbrecher, Mordhorst mit Namen; gemeinsam zogen wir acht Stunden lang die Säge durch Kiefern-, Buchen- und Eichenholz. Ein Posten ging bei uns auf dem Hof hin und her und paßte auf, daß nicht gar zu viel geredet und gar zu wenig gearbeitet wurde – aber nun war ich es, der das Holz für die Bürger meiner Vaterstadt sägte, und diesmal würde der Kaufmann Hölscher, für den wir gerade arbeiteten, auch nicht mit einem Gedanken daran denken, daß es sein langjähriger Kunde Sommer war, der ihm diese Arbeit verrichtete. Zu Anfang störte es mich noch sehr, daß die vierte Seite des Hofes vom Landgerichtsgebäude begrenzt war, viele Fenster sahen auf mich und meine in blauer Gefängniskluft steckenden sägenden Arme herab, aber in wenigen Tagen war ich auch daran gewöhnt und drehte kaum den Kopf, wenn Mordhorst flüsterte: »Der Staatsanwalt steht mal wieder im Fenster und will sehen, ob wir uns auch unseren Fraß verdienen. Säg langsamer, Kumpel. Wenn der kiekt, will ich gar nicht arbeiten.«

Mordhorst war ein kleiner, drahtiger Mann mit einem verbitterten, faltigen Gesicht und pfeffergrünem Haar. Weit über die Hälfte seines Lebens hatte er in Zuchthäusern und Gefängnissen verbracht. Das war ihm so selbstverständlich, daß er gar nicht davon sprach. Er bereute nichts, sehnte sich nie nach einem anderen Leben. Von seinen Straftaten erzählte er nie etwas, so wie ein Handwerksmeister auch nicht von seiner beruflichen Tätigkeit spricht. Einbrechen war für ihn wie Hosennähen für einen Schneidermeister. Erst von anderen Gefangenen hörte ich, daß Mordhorst in der sogenannten Verbrecherwelt ein weitberühmter Mann war, er konnte den modernsten Geldschrank bewältigen, und er war bekannt dafür, daß er stets ohne ›Kumpel‹, ohne Gehilfen arbeitete. Er war ein Einzelgänger, ein typischer Feind der Gesellschaft. Ihn wurmte allein, daß er in solch einem ›Drecknest‹, wie er meine Vaterstadt nannte, hängengeblieben war, bloß wegen ›Mist‹. Er war auf der Reise nach Hamburg, wo er etwas Großes durchführen wollte, hier für einen Tag hängengeblieben und hatte bloß nachts, weil er angetrunken war und nichts zu rauchen in der Tasche hatte, den Rauchwarenkiosk auf unserem Marktplatz aufgebrochen. Dabei hatten sie ihn geschnappt.

»Denk doch bloß an, Mensch«, konnte sich Mordhorst ereifern. »Ich hatte drei Blaue in der Tasche, ich hätte mir in meiner Absteige so viel zu rauchen kaufen können, wie ich nur wollte. Bloß weil ich duhn war! Und nun werden sie mir wegen so einem Mist fünf Jahre Zet aufknacken, in die Luft könnte ich gehen, wenn ich daran denke!«

Bei mir fand ich es ganz egal, ob Mordhorst wegen einer großen Geldschrankknackerei oder wegen eines kleinen Rauchwarendiebstahls fünf Jahre Zuchthaus bekam, fünf Jahre würden es unter allen Umständen. Aber ich hütete mich wohl, das laut auszusprechen, denn Mordhorst war auch ein hitziger, jähzorniger Mann, und hatte mir im Anfang gewaltig mit Wutausbrüchen zugesetzt, wenn ich unerfahrener Neuling die Säge wieder so ungeschickt geführt hatte, daß sie klemmte. Einmal wollte er mir sogar in seiner Wut mit einem Stück Holz über den Schädel schlagen, nur das Dazwischentreten des Wachtmeisters rettete mich vor einem Niederschlag.

Nach fünf Minuten war Mordhorst dann wieder normal und vernünftig, ich glaube, ihn hatten die langen Haftjahre so hemmungslos und wild gemacht. An seinem Hirn nagte bestimmt ein Wurm; wer Jahre und Jahre in einer Zelle umhergeht, immer nur auf den Tag der Entlassung, der Freiheit wartend, und wer dabei im tiefsten Innern weiß, daß auch der längste Aufenthalt in der Freiheit nur ein Gastspiel von höchstens einigen Monaten sein wird, dann wieder Jahre und Jahre härtesten Wartens folgen werden – der kann nicht normal bleiben.

Ich selbst habe viel von Mordhorst gelernt. Er wußte alles über Gerichte, Gefängnisse und Zuchthäuser. Es war ganz erstaunlich, wie gut dieser kleine, schweigsame Mann, der mit niemandem Gemeinschaft zu haben schien, über alles und jedes unterrichtet war. Er wußte, was für Fleisch wir am Sonntag bekommen würden und was der neu eingelieferte Mann in Zelle 21 ausgefressen haben sollte. Er kannte die Familienverhältnisse, das Gehalt und die Sorgen jedes Wachtmeisters. Er konnte mit einem Hosenknopf, einem Zwirnsfaden und einem Stein Feuer machen für eine Zigarette. Er hatte immer zu rauchen und immer etwas extra zu essen, obgleich niemand Freßpakete für ihn abgab. Er hatte stets Geld in der Tasche, was streng verboten war, er besaß ein Messer (ebenfalls verboten) und hatte irgendeinen Weg, Briefe ohne die Zensur des Staatsanwaltes aus dem Gefängnis zu schmuggeln. Er kannte eben all die unterirdischen Wege, die mit der Zeit sich in jeder menschlichen Gemeinschaft eröffnen, sie mag noch so streng beaufsichtigt sein. Ich war für ihn immer ein Neuling, ein wahrer Säugling, er gab mir ein bißchen von seiner Lebenserfahrung ab, ließ sich aber nie mir gegenüber zu irgendwelchen Geständnissen hinreißen. Ich sah aber wohl, daß er mit anderen Gefängnisinsassen anders umging. Alte Kittchenbrüder verständigen sich mit einem Blick und einem Augenzwinkern. Sie gingen hintereinander her, sie haben kaum die Lippen bewegt, und schon ist irgendwas von der einen in die andere Hand geglitten. Die Wachtmeister ließen Mordhorst viel mehr Freiheit als zum Beispiel mir. Sie drückten bei ihm ein Auge zu, er konnte sich vieles erlauben. Vielleicht hatten manche Angst vor ihm, weil er so viel wußte, ich glaube aber eher, sie scheuten die Scherereien, die das Anbinden mit einem so gefährlichen Mann notwendig mit sich bringen mußte. Wenn er fünf Minuten lang tatenlos am Sägebock gestanden hatte, und ich flüsterte ihm zu: »Du, säg wieder los! Der Wachtmeister guckt ständig her«, tat Mordhorst nichts dergleichen. Und kam dann der Wachtmeister wirklich zu uns und sagte: »Na, Mordhorst! Nun ist's aber genug gefaulenzt, nun mal wieder ran!« so sagte er hitzig: »Schinde ich mich nicht schon genug für meine dreißig Pfennig am Tage?« (Wir bekamen nämlich dreißig Pfennig ›Arbeitsbelohnung‹ am Tag, die für den Tag der Entlassung gutgeschrieben wurden.) »Soll ich mir die Haut von den Pfoten schuften für die Speckjäger, die?!«

Und er sah böse zu den Fenstern des Landgerichts hinüber. Der Wachtmeister lachte dann meist und sagte: »Du hast mal wieder deinen Koller, Mordhorst! Der Staatsanwalt wird von deinem Sägen nicht fetter und nicht magerer ...«

Mordhorst aber murrte: »Man weiß, was man weiß«, griff in den Sägebügel, den ich ihm hinhielt, und weiter sägten wir, Schnitt um Schnitt, Kloben um Kloben, Stunde um Stunde.

Es waren eigentlich gute Stunden, die wir dort auf dem Holzhof abmachten. Heute denke ich nicht ungern an sie zurück, so endlos und schwer sie mich damals auch dünkten. Nach den unvermeidlichen Gliederschmerzen, die mir die ungewohnte Arbeit erst eintrug, gewöhnte sich mein Körper rasch an die Sägerei, die Arbeit half mir, die Abstinenzerscheinungen leichter zu überwinden. Der Frühling ging jetzt so langsam in den Sommer über, auf dem Hof standen hohe Obstbäume, Birnen und Äpfel, in deren Schatten wir den Sägebock rückten, wenn die Sonne gar zu heiß brannte; die Sägen knirschten und schrien manchmal, wenn sich ein Span gegen das Blatt stemmte, eintönig klang das Klopfklopf der Holzfäller zu uns herüber; jenseits der Mauer, unsichtbar, lärmten Kinder bei ihren Spielen auf der Straße. Wir zogen erst die Jacken, dann die Westen aus; manche arbeiteten auch mit ganz entblößtem Oberkörper, wozu ich mich nie entschließen konnte; die Stunden flössen vorüber, das Leben glitt dahin, ich lebte in einem – täuschenden – Gefühl von Sicherheit und Regelmäßigkeit. Die Zeiten der Unordnung und Gefahren schienen vorbei, und es kam mir so leicht vor, dieses Leben auch draußen fortzusetzen, ein stilles, friedliches Leben, fast ohne Zukunft. Leise sprachen Mordhorst und ich davon, was es heute abend zu essen geben würde, und wie das Essen heute mittag gewesen war – das Essen spielte eine Hauptrolle in unseren Gesprächen, auch ich bekam wie Mordhorst keine Freßpakete und war noch mehr als er auf die Gefängniskost angewiesen. Dabei war er ein besserer Kamerad als Duftermann, der Wohlversorgte; jeden Tag brachte er mir etwas mit, eine Kleinigkeit, die draußen gar keinen Wert gehabt hätte, etwa eine Zwiebel, die ich mit dem Löffel zerstückelte und mir aufs Brot legte, oder eine Zigarette und ein Streichholz; dann rauchte ich abends nach dem Einschluß, wenn der Bau ruhig geworden war, behaglich meinen Glimmstengel. Ja, im Gefängnis habe ich das Rauchen gelernt, sehr zum Ärger Duftermanns, der die Luft stets mit dem Qualm seiner Zigarren erfüllte und Zigarettenrauchen als weibisch verachtete. Ich ließ ihn aber ruhig reden, damals war mir das schon ganz egal.

Ja, Mordhorst, ein solcher Menschenfeind er auch war, half mir viel, er wurde auch ein ausgezeichneter Berater in ›meiner Sache‹, ein besserer als der Rechtsanwalt, der zu mir kam. Leider bin ich in die erste Vernehmung vor dem Untersuchungsrichter noch ohne Mordhorsts Rat gegangen und machte dabei einen schweren Fehler, wie ich später begriff.


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