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Achtes Kapitel.

Zweiter Feldzug gegen den Dachs mit den Bundesgenossen Mücke und Friesicke und vielen, vielen Schüssen – doch Fridolin paßt auf.

 

Im Anschluß an die Erlegung der beiden Füchse Isoleus und Isolina verbreitete sich im Dorf rasch die Kunde, der Jagdaufseher habe den verlassenen Otterbau am Südhang des Baumwerder als ihre Räuberhöhle festgestellt. Jede Spur führe dorthin, und um den Bau herum liege alles voll Hühnerknochen. Daraufhin machten manche über das Eis oder durch den Schnee einen Spaziergang zum Baumwerder.

»Aha!« sprach der Vater Ditzen, hob von der Knochenstätte den Brustbeinknochen einer Gans auf und steckte den ›Springer‹ als Spielzeug für Achim in die Tasche. »Aha, da werden es die Füchse deinem Freunde, dem Dachs Fridolin, schon besorgt haben, Mücke!«

Die Mücke nickte betrübt, aber nur wenig betrübt. Jener Augusttag, da sie den putzigen kleinen Kerl bei seinem Sonnenbade beobachtet hatte, lag ferne. Es war soviel seitdem geschehen, Fridolin war nur noch eine Erinnerung, kein Stück Leben mehr für sie.

Und in der nächsten Zeit geschah noch viel mehr: das Ende des Februar brachte Tauwinde, das Eis auf dem See wurde grau und streifig, und die Mutter warnte davor, es zu betreten. Dann, eines Morgens, war es ganz verschwunden; man mußte sich wundern, wohin soviel Eis so schnell verschwunden war. Der Vater erzählte, es habe sich voll Wasser gesogen und sei auf den Grund gesunken.

Schritt für Schritt, immer schneller kam der Frühling, plötzlich war er da. Eben noch hatte man dem ersten Vogelsingen gelauscht, im Garten die frühen Krokusse bewundert, und schon war alles grün; die Obstbäume hatten schon wieder ausgeblüht, und man trug den ersten Flieder ins Haus und stellte ihn in Vasen.

In dieser Zeit gab es schrecklich viel zu tun auf dem Acker, im Garten und im Geflügelstall. Die Gössel schlüpften, die Mutter säte den ersten Möhrensamen ins Freiland, und der Vater streute mit Matthä Stallmist auf den Acker. In diesem Jahre gab es mehr Arbeit denn je. Jeder, der Arme hatte, mußte mit zufassen, und die Mücke, die jetzt nur noch über Sonntag oder in den Ferien zu Hause war, sonst aber in der Stadt dem Schulbesuch nachging, die Mücke schloß sich von dieser wilden Arbeiterei natürlich nicht aus.

Im Gegenteil, sie half mit Begeisterung, und diesmal nicht nur der Mutter, nein, sie half auch dem Vater und dem Matthä beim Maislegen. Er wurde wieder auf dem Seeacker gelegt, natürlich aber auf ein anderes Beet. Die Mücke war es, die beim Einschütten neuer Maiskörner in die Säschürze gedankenvoll sagte: »Hoffentlich kommt in diesem Jahre nicht wieder ein Fridolin in unseren Mais!«

»Rede bloß so etwas nicht, Mücke!« rief der Vater ganz erschrocken. »Es gibt doch keinen Dachs mehr. Die Füchse haben deinen Fridolin doch erledigt, du erinnerst dich doch?«

»Natürlich, Papa«, antwortete die Mücke, und dann wurde von dem Dachs nicht mehr gesprochen.

Der Vater war aber so erschrocken gewesen, weil der Mais ihm in diesem Jahre noch lieber war als in allen vorangegangenen. Nicht nur weil das Futter knapp war, sondern weil er diesmal den Maisacker mit eigenen Händen zurechtgemacht, weil er den Mais selbst mitgelegt hatte, weil ihm der Buckel von der ungewohnten Arbeit gründlich weh tat. Es ist nun einmal so, daß man das selbst mit Mühe und Plage Erworbene vielmehr schätzt als das Geschenkte, als das, was einem ohne eigenes Zutun zuwächst.

Der Vater lernte in den kommenden Wochen den Mais noch viel mehr lieben, denn er mußte ihn eigenhändig nicht weniger als viermal hacken; das Unkraut wuchs in diesem Jahre wie toll. Sein Rücken wollte sich überhaupt nicht mehr über die Zumutungen, die an ihn gestellt wurden, beruhigen. Dafür entwickelte sich der Mais aber wundervoll, es war, als wollte er mit seinem fehlerfreien, lückenlosen Wuchs alle Mühe vergelten, die an ihn gewendet worden war. Dem Vater lachte das Herz im Leibe, wenn er seinen Mais ansah; in diesem Jahre besuchte er ihn viel öfter, es gab Zeiten, da er ihm alltäglich einen Besuch abstattete.

Darum verdüsterte sich auch seine Miene gewaltig, als er erfuhr, daß der Dachs sich wieder gezeigt hatte. Die Hühner brachten es an den Tag; wieder gab es Löcher unter dem Zaun, durch die das Geflügel in den Gemüsegarten schlüpfte. Der Vater sagte nicht viel zu dieser bösen Kunde, so erwartungsvoll ihn auch seine beiden Kinder Uli und Mücke von der Seite ansahen. Es gab diesmal keine feierliche Kriegserklärung, aber das Herz des Vaters war voll grimmer Entschlossenheit: »Rühre du meinen Mais an!« dachte er.

Der Gemüsegarten war dem Vater nicht so wichtig, im Gemüsegarten hatte die Mutter gearbeitet, für den Gemüsegarten hatte des Vaters Buckel nie geschmerzt. Aber der Vater Ditzen holte immerhin pflichtgetreu das alte, rostige Tellereisen vom Boden und stellte es regelmäßig in den Zaunlöchern auf. Wenn er es dann morgens wieder wegholte, ging er zugleich sämtliche Zäune ab und legte Steine vor die Löcher, die er etwa vorfand. Da er das ganz früh tat, noch ehe das Geflügel aus den Ställen gelassen war, gab es in diesem Jahre keine erheblichen Hühnerjagdereien.

Hatte der Vater die Steine besorgt, so ging er auf den Acker zu seinem Mais. Er ging eine Seite des Feldes hinauf und die andere wieder hinunter, sein Auge war bei dieser Besichtigung sowohl aufmerksam wie sorgenvoll. Aber zum Schlusse der Besichtigung war es dann wieder hell: der Dachs hatte dem Mais keinen Besuch abgestattet. In ungestörter Herrlichkeit wuchs er weiter, wurde immer höher und kräftiger, setzte schon Blüten an, die männlichen rispenförmigen mit dem Staub oben, die weiblichen kolbenartigen mit den langen grünen Seidenfäden unten am Stiel.

Ja, es war seltsam, es war, als habe der Dachs etwas von des Vaters grimmiger Entschlossenheit erfahren: in diesem Jahre kam er viel seltener in den Garten, der Schaden, den er dort anrichtete, war gering, kaum merkbar. Ab und an fand man ein paar angefressene, abgestreifte Erdbeeren; weder bei den Mohrrüben noch bei den Erbsen war Schaden feststellbar, und der Mais blieb, wie gesagt, ganz verschont. »Es wird ein anderer Dachs sein«, sagte der Vater zu sich. »Ein junger, der noch nicht solch ein Frechdachs ist ...«

Das Gegenteil war richtig! Es war der alte Dachs, aber er war einen Winter älter geworden. Und was war das für ein Winter gewesen! Du lieber Himmel, nie wieder konnte Fridolin nach den schrecklichen Erlebnissen dieses Winters der alte werden! Er hatte ja schon bisher ein ganz klein wenig zur Griesgrämigkeit und Schwarzseherei geneigt, aber gegen das, was er jetzt war, war er bisher ein unbekümmerter, frischer Bursch gewesen. Seine Vorsicht war nicht mehr zu überbieten, sein Mißtrauen gegen alle Einrichtungen in dieser Welt war grenzenlos. Nur in den mondscheinlosen, dunklen Nächten traute er sich aus seinem Bau, und nie ging er zweimal hintereinander denselben Weg, suchte er die gleiche Futterstelle auf. Bald hier, bald dort ging er auf Nahrungssuche, fest überzeugt, die ganze Welt lauere nur darauf, einem redlichen Dachs nachzustellen.

Die Mücke hätte jetzt oft auf den Baumwerder gehen müssen, um den Dachs auch nur einmal bei seinem Sonnenbade zu treffen. Nur selten noch gönnte er sich dieses Vergnügen, und nie mehr schlief er dabei ein.

Aber trotz all seiner Vorsicht schlug eines Tages doch einmal die Stunde, da der Vater feststellte, der Dachs hatte sich auch in diesem Jahre an seinem Mais vergriffen. Gerade solange hatte er gewartet, bis aus den weiblichen Blüten Fruchtkolben geworden waren, noch ganz junge Kolben, an denen sich die Körner eben erst auszubilden anfingen – aber so grün und saftig schmeckten sie am delikatesten! Und diesem delikaten Geschmack hatte der Dachs Fridolin nun einmal nicht widerstehen können, die Versuchung war zu groß für ihn gewesen!

Freilich hatte er es mäßig gemacht; vielleicht hatte ihn etwas gestört, vielleicht war er schon satt gewesen, vielleicht nahte das Morgengrauen schon – jedenfalls konnte der Vater die abgebrochenen Stengel gut unter einem Arme tragen. Er sammelte alles säuberlich ein und trug es, grün und zart wie es war, seinen Kaninchen als Zusatzfutter hin, die darüber recht erfreut waren.

Sie sollten in der nächsten Zeit diese Freude noch häufiger haben, immer öfter mußte der Vater seine Arme mit abgebrochenem Mais beladen, bald brauchte er beide Arme dazu. Bald war es soweit, daß es viel zuviel Futter für die Kaninchen war, er gab auch der Kuh davon. Und schließlich kam der Morgen, an dem er angesichts der Verwüstung hilflos mit den Achseln zuckte und kehrtmachte: er konnte das nicht mehr mit den Armen bewältigen.

Matthä kam mit der Schiebkarre und schob später schnaufend eine hochgetürmte Last stallwärts. Der Dachs Fridolin war wieder, alle angeborene und erworbene Vorsicht vergessend, in einen Verwüstungstaumel, in den wilden Rausch des Nur-Kostens und Verschwendens geraten. Wenn das die drei Monate bis zur Reife des Mais so weiterging, würde nicht mehr viel von ihm übrigbleiben; schon jetzt sah das untere Drittel des Beetes, das dem Hofe am fernsten lag, arg gelichtet aus.

Zufällig war diese erste Feststellung einer großen Räuberei des Dachses auf einen Sonntagmorgen gefallen, die Mücke hatte die Karre voll Mais auf den Hof kommen sehen. Sie war dann auf den Acker gegangen und hatte sich das Maisfeld angeschaut. Vielleicht, weil Mücke die Körner zu diesem grünen Wachstum selbst mitgelegt hatte, vielleicht, weil sie verständiger geworden war und begriffen hatte, wie kostbar jedes bißchen Futter und wie unerträglich solche Verschwendung war – die Mücke jedenfalls hatte beim Frühstückstisch, als der Vater böse über diesen kleinen Schadenstifter sprach, kein gutes Wort mehr für Fridolin eingelegt. Diesen Bundesgenossen hatte der Dachs verloren.

Ja, mit der Mücke war eine Veränderung vor sich gegangen. Das hatte wohl das neue Stadtleben gemacht: zwischen den hohen Häusern, auf den engen Steinstraßen zur Schule wandernd, hatte die Mücke den unwiderruflichen Entschluß gefaßt, in ihrem Leben nichts anderes zu werden als eine Bäuerin. Ein solcher fester Entschluß kann es wohl dahin bringen, daß man anders denkt, daß man die Dinge anders sieht als bisher. Vielleicht hatte die Mücke entdeckt, daß es nicht genug ist, als ein putziger kleiner Kerl in der Sonne zu liegen, daß man nur, weil man putzig ist, noch nicht das Recht hat, anderen das Brot fortzunehmen.

Als die Mutter am Vormittag beim Abwaschen des Frühstücksgeschirrs darum zur Tochter sagte: »Du hast ja heute gar nicht für deinen Fridolin geredet«, antwortete die Mücke: »Es ist nicht mein Fridolin mehr, Mummi. Er treibt es wirklich zu toll – sieh dir nur einmal selbst unsern Maisacker an!«

Worauf die Mutter wiederum schwieg.

Unterdes hatte der Vater einen Brief an den Jagdaufseher Friesicke geschrieben, in dem er dringend gebeten hatte, dem Dachs energisch zu Leibe zu gehen, der von ihm verursachte Schaden sei ganz unerträglich ...

Der Vater rief die Tochter und trug ihr auf, diesen Brief gleich zu Fräulein Koller zu tragen, bei der Friesicke stets wohnte, wenn er im Dorfe war. »Und erkundige dich auch, wann er kommt, Mücke! So geht es nicht weiter, es muß schnell etwas geschehen!«

Obwohl dies also, wie klar ersichtlich, ein Brief war, der sich gegen den kleinen, putzigen Dachs richtete, trug ihn Mücke widerspruchslos aus dem Hause und brachte ganz vergnügt die Botschaft zurück, Herr Friesicke werde schon in den nächsten Tagen erwartet ...

Wirklich war der Jagdaufseher mit seiner Tochter, die etwa ebenso alt wie die Mücke war, aber als angehende Jägerin schon eine kleine Flinte über der Schulter trug, schon am nächsten Morgen auf dem Ditzenschen Hof. Der Schaden im Maisfeld machte auf den Jäger nicht den erwarteten Eindruck – er hatte in seinem Leben wohl schon zu vielen Wildschaden gesehen. Aber er versprach doch, dem Dachs in den nächsten Tagen fleißig nachzustellen. Diesmal bleibe er, der Friesicke, eine ganze Woche in Carwitz; in dieser Zeit werde er den Dachs ganz bestimmt erledigen.

Dem Vater wurde ganz leicht bei diesen Worten, er war so ein Mann, der glaubte, alles sei schon gut, wenn nur etwas geschah. Er hatte an die Steine unter dem Drahtzaun geglaubt und dann an sein Tellereisen, schließlich an die Dachs-mordenden Füchse – und nun glaubte er an den Jagdaufseher Friesicke. Er erkundigte sich, wie er denn dem Dachs zu Leibe gehen wolle – er wolle wohl mit der Büchse auf ihn ansitzen oder ihn ausgraben?

Nein, sagte der Herr Friesicke, das sei nicht seine Absicht. Sondern er wolle bei den Röhren seines Baues ein paar gute Eisen gegen ihn stellen, das sei bestimmt das sicherste.

Der Vater dachte an sein wohl hundertmal aufgestelltes und nie benutztes Tellereisen, schwieg aber davon. Sondern er nickte einverstanden mit dem Kopfe und erteilte der Mücke ohne weiteres die Erlaubnis, zum Aufstellen dieser Eisen am Dachsbau mitzugehen – wenn Herr Friesicke nichts dagegen hätte. Herr Friesicke hatte gar nichts dagegen, und so ging die Mücke mit.

Sie kam ganz aufgeregt von dieser Expedition wieder, jeder Gedanke an den armen, kleinen Dachs, dem das Eisen die Knochen zerschlagen würde, war verschwunden. Sie berichtete, mit welcher Sorgfalt der Jäger die Eisen gestellt hatte, ohne sie auch nur ein einziges Mal mit der bloßen Hand anzufassen. Er hatte sie vorsichtig ganz in den Sand eingegraben – kein bißchen von den Eisen war mehr zu sehen gewesen.

Oh, wie hatte der Herr Friesicke gelacht, als ihm die Mücke erzählt hatte, wie der Vater die Falle so nackt und bloß auf den Erdboden gesetzt hatte, nachdem sie von ihm viele Male angefaßt worden war. (Der Vater verzog sein Gesicht ein bißchen säuerlich bei diesem Teil des Berichtes, äußerte aber kein Wort.) In eine solche Falle würde nie ein Dachs gehen, hatte der Herr Friesicke gesagt.

Noch zwei weitere Röhren des Dachses hatte der Jagdaufseher mit seinem Hunde gefunden außer der großen Schlupfröhre, in alle drei waren sorgfältig gestellte Eisen gesetzt worden. In den nächsten Tagen würde der Dachs sich in einem von diesen Eisen bestimmt fangen.

So berichtete die Mücke, und der so sicher zu erwartende Ausgang dieser Fallenstellerei stimmte alle zufrieden. Er machte es auch, daß der Vater den kleinen Stich über seine so falsch aufgestellte Falle sofort verwand. Mit einem Lächeln trug er sie wieder auf den Boden und warf sie dort in eine Ecke. »Da ruhe, bis du ganz auseinandergerostet bist!« rief er. »Bei Ditzens hat es sich ausgedachst!«

Die Mücke machte auch – natürlich mit Erlaubnis ihrer Eltern – die folgenden Kontrollgänge nach den Fallen mit. Sie berichtete, daß der Dachs – sie nannte ihn jetzt nie mehr Fridolin – genau bis an das Eisen gegangen, dann aber wieder umgekehrt und in seinen Bau zurückgekehrt sei. Man habe es genau an den Spuren im Sande gesehen. Herr Friesicke habe das Eisen wieder anders und noch viel besser eingegraben; diesmal werde sich der Dachs bestimmt fangen.

Mittlerweile gingen die Tage dahin, und als der Vater sich wieder einmal nach dem Eisen und dem Dachs erkundigte, erfuhr er von seiner Tochter, daß der Jagdaufseher wieder abgereist sei und die Eisen fortgenommen habe, damit niemand in seiner Abwesenheit hineintrete. Das nächste Mal werde er den Dachs aber bestimmt fangen, es müsse ein mächtig schlaues, altes Tier sein ...

Der Vater seufzte ein wenig, wieder einmal war eine seiner so sicher scheinenden Hoffnungen in nichts zergangen. Da aber seit der Fallenstellerei kein neuer Schaden auf dem Maisacker entstanden war, tröstete er sich mit dem Gedanken, daß der Dachs, durch diese Fallen wohl vergrämt, das heißt, aus seinem Bau geekelt sei.

Der Vater hatte eben keine Ahnung davon, wie sehr Fridolin an seiner Wohnung hing, und daß er sie schon gegen zwei stinkende Füchse mit den Zähnen verteidigt hatte. Was bedeuteten dem Dachs da ein paar Eisen? Auf dieser verkehrten Welt hatte er schon ganz anderen Kummer erlebt!

Aber der Vater war, wie gesagt, erst einmal beruhigt, und er blieb so lange beruhigt, bis die Maisräuberei wieder von neuem anfing. Und wie fing sie da an –! Es war ganz, als wolle der Dachs alles Versäumte auf einmal nachholen, als wolle er sich an seinen Feinden rächen, so wüstete er und praßte er! An manchem Morgen mußte Matthä nicht einmal, er mußte zweimal mit der Karre fahren, und die Kaninchen und die Kuh hatten eine gute Zeit.

Doch wo blieben die Aussichten auf das gute Maiskörnerfutter im Herbst? Der Mais war nicht zum Grün-Verfüttern angebaut worden – Grünfutter gab es um diese Zeit genug auf dem Hofe –, seine schönen, gelben Körner, die ein so gutes Legefutter abgaben, sollten über den Winter hinhelfen! Und das machte der Dachs mit seinem Wüsten nun zunichte!

Der Vater faßte einen großen Entschluß. Alle Hoffnungen waren ihm bisher zergangen, nun wollte er sich selbst helfen – Jagdgesetz hin und Jagdgesetz her! Es gab auch ein Gesetz aus Urzeiten her, daß Not Eisen bricht, daß der Mensch sich selbst helfen soll, wenn die Not am größten wird.

Der Vater besaß ein Terzerol, das ist so eine Art einschüssige Pistole mit langem Lauf, in den man eine Schrotpatrone schiebt. Mit diesem Terzerol bewaffnet, schlich sich der Vater eines Nachts auf den Acker hinaus. Er hatte sich alles gut überlegt: es war eine mondlose Nacht, aber der Himmel war klar und voll ausgestirnt, und die Sterne gaben ein schwaches Licht. Der leise Wind wehte günstig, er wehte von dem Maisacker nach dem Hofe hin, so daß der Geruch des Anschleichenden dem Dachs nicht in die Nase gepustet werden konnte. Und auch die Zeit war günstig, es war nach Mitternacht, es ging auf die erste Stunde des neuen Tages zu – dies war nach Vater Brehm die Stunde, die von den Dachsen am liebsten für ihre Futtergänge gewählt wird.

Oh, der Vater war vorsichtig und bedachtsam, genau so vorsichtig und bedachtsam, wie seine Tochter Mücke gewesen war, als sie den Dachs Fridolin bei seinem Sonnenbade beschlichen hatte. Nur war beider Absicht bei diesem Anschleichen natürlich gründlich verschieden. Der Vater rechnete auch nicht damit, daß er gleich beim ersten Anschleichen den Dachs erlegen würde. Vielleicht kam der Dachs erst viel später, und er mußte stundenlang auf ihn warten – er wußte auch schon, wo er das tun würde: beim alten Pflaumenbaum am Mäuerchen. Oder aber der Dachs kam diese Nacht überhaupt nicht, dann mußte der Vater eben noch einmal gehen und wieder noch einmal und immer wieder, bis er ihn erlegt hatte. Er war entschlossen, nicht eher nachzugeben, bis dieses Ziel erreicht war; fest entschlossen war der Vater, diese Unordnung aus der Welt zu schaffen.

Fast noch unbekümmert war Vater Ditzen bis zum Acker gegangen; nun stand der Mais in der tiefen Nacht wie eine hohe, dunkle Mauer vor ihm. Der Vater lauschte, es blieb alles still; es war so still in der Nacht, aber nun kam ein leichter Windstoß, und die dunkle Mauer fing an zu rauschen und zu rascheln, und der Vater konnte den Dachs nicht mehr belauschen.

Er fing an, die Kante des Maisfeldes hinunterzugehen; es lief da so ein Grasstreifen, in den junge Obstbäume gepflanzt sind, das dünkte dem Vater ein guter Weg zum Beschleichen. So lange der Wind den Mais noch rauschen und rascheln macht, hörte er auch wirklich nichts von seinen Schritten; als der aber schwieg, merkte er erst, wie laut seine Schritte waren. Es hatte lange nicht geregnet, das Gras knirschte und raschelte unter seinem Schuh, er versuchte doch lieber den Ackerboden ...

Vorläufig ging Vater Ditzen zwar leise, doch ohne besondere Vorsicht, er hatte die Hälfte des Maisfeldes noch nicht abgeschritten, und bisher hatte der Dachs nur im unteren Drittel gewüstet. Dann aber sah er einen Obstbaum mit einer bestimmten Krone zu seiner Linken. Jetzt lag gut die Hälfte des Beetes hinter ihm, von jetzt an hieß es, ganz vorsichtig sein.

Erst einmal hielt der Vater inne und lauschte wieder. Der Wind schwieg, es ist jetzt gut zum Horchen. Er lauschte – und auf einmal fing sein Herz zu klopfen an: er meinte, in der Ferne ein Knacken und Brechen und dann ein Rascheln zu hören ... Was war es, das des Vaters Herz so klopfen machte –? Es war doch nur ein kleines, gar nicht so seltenes Tier, das er beschlich! Keine Jagdbeute, beileibe nicht, ein plumpes Tier, das fast im Schritt einzuholen und mit einem kräftigen Schlag auf die Nase zu töten ist. Also jedenfalls nichts, auf das man sich etwas einbilden kann, wenn man es erlegt hat!

Und doch klopfte des Vaters Herz immer stärker, während er nun weiterschlich, ganz sorgsam Fuß vor Fuß setzend, flach und fest auf den Boden, daß keine Krume darunter knirschen kann, das Terzerol mit gespanntem Hahn schußbereit in der Hand. Das Herz klopfte so stark, daß er manchmal nicht wagte, den Fuß zu heben. Eine lange Weile stand er bewegungslos auf einem Bein und lauschte wieder dem Arbeiten des Dachses.

Nicht daß der Vater dieses Knirschen und Krachen jedesmal hörte, als er da lauschte. Zuerst glaubte er, der Dachs habe ihn doch gehört und sei weggeschlichen. Aber dann setzte das räuberische Gelärm wieder ein – es war wohl so, daß der vorsichtige Dachs seine Mahlzeit von Zeit zu Zeit unterbrach und nach Feinden lauschte, obwohl er noch nie im Mais gestört worden war. Sein Mißtrauen war eben stets wach.

Jetzt war Vater Ditzen schon so nahe, daß er unterscheiden konnte, wie der Dachs den Maiskolben knirschend zwischen seinen Zähnen zermahlte, und nun schlürfte er schmatzend den Saft! Ach, der viele, gute, zum Reifen bestimmte Mais, der da wieder zermalmt wurde. Unwillkürlich wollte der Vater einen raschen Schritt tun, der Zorn beflügelte ihn, aber »Nur ruhig Blut!« sprach er zu sich und setzte den erhobenen Fuß besonders vorsichtig auf den Boden. »Nur langsam – diesmal will ich den Burschen richtig erwischen!«

Er war ihm jetzt wirklich ganz nahe. Für die letzten dreißig Meter hat Vater Ditzen vielleicht eine halbe Stunde gebraucht, oder es sind auch nur zehn Minuten gewesen, so genau wußte er es nicht. Die Sterne flimmerten am Himmel, und der Wind, dessen Lärmen er jetzt so gut gebrauchen könnte, schwieg ganz. Der Vater hob den Fuß und wagte vor lauter Vorsicht nicht, ihn wieder niederzusetzen.

Vielleicht lag da ein Steinchen, wo Vater Ditzen ihn niedersetzen würde, und das kleine Geräusch, das aus der Berührung von Stein und Schuhsohle entsteht, machte den Dachs scheu. Vorhin hatte er schon einmal gestutzt.

Und richtig, als der Vater den Fuß niedersetzte, stutzte der Dachs wieder. Ein kaum hörbarer Ton war laut geworden, ein wenig trockene Ackerkrume zerfiel zu Staub, aber alles Geräusch vom Dachs verstummte. Lautlos verharrten die beiden, der Vater atmete nur ganz sachte und vorsichtig, er lauschte, lauschte, und dabei versuchte sein Auge, das Dunkel zu durchdringen. Er hatte gemeint, wenigstens ein bißchen von dem Tier sehen zu können, den Schatten seines Körpers, das Leuchten seiner Augen, aber er sah nichts, gar nichts.

Jetzt wurde ihm klar, daß er nur nach dem Geräusch würde schießen können, nach der Stelle hin, wo er das Geräusch zu hören meint. Aber jetzt ist auch dieses Geräusch verstummt!

Seine Hand, die das Terzerol hielt, war schweißnaß, mit Mühe nur konnte er den Zeigefinger davon abhalten, sich um den Hahn zu krümmen. Nein, welch zornige Ungeduld erfüllte doch den Vater! Wäre er doch erst soweit, daß er schießen könnte! Wäre es doch erst vorüber! Lieber ein Fehlschuß als dieses entsetzlich geduldige Warten, dieses nervenpeinigende Anschleichen!

Da setzte das Malmen und Schmatzen wieder ein, der Dachs glaubte sich nicht bedroht, er hatte sein Mahl wiederaufgenommen. Einen Augenblick fraß er, und nun brach er eine neue Maisstaude um. Ihren knirschenden Fall hatte der Vater geistesgegenwärtig benutzt und hatte nicht nur einen, er hatte zwei Schritte vorwärts getan! Er stand nun fast seitlich vom Dachs, sein Herz klopfte so stark, daß er meinte, das Tier müsse es hören! Aber der Dachs hatte sich über einen neuen Kolben hergemacht ...

Das Terzerol wurde erhoben, der Finger krümmte sich um den Hahn – und streckte sich wieder. Vielleicht wäre es doch günstiger, noch einen einzigen Schritt weiterzumachen – oh, es war so verdammt schwer, in der Dunkelheit den genauen Platz festzustellen, woher das Geräusch eigentlich kam.

Wieder wurde der Finger gekrümmt und noch einmal gelockert. Ob er den einen Schritt nicht doch noch lieber wagte? Nun war er so lange geduldig gewesen, auf den einen Schritt kam es auch nicht mehr an. Sicher ist sicher!

Der Vater hob den Fuß, so langsam, so vorsichtig – noch viel langsamer, noch viel vorsichtiger setzte er ihn nieder. Als er ihn auf den Boden gestellt hatte, war jedes Geräusch vom Dachs her verstummt. Der Vater war sicher, er hatte nicht den kleinsten Lärm gemacht, und doch hatte der Dachs mit Fressen aufgehört. Er lauschte atemlos ... lange ... Da hörte er ein leises, brechendes, streifendes Geräusch, fünf Meter vor sich im Mais. Aha! der Dachs hatte ihn gewittert, er schlich sich davon ...

Der Schuß fuhr aus dem Terzerol, er donnerte durch die Nacht, über das ganze schlafende Dorf hin, bis zu den Sternen schien er emporzuschallen! Der Vater sprang in den Mais, er wird den Dachs verfolgen, vielleicht hatte er ihn angeschossen. Das Terzerol hielt er verkehrt, beim Lauf, er wird dem Dachs mit dem Kolben eins auf die Nase geben!

Aber nun, grade in diesem Augenblick, kam der Wind wieder! Überall rauschte und raschelte es im Mais. Der Vater lauschte hierhin, dorthin: hundert Dachse scheinen durch den Mais zu laufen.

Vater Ditzen ging, seine Zigarette im Munde, wieder nach Hause. Er sagte zu sich: »Es war natürlich Blödsinn, daß ich den einen Schritt noch machte – der Schuß vorher war mindestens ebenso sicher. Aber vielleicht habe ich ihn doch angeschossen, ich muß morgen früh gleich mal nachsehen. Jedenfalls habe ich dem Kerl einen solchen Schreck eingejagt, daß er so leicht meinen Mais nicht wieder heimsuchen wird!«

Aber die Nachsuche am nächsten Morgen war erfolglos, und weitere nächtliche Pirschgänge blieben auch erfolglos. Nie wieder hatte der Vater das Glück der ersten Nacht, dem Dachs so nahe zu kommen. Manchmal noch hörte er ihn in der Ferne wirtschaften, aber nie wieder kam er ihm so nahe, daß er einen Schuß auf ihn hätte abgeben können. So feuerte der Vater bloß über das Maisfeld hin, wenn er den Dachs hörte, und tröstete sich damit, daß ihm hierdurch wenigstens Respekt eingejagt würde. Aber aller durch das Opfer von viel nächtlichem Schlaf erzeugte Respekt hielt den Dachs nicht von seinen Besuchen im Mais ab, und jeden zweiten oder dritten Tag mußte Matthä Grünfutter auf den Hof karren.

Und dann wurde der Vater auch noch krank; er ging von Carwitz fort in ein Krankenhaus und kam erst im Winter wieder heim: der Krieg gegen Fridolin, den frechen Dachs, war auch in diesem Jahre wieder erfolglos verlaufen.

Der Dachs Fridolin aber in seiner Höhle lebte das stille, friedliche Dachsenleben weiter. Er ging redlich seiner Nahrung nach und fiel niemandem zur Last. Dieses Jahr hatte ihm manchen schweren Kummer gebracht: die Füchse Isoleus und Isolina, die gemeinen Eisen vor seinen Röhren, das schreckliche Geknalle auf dem Acker der schönen Pflanze Süßwachs. Aber Fridolin hatte sich jetzt schon an den Gedanken gewöhnt, daß dies eine Welt voll Kummer ist, in der alles darauf hinzielt, einen bescheidenen Dachs zu schädigen und seine Ruhe zu stören. Natürlich hatte er deswegen nicht damit aufgehört, auf diese Welt zu schelten. Das tat er weiter Tag und Nacht, wenn er nicht grade schlief, und das war ja eigentlich seine Hauptbeschäftigung. Mürrisch und griesgrämig zu sein, das gehörte für einen Dachs nun einmal zum Leben, ohne das hätte es ihm nicht geschmeckt.

Aber das Gute hatte dieses kummervolle und aufregende Jahr doch mit sich gebracht, daß der Dachs Fridolin sich am Ditzenschen Mais ein so rundes Bäuchlein gemästet hatte wie selbst von der Hullerbuscher Bucheckernmast nicht. Und seine Vorratskammer war mit Ditzenschen Mohrrüben recht gut befüllt. So konnte Fridolin einigermaßen getrost dem Winter entgegen sehen.

»Ach ja«, sagte der Fridolin manchmal zu sich, wenn er in den jetzt ganz ruhigen Spätherbsttagen die milde Sonne genoß. »Ach ja – es ist eine verkehrte Welt, und der Schöpfer aller Wesen hat auf mich Dachs überhaupt keine Rücksicht genommen. Alles stellt mir nach: Zweibein wie Vierbein. Aber ich entgehe ihnen doch immer, wenn ich auch nur winzig bin gegen solch einen Berg wie das schwarz-weiße Riesenvierbein. (Fridolin dachte an die Leitkuh Rosa.) Ich bin nicht umzubringen. Das ist das einzig Gute an dieser verkehrten Welt, daß sie nie ohne mich, den Dachs, sein wird.«

Sprach's und bot die fette Trommel seines Bauches ächzend der Sonne dar.

 

*

 

Nachwort an Mücke.

Liebe Mücke,

ich habe dir ein Buch vom Leben ›unseres‹ Dachses versprochen, und hier hast du es nun. Du wirst mir zugeben müssen, daß dein Vater fleißig gewesen ist. Es war manchmal gar nicht so einfach, alle diese geheimen Dachsenerlebnisse in Erfahrung zu bringen.

Aber ich gebe zu, daß dieses Buch trotz seiner Größe nicht ganz befriedigen kann; dafür schweigt es sich über Weiterleben und Tod des Dachses Fridolin viel zu sehr aus. Aber was sollte ich tun, liebe Mücke? Ich durfte doch in einem solchen Buch, wo jedes Wort buchstäblich wahr und richtig ist, nicht schwindeln –?! Ich durfte nur die Wahrheit sagen, und nichts als die Wahrheit!

Und die Wahrheit ist nun leider, daß unser Dachs noch immer lebt, es gibt nichts von seinem weiteren Ergehen und seinem Ableben zu berichten.

Dein Vater
Hans Fallada

 


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