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Viertes Kapitel.

Fridolin entdeckt die köstliche Pflanze Süßwachs, entgeht schlafend vielen Gefahren und begründet auf dem Baumwerder ein neues Heim.

 

Der Dachs Fridolin verbrachte den langen, langen Tag und den größten Teil der Nacht in dem dunklen Winkel hinter dem Holz, sehr belästigt von all den Gerüchen, die ihn peinigten. Denn außer Ratten- und Mäusedreck und Hühnermist, der hier haufenweise lag, drangen alle möglichen fremdartigen Gerüche auf ihn ein, am meisten von diesen Zweibeinen, aber auch von Schweinen, Kühen, Katzen, von Bratkartoffeln und von Kinderwäsche. Mehr denn je war Fridolin davon überzeugt, daß er in die schlechteste aller Welten geraten war und daß der Schöpfer sie grade, um Fridolin zu ärgern, so schlimm eingerichtet hatte.

Erst als es tiefe Nacht geworden war, als alle Menschen schliefen und als sogar die Kettenhunde ihr Gebell eingestellt hatten, kroch Fridolin aus seinem Winkel hervor. Wohin er sich nun wenden sollte, darüber war er ganz ungewiß, eines nur war sicher: in den Hullerbusch wollte er nicht wieder zurück, denn der stänkernde Fuchs Isolein war wohl doch das Schlimmste gewesen, was ihm widerfahren war.

Er lief zuerst zur Rechten, aber das rauschende Wasser des Dorfflusses, die enge Brücke über ihn fort und die vielen Häuser des Dorfes scheuchten ihn wieder zurück. So wandte er sich nach links, folgte erst der Straße und geriet dann in Ditzens Kartoffelfeld. Da gefiel es ihm schon besser, es roch nicht mehr so zweibeinig, und zu seiner Rechten rauschte das Schilf, und die schmale Mondsichel streute Millionen von Silberfunken in den Carwitzer See. Das mutete ihn nach all den Häusern und nach der wüsten, sandigen Einöde der vergangenen Nacht schon ganz heimatlich an.

Nach einem kurzen Weg über den Kartoffelacker stieß Fridolin auf einen Drahtzaun, der ihm aber wenig Beschwer machte. In einem Augenblick hatte er sich darunter durchgegraben und befand sich nun in einem saubergehaltenen Gemüsegarten, der so groß war, daß man den Hullerbuschgarten dagegen für einen reinen Dreck erachten konnte. Auch die Güte der Gemüse befriedigte Fridolin, und als er gar unten am Seeufer, an den dieser Gemüsegarten grenzte, noch ein paar fette Tauwürmer fand und gleich darauf einige Frösche fing, war Fridolin für seine Griesgram-Verhältnisse fast ganz zufrieden.

»Das haben die Zweibeine mal ganz ordentlich eingerichtet«, sprach er zu sich. »Für Zweibeine sind die gar nicht so dumm. Die Rüben hätten etwas zarter sein können, und am Erbsenbusch hingen überhaupt keine Schoten mehr. Aber wo in dieser verkehrten Welt findet man alles Gute beisammen? Dumm ist es natürlich wieder, daß sie diesen Steinbau von einem Hause so nahe an den Garten gesetzt haben; aber das muß ich wieder loben, daß hier kein blöder Kettenhund lärmt. Wirklich ein hübscher Freßplatz; die Erdbeeren haben mir natürlich auch hier die Leute alle abgefressen, aber im ganzen bin ich zufrieden. Wenn ich nur bloß eine passende Wohnung in der Nähe fände!«

Damit machte sich Fridolin wieder auf den Weg, immer dem Seeufer folgend. Er stieß auf einen andern Drahtzaun und kurz darauf auf einen dritten, unter denen er sich hindurchgraben mußte. Aber nicht einmal das ärgerte den Dachs. Er fand es im Gegenteil lobenswert, daß die Leute »seinen« Garten so gut gegen fremde Eindringlinge gesichert hatten.

Recht schön satt bereits setzte Fridolin seinen Weg fort, nun über einen langen am See hingestreckten Acker, auf dem die verschiedensten Feldfrüchte wuchsen. Und hier hatte Fridolin plötzlich das größte Erlebnis seines Daseins, er begegnete einem Gewächs, das bestimmt war, sein ganzes Leben und vielleicht sogar seine Todesart zu beeinflussen – aber das letztere wissen wir noch nicht.

Wie vom Blitz getroffen blieb Fridolin plötzlich sitzen und roch an einer Pflanze, von der viele, viele Geschwister auf einem unendlich langen Beet standen. Schon der Geruch dieser bisher nie erlebten Pflanze war Fridolin so angenehm, daß sein Glaube, er sei in die verkehrteste aller Welten geraten, zu wanken anfing. Er schnupperte an der Pflanze, der saftige, volle Stengel streifte sanft seine empfindliche Schnauze, er nahm die ganze Nase voll, er wurde fast närrisch vor Entzücken. Wonneschauer durchbebten seinen Leib – daß es so etwas Herrliches auf dieser schlimmen Welt gab! In diesem Augenblick war Fridolin sogar dem stinkenden Fuchs Isolein dankbar, daß er ihn aus der heimatlichen Höhle und damit aus dem Hullerbusch vertrieben hatte, um dieses Prachtgewächs zu entdecken!

Fridolin lehnte sich mit der Schulter gegen die Pflanze, mit einem leisen krachenden Geräusch brach sie ab und fiel, rauschend mit den Blättern gegen ihre Geschwister streifend, zu Boden. Er biß in den Stengel, der reichlich strömende Saft erfüllte des Dachsen Maul – nie hatte er noch in seinem ganzen Leben etwas so Delikates geschmeckt! Dies ging weit über Ringelnattern, über junge Karotten, ja, dieser Saft übertraf sogar an Güte die Erdbeere und den süßen Bienenhonig. Es war ein einfach himmlischer Geschmack, besonders vom Schöpfer für die Dachse erschaffen!

Fridolin war wie berauscht, in einem Wonnetaumel stürzte er sich auf die nächsten Maisstauden, er brach sie um, er biß in den Stengel; vor Entzücken fast vergehend ließ er den Saft durch die Kehle rinnen, in den Magen hinein, der ihn mit erfreutem Gluckern empfing. Und bei diesem trunkenen Umbrechen machte der Dachs noch eine zweite Entdeckung, die seine erste fast in den Schatten stellte: es gab noch etwas viel, viel Besseres als den Saft aus dem Stengel dieser Pflanze! Etwa in der halben Höhe des Stengels saß ein dickes, spindelförmiges Gebilde, ein kräftiger Kolben, in viele feine Blätter gehüllt, die nach innen zu immer zarter und wohlschmeckender wurden. Aber am besten schmeckte doch das Innerste dieses Kolbens, die Spindel selbst, die mit vielen Kernen besetzt war, größer als junge Erbsen und viel süßer und zarter schmeckend. Dies konnte man nicht nur schlürfen wie den Saft der Stengel, dies konnte man auch kauen, essen, fressen, damit konnte man den Wanst bis zum Platzen füllen – und das tat der Dachs auch!

Pflanze auf Pflanze fiel unter seinem gierigen Stoß. Schon kümmerte ihn nicht mehr der eben noch gepriesene Geschmack der Stengel, nur das Zarteste nahm er: die Spitze der Kolben. Als der Dachs endlich seine Freßgier gestillt hatte, war in dem langen, langen Maisbeet ein freier Platz, groß wie eine geräumige Stube entstanden. Auf ihm lagen die niedergebrochenen Pflanzen in wildem Durcheinander, wie von einem Sturmwind verheert. Schon begannen sie zu sterben, die welkenden Blätter strömten einen wehen, bitterlichen Geruch aus. Im Licht der schmalen Mondsichel leuchteten geisterhaft die weißlichen Lieschblätter, die zuinnerst die Körner tragende Spindel umhüllt hatten!

Der Dachs Fridolin aber ließ einen glücklichen Blick über das lange, lange Beet streifen, auf dem noch Maisstaude neben Maisstaude in vollem Saft stand. Da war Nahrung – und mehr als Nahrung, da war Genuß für viele, viele Nächte, für eine Ewigkeit, für ein ganzes, endloses Dachsenleben, wie Fridolin meinte, der sich nicht vorstellen konnte, daß sein Leben je enden würde.

Vor Rührung und Glück und zu vielem Gefreß bekam der Dachs den Schluckauf, und von vielen, kräftigen Rülpsern unterbrochen, sprach er also: »Köstliche Pflanze Süßwachs, die allein für mich erschaffen wurde, meinen Wanst mit süßem Safte zu füllen – ich lobe dich! – Widerwärtig riechendes Zweibein, dessen Spuren ich überall um dieses schöne Beet erschnobere – auch dich lobe ich diesmal, weil du dieses Beet für mich angelegt, bestellt und gepflegt hast! – Und auch dich lobe ich, Schöpfer aller Tiere! Unerträgliches hast du uns Dachsen auferlegt, viel Schweres müssen wir durchmachen: den harten Winter mit den langen Fastentagen, die mühsame Nahrungssuche, den viel zu kurzen Schlaf. Wir müssen die widerlichen Gerüche von Hunden, Zweibeinern und Füchsen ertragen, und du hast in deiner Gedankenlosigkeit übersehen, uns wenigstens die stolze, brandrote Rute eines Isolein zu verleihen. Aber ich verzeihe dir heute alle diese Ungerechtigkeit, Schöpfer, und ich lobe dich sogar, denn du hast als Entschädigung für all diese Unbilden den Dachsen die köstliche Pflanze Süßwachs verliehen. Um des Süßwachs willen soll dir verziehen sein!«

Als der Dachs Fridolin so seinen Lobgesang beendet hatte, lief ein leiser Wind über die Maisstauden dahin. Ihre Blätter rieben sich mit einem leichten Rascheln aneinander, zugleich fingen alle Silberflecke unten auf dem See zu tanzen an.

Auch den Dachs durchschauerte es geheimnisvoll: er hatte das Gefühl, als sei ihm der große Schöpfer ganz nahe und werde gleich zu ihm aus dem Mais hervortreten. Es war aber nur ein einzelner Windstoß gewesen. Das Rascheln der Blätter verstummte, und ruhig blinkten wieder die glitzernden Mondlichtflecken auf dem See.

Mit einem Seufzer wandte sich der Dachs, um seine Wanderung fortzusetzen. Vorher aber sprach er noch folgende Worte: »Freilich, ich sehe es schon: in dieser verkehrten Welt werde ich die allergrößten Schwierigkeiten haben, mich dieser schönen, doch allein für mich erschaffenen Pflanze Süßwachs zu erfreuen. Es wird gleich wieder mit der Wohnungsnot losgehen, bestimmt finde ich in der Nähe dieses Gartens kein passendes Quartier. Es ist eben eine verkehrte Welt, und ich als Dachs hätte sie bestimmt vernünftiger eingerichtet!«

Damit schüttelte der Dachs griesgrämig den Kopf und wanderte weiter, immer am Seeufer entlang. Sein übervoller Bauch schleppte dabei fast am Boden, und es geschah ihm wegen seiner Überfressenheit das Unglück, daß er am Ende des Feldes über ein kleines Steinmäuerchen fiel.

»Da haben wir es«, sprach er, während er, noch halb vom Sturze betäubt, am Boden lag und mit seinen kleinen Augen vorwurfsvoll zum Himmel emporstarrte. »Schon fängt das Unheil an. Nicht ein bißchen Gutes darf man sich gönnen. Kaum habe ich eine Kleinigkeit, um nur den schlimmsten Hunger zu stillen, zu mir genommen, gleich wird mir das Gehen so sauer, daß ich über jeden Stein falle. Eine verkehrte Welt ist das! Ja, wenn mir die schlanken Läufe des Fuchses verliehen wären! Aber an nichts hat der Schöpfer bei meiner Erschaffung gedacht, einfach an gar nichts!«

Fridolin hatte so lange hinter dem Holzstoß gelegen, und er hatte so viel Zeit bei der Erforschung des Gemüsegartens und bei seinem Maismahl verbracht, daß der Morgen mit kühlem Wind und Tau schon nahe war, als er seinen Weg von neuem unter die Füße nahm. Er mußte sich beeilen, wenigstens einen Notunterschlupf für den kommenden Tag zu finden. Daß es den am hier ganz flachen Seeufer nicht geben würde, sah er, so wandte sich Fridolin landeinwärts.

Langsam stiegen die Felder zu einer kleinen, dürren Kuppe auf, langsam keuchte Fridolin die geringe Steigung empor, seinen vollen Wanst verdammend und ganz vergessend, mit welchem Vergnügen er ihn gefüllt hatte. Er fühlte sich matt und übermüde nach den letzten, so oft schlaflos verbrachten Tagen und achtete kaum noch auf seinen Weg ...

Plötzlich wich der Boden unter seinen Füßen, und Fridolin stürzte zum zweitenmal in dieser Nacht, nämlich in eine mäßig große Grube, aus der gewöhnlich Ditzens und Schönfelds ihren feinen Sand holen. Der Dachs war einen reichlichen Meter tief gefallen, aber nicht hart, denn auch den Boden der Grube bedeckte feiner, weicher Sand. Aber griesgrämig betrachtete er die recht steilen Wände der Grube um sich und beschloß, dieses ihm vom Schicksal unter den Füßen geöffnete Loch nicht wieder zu verlassen. Wer konnte sagen, wie lange er sonst noch nach einer Schlafstelle umhersuchen mußte? Und der helle Morgen war nahe ...

Lässig und mühsam scharrte sich der Dachs ein notdürftiges Loch in die Wand der Sandgrube, kroch hinein und war im Augenblick darauf auch schon eingeschlafen.

Die liebe Sonne erhob sich im Osten über dem großen Carwitzer See und sandte ihre erleuchtenden und wärmenden Strahlen auf die Welt hinab; ein leichter Wind erhob sich, wurde langsam stärker und ließ die Blätter der Erlen und das Schilf am See rauschen. Ein Hase kam über den Sandberg gehuppelt, er stutzte beim ungewohnten Geruch der Dachsenspur, er beschnoberte sie vorsichtig und bedachte den Fall eine Weile. Dann schlug er vorsichtshalber einen Haken und begab sich hinunter auf Schönfelds Wiese, um sein Morgenfrühstück einzunehmen.

Der Dachs Fridolin aber schlief.

Jetzt kamen zwei Zweibeine des Weges daher, der vom Dorf auf den Baumwerder führt, es waren der junge Güldner aus der Erbschmiede und der Maurer Studier, die auf den Konower Werder zum Holzschlagen wollten. Grade bei der Sandgrube blieben sie stehen, Güldner zündete ein Streichholz an, um seine Pfeife in Brand zu setzen, der Wind blies es ihm aber stets wieder aus. So sprang er in die Sandgrube hinunter und stand direkt am Schlupfloch des Dachses, als er endlich wirklich Feuer bekam. »Kiek mal«, rief er zu Studier hinauf. »Das sieht ganz so aus, als hätte hier ein Tier gescharrt!«

»Mach man ein bißchen zu«, antwortete Studier. »Wir sind schon so zu spät daran!«

Güldner kletterte aus der Grube, und kurz vor dem Baumwerder setzten sich die beiden in einen am Ufer liegenden Kahn und ruderten zum Konower Werder hinüber.

Der Dachs Fridolin aber schlief.

Nun verging eine lange Zeit, fast zwei Stunden, bis wieder jemand des Weges kam. Es war ein Arbeiter, der die Kuh von Fräulein Schröder, die man im ganzen Dorfe nur Tante Minna nannte, am Strick vorbeileitete. Er führte die Kuh auf Tante Minnas Lupinen, die direkt an Schönfelds Wiesenstück angrenzen, von dem der Hase schon wieder verschwunden war, tüderte sie fest und ging wieder in das Dorf zurück.

Der Dachs Fridolin aber schlief.

Nun geschah eine lange Zeit gar nichts. Die Sonne stieg immer höher, und die Luft wurde immer wärmer, Schmetterlinge flatterten von einer Blume zur andern; die Vögel zwitscherten in ihren Zweigen, flogen auf, pickten ein Korn oder zwei und zwitscherten dann wieder in anderen Zweigen. Ab und zu sprang ein Fisch aus dem See und fiel mit einem leichten Klatschen wieder ins Wasser zurück. Die Kuh in den Lupinen fraß und muhte leise.

All diese Zeit schlief der übersättigte, übermüdete Dachs Fridolin friedlich weiter.

Nun aber kamen drei Menschen vom Dorfe her gegangen. In der Mitte schritt der Vater Ditzen, an seiner einen Seite die große, artige Tochter Mücke, an der andern aber der blondlockige Achim. Die Mücke trug ein kleines Spankörbchen in der Hand, das jetzt noch leer war.

Als sie auf den Hügel vor dem Sandbergbuckel gekommen waren, nahmen sie den Achim in die Mitte, sie fingen an zu laufen und auf Eins! Zwei! Drei! ließen sie ihn ein weites Stück durch die Luft fliegen, wobei sie alle sehr vergnügt lachten. Als sie auf diese Weise den Hügel hinuntergekommen waren und es zum Sandgrubenberg wieder aufwärts ging, hielten der Vater und die Mücke aufatmend inne, denn es war ihnen heiß geworden beim eilenden Tragen und Schwingen des Achim. Der Junge aber, der zeigen wollte, daß er noch kein bißchen müde war, lief eilig hügelan. Dann entdeckte er die Sandkuhle, blieb an ihrem Rande stehen und rief bittend: »Springen, Papa, bitte, springen!«

Es war nämlich ein beliebtes Spiel bei den Kindern, vom Rande der Grube hinab in den tiefen Sand zu springen. Der Achim aber konnte es noch nicht allein, sondern mußte dabei angefaßt werden.

»Nachher!« antwortete der Vater. »Nachher! Erst wollen wir doch Steinchen werfen, Achim!«

Damit gingen sie vorüber, und der Dachs Fridolin schlief ungestört weiter.

Tante Minnas Kuh hob den Kopf und muhte die drei Spaziergänger auffordernd an. Sie wollte nämlich gerne weiter getüdert werden, weil sie die besten Lupinen schon abgefressen hatte. Das durften die drei aber nicht, weil die Lupinen noch lange reichen mußten. Sie gingen rechts auf einen kleinen, steinigen Acker, der auch Tante Minna gehörte und fingen an, das Körbchen mit Steinen zu füllen.

Das war schnell geschehen, und nun hatten sie nur noch ein paar Schritte bis zu der kleinen Brücke, die den Baumwerder mit dem Festlande verbindet. Einen Werder nennt man nämlich dort in der Gegend eine kleine Insel, und der Baumwerder war eben solche Insel, die nur durch einen schmalen Seearm vom Festlande getrennt ist.

Über diesen Seearm führt nun eine kleine Brücke, und auf diese Brücke stellten sich die drei und fingen an, die gesammelten Steine in das Wasser zu werfen. Das heißt, der Werfer war eigentlich der kleine Achim, die Mücke ließ als artiges Kind ihrem Bruder gerne das Vergnügen und warf nur ab und an einen Stein zur Gesellschaft mit, der Vater aber warf keinen einzigen. Der Achim freute sich gewaltig, wenn die Steine mit lautem Klatschen in das Wasser fielen, und die Tropfen so hoch aufflogen, daß sie sogar die drei auf der Brücke anspritzten – im Handumdrehen war der Korb leer.

So wurde er wieder gefüllt und noch einer und noch einer und so immer fort – der Achim war ganz unersättlich im Werfen. Unter der Brücke lag ein ganzer Haufen Steine im Wasser, die sie bei diesem und bei manchem andern Male hineingeworfen hatten. Der Vater zeigte dem Achim auch Ziele, nach denen er werfen sollte: einen im Wasser liegenden Baumast oder einen Schilfhalm. Manchmal gelang dieses Werfen recht gut, manchmal mißlang es auch. Im ganzen entschied der Vater, daß der Achim ein guter Werfer werden würde.

Als Achim endlich genug geworfen hatte, machten sich die drei auf den Rückweg. Wieder kamen sie an Tante Minnas Kuh vorüber, und diesmal muhte die Kuh schon lauter, denn so weit ihre Kette reichte, hatte sie bereits alle Lupinen abgefressen oder in den Sand getreten. Aber wieder gingen sie, ohne die Kuh umzuketten, an ihr vorüber, weil sie es eben nicht durften.

Dann kamen sie an die Sandgrube, und der Achim rief laut: »Papa, springen! Jetzt springen – du hast es versprochen!« Und er stellte sich an den Rand der Sandgrube.

Der Vater sah unschlüssig darein, denn die Zeit zum Mittagessen mußte ganz nahe sein. Aber versprochen ist nun einmal versprochen, und so reichte der Vater dem Jungen die eine Hand, und die Mücke reichte ihm auch eine Hand ...

In diesem Augenblick war der Schlaf des Dachses Fridolin in großer Gefahr ...

Da fing die Glocke im Dorfe an, die Mittagstunde zu bimmeln, und der Vater rief ganz erschrocken: »Du lieber Himmel, schon so weit! Wir kommen ja zu spät zum Essen! Los, Achim, jetzt springen wir den ganzen Weg bis nach Haus!«

Und schon rannten der Vater und die Mücke mit dem Achim zwischen sich den Berg hinunter und auf Eins! Zwei! Drei! schwangen sie ihn durch die Luft, und sie liefen und schwangen so schnell, daß die Füße des Achim kaum den Boden berührten! Sie liefen und liefen, hügelabwärts und hügelan und dann den ebenen Weg am Ditzenschen Acker entlang, bis in die Küche hinein, wo die Mutter grade die Suppe in die Terrine füllte.

»Haben wir es doch noch geschafft!« riefen sie. Und die hilfreiche Mücke sagte schnell: »Komm, Achim, ich wasche dir rasch die Hände und kämme dein Haar. Ich ziepe dich auch bestimmt nicht, ich mache es genauso schön wie die Mummi.«

Der Dachs Fridolin aber schlief friedlich immer weiter in seiner Sandgrube.

Den ganzen langen Nachmittag geschah gar nichts auf dem Wege zum Baumwerder, bei der Sandgrube und auf dem Werder. Die Luft wurde noch immer heißer, und die Kuh von Tante Minna brüllte immer häufiger und lauter, aber das war nichts, was Fridolins Schlaf stören konnte. Die Vögel hatten in der Nachmittagshitze fast ganz mit Zwitschern aufgehört, dafür sprangen die Fische im See immer häufiger, und die Bienen beflogen mit eifrigem Gesumm den reichlich wachsenden Hederich.

Erst gegen Abend zeigte sich wieder Leben in diesem stillen Winkel. Zuerst kam ein Arbeiter und holte Tante Minnas Kuh zum Melken nach Hause, und die Kuh, die sich ganz heiser gebrüllt hatte, suchte rechts und links vom Wege noch schnell ein Maul voll saftigen Futters zu schnappen. Sehr viel später – die Sonne war schon im Untergehen – kam das Boot mit den beiden Waldarbeitern Güldner und Studier über den See gefahren. Sie gingen wieder nahe an der Sandgrube vorüber, und Güldner sah auch nach ihr hin. Er hatte aber vergessen, daß er dort eine Stelle gesehen hatte, die so aussah, als hätte ein Tier gescharrt, und ging achtlos vorüber.

Alle diese Gefahren, die seine Ruhe und sein Leben gar bedrohten, verschlief Fridolin. Er wachte erst auf, als die ersten Sterne am Himmel funkelten und die etwas breiter gewordene Mondsichel über den Rosenbergen stand. Er kroch aus seinem Loch hervor, nieste ein paarmal kräftig und sprach zu sich: »Dies scheint endlich einmal eine ruhige Gegend zu sein, ich habe wirklich seit Tagen nicht mehr so gut geschlafen. Nun will ich doch sehen, daß ich sofort eine passende Wohnung finde. Der Pflanze Süßwachs werde ich dann später einen Besuch abstatten.«

Damit macht sich der Dachs auf die Suche, und für dächsische Verhältnisse war er wirklich sehr tätig und rasch. Leider aber war seine Suche gänzlich erfolglos, nach allen Seiten hin stieß er entweder auf Wasser oder auf die Häuser des Dorfes. Er war nämlich auf seiner Flucht auf eine sich in den Carwitzer See erstreckende Halbinsel geraten, an deren äußerster Spitze das Baumwerder noch wie das Tüpfelchen auf dem I saß. Und diese Halbinsel war ganz mit Feldern und mit Wiesen bedeckt, nur die einzige Sandgrube lag als Unland dazwischen, und die erschien dem Fridolin als Dauerquartier doch zu unsicher.

In das Dorf wollte er keinesfalls wieder; mit Schaudern dachte er an seine Erlebnisse dort, nachdem er einen ruhigen Tag verschlafen hatte, erschienen sie ihm noch schlimmer, als sie gewesen waren. Nur schwer entschloß sich Fridolin, auf den Baumwerder hinüberzuwechseln; die kleine Brücke über den Seearm war nämlich aus Zement gemacht, und die wilden Tiere scheuen sich, den gewachsenen Boden der guten Mutter Erde zu verlassen. Außerdem roch diese Brücke von dem Besuch der Ditzens sehr zweibeinig.

Als er die Brücke aber endlich überschritten hatte, war Fridolin sehr zufrieden. Hier roch es nämlich überhaupt nicht nach Zweibeinen, obwohl es auch hier Felder gab. Vor allem aber war hier ein Berg, fast so hoch wie der Hauptmannsberg, über den ihn die Leitkuh Rosa im Galopp getragen hatte. Der Hang dieses wohl hundert Meter hohen Berges fiel nach Süden ab, und unten plätscherte das Wasser des Sees, genau wie daheim.

Wald gab es hier freilich nicht, aber an einem kleinen, seitlichen Steilhang standen doch eine alte Kiefer, ein paar Birken, Erlen und Vogelbeerbäume, außerdem gab es hier manches Gestrüpp. An diesem Hang entdeckte Fridolin einen alten, halb verfallenen und liederlich angelegten Bau. Ursprünglich hatten ihn Kaninchen angelegt, aber die Kaninchen waren von den harten Wintern ausgerottet. Dann hatte ein Fischotter diesen Bau fast ein Jahr lang bewohnt, davon stank er noch immer sehr nach faulen Fischen. Der Otter war dem Fischer Bruno Hase ins Netz geraten und war mit einem Ruder erschlagen worden; seitdem stand der Bau vernachlässigt und leer.

Der Dachs besichtigte ihn gründlich, seine empfindliche Nase rümpfte er zwar wieder einmal sehr über den Fischgestank, aber schließlich entschloß er sich doch, hier einzuziehen. In der ganzen Gegend schien es wirklich keine passendere Wohnung zu geben. Er sagte: »Ich will dieses erbärmliche Loch erst einmal nehmen, bis sich etwas Besseres findet!« Er wußte nicht, als er so sprach, daß »dies erbärmliche Loch« seine Wohnung für Lebzeiten werden würde.

Er sah gleich, er würde noch eine Masse Arbeit mit diesem Quartier haben, und es würde doch nie ein so schöner, von riesigen Buchen geschützter Bau wie im Hullerbusch daraus werden. Der niedere Hang, das Ackerland, das an seine obere Kante grenzte, verbot schon von vornherein die Anlage einer wirklich vornehmen Wohnung mit sechs bis acht Notröhren und Luftschächten.

Hier fehlte vorläufig so gut wie alles: eine anständige Wohnhöhle, Schlupf- und Notausgänge, eine Vorratskammer, ein Klosettchen, Ventilation – du lieber Himmel, in welcher beklagenswerten Verwahrlosung hatte dieser Fischotter gelebt! Daß anständige Tiere – Tiere, die sich für anständig hielten – in solchen Quartieren des Elends leben mochten, war tief beklagenswert!

Und Fridolin machte sich an die Arbeit, und es muß gesagt werden, daß er dieses Mal wirklich arbeitete – das einzige Mal in seinem Leben. Er gönnte sich kaum den nötigsten Schlaf, kaum vierzehn Stunden schloß er täglich die Augen, und über eine Woche lang passierte er nicht ein einziges Mal die kleine Brücke, die vom Baumwerder den Weg zu der Pflanze Süßwachs freigab. Er nährte sich kümmerlich und eilig von rohen Wurzeln, einigen Muscheln, die er am Seeufer fand, und von Fröschen. Ein einziges Mal nur kam ihm ein fetter Bissen in Gestalt eines Maulwurfes in den Weg!

Aber am Schluß dieser arbeits- und entbehrungsreichen Zeit konnte Fridolin auch mit Stolz sagen, daß er für die kümmerlichen Carwitzer Verhältnisse eine wirklich vornehme Wohnung besaß. Seine Wohnhöhle war grade geräumig genug, um ihm Platz und Wärme zu bieten, die Entlüftung war vorzüglich, und er besaß ganze drei Notröhren: eine tief unten am Wasser, zwischen Steinen und kleinem Gewächs endend; die zweite seitlich an der Mitte des Hanges mündete in einem dichten Holundergebüsch, und die dritte, die ihn am meisten Arbeit gekostet hatte, versteckte ihren Ausgang dicht an der Abhangkante in einem Gestrüpp alter Reiser und Dornen, das schon dort seit Jahren lag und langsam vermoderte.

Fridolin hatte das stolze Gefühl, durch seinen vorzüglichen Bau diese fehlerhafte Welt erheblich verbessert zu haben, und mit diesem Gefühl legte er sich zwar überanstrengt und ausgehungert, aber doch zufrieden schlafen.


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