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Sechstes Kapitel.

Ein Kriegsrat und Kriegsvorbereitungen. Mücke macht einen Spaziergang, scheidet aus der Kriegspartei aus und wird Fridolins Bundesgenossin.

 

Will man Krieg gegen einen Feind führen, so muß man vor allem seine Gewohnheiten und seine Schwächen kennen, besonders seine Schwächen, denn bei denen muß man ihn packen. Nach dem Frühstück saß der Vater mit seinen Kindern in der Stube, vor sich hatten sie den dicken Band ›Säugetiere‹ von ›Brehms Tierleben‹ liegen, und der Vater las vor, was der alte Brehm von diesem Tier zu berichten wußte.

Sie erfuhren von seinem einsiedlerischen, griesgrämigen Leben, von seiner nächtlichen Nahrungssuche und von der großen Vorsicht, die der Dachs dabei beobachtet. Sein langsamer Gang war ebenso erwähnt wie seine Vorliebe, sich an klaren Tagen vor dem Eingang seiner Höhle zu sonnen. Als sie von der sorgfältigen Art, mit der die Dachse ihre Höhlen anlegen, vernahmen, riefen sie alle einstimmig: »Es ist wohl also gar kein Otter in dem Bau auf dem Baumwerder, sondern der Dachs – unser Dachs!«

Bei der Aufzählung der Speisen, von denen sich der Dachs vorzüglich ernährt, wurde der Mais vermißt, aber der Vater erklärte das damit, daß zur Zeit, als Vater Brehm sein Tierleben schrieb, noch kein Mais in unserem Lande angebaut wurde. Erst später sei diese südländische Pflanze den mitteleuropäischen Verhältnissen angepaßt worden und es sei noch gar nicht lange her, daß sie überhaupt feldweise angebaut werde. Die Dachse aus den Zeiten Brehms kannten also den Mais noch nicht.

Besonders wurde natürlich aufgehorcht, als von der Art, in der man den Dachs erlegen konnte, berichtet wurde. Man konnte ihm im ersten Morgengrauen auflauern, wenn er von seiner Nahrungssuche heimkehrte und mit der Kugel schießen. Diese Möglichkeit schied für Ditzens aus, denn der Vater besaß keine Kugelbüchse und durfte überhaupt auf dem Carwitzer Land nicht jagen. Das durfte nur der Jagdaufseher Friesicke und sein Herr.

Man konnte den Dachs aber auch in Fallen fangen. Als er dies las, leuchteten des Vaters Augen auf, denn er erinnerte sich eines alten Tellereisens, das noch vom Vorbesitzer her halbverrostet auf dem Futterboden lag. Er berichtete den Kindern davon, und es wurde beschlossen, dieses Eisen schon am heutigen Abend in einem der vom Dachs in der letzten Nacht geschaffenen Zaunlöcher aufzustellen. Schließlich konnte man den Dachs mit Hunden aus seinem Bau aufjagen oder darin aufgraben. Mit einem Hund war am vorherigen Abend schon ein freilich vergeblicher Versuch gemacht worden; es wurde beschlossen, im Laufe des heutigen Tages noch einen zweiten Versuch mit der Teddy zu machen.

Die Hinzuziehung von Hilfstruppen in Gestalt einiger Dorfhunde wurde abgelehnt, die Röhre hatte sich am gestrigen Tage schon für die eine Teddy als zu eng erwiesen. Dafür aber sollte der Hang genau nach weiteren Notröhren abgesucht werden; wie Vater Brehm berichtete, mußte es bei jedem anständigen Dachs solche Notröhren geben – vielleicht war eine von ihnen weiter und gewährte der Teddy leichteren Einlaß.

Vater und Kinder schwelgten schon bei dem Gedanken, wie der von Teddy aufgestöberte Dachs aus seiner Röhre fahren und wegen seines langsamen Ganges leicht eingeholt werden würde. Nach Vater Brehm genügte ein kräftiger Schlag auf die Nase, um den Dachs zu töten. Es wurde beschlossen, zu dieser Expedition starke Stöcke mitzunehmen, und der Sohn Uli wurde mit ihrer Beschaffung beauftragt.

Es mag den Ditzens verziehen werden, daß sie schon jetzt überhaupt nicht mehr daran dachten, den Dachs vom Baumwerder und der Halbinsel zu vertreiben, sondern daß ihre Gedanken nur auf die völlige Vernichtung des Tieres gerichtet waren. Denn das ist bei allen Kriegen so: sind sie erst einmal entbrannt, ist der erste Anlaß, der strittige Besitz einer Provinz etwa, sofort vergessen. Man will den Gegner vernichtet am Boden sehen, billiger geht es bei allen Kriegen der Menschen nie ab.

Daß die Ditzens aber gar nicht an die so empfindliche Nase ihres doch geliebten Spielhundes Teddy dachten, war eigentlich unverzeihlich. Der Vater Brehm berichtete doch klar und deutlich, daß ein in seinem Bau von Hunden überraschter Dachs sich oft kräftig zur Wehr setzt und den Nachdrängenden an den Nasen fürchterliche Wunden beibringt. Nein, diese Bemerkung Brehms beachteten Ditzens, selbst die weichherzige Mücke nicht. Aber auch das war vielleicht eine Folge des soeben erklärten Krieges: Der Mensch ist geneigt, in einem solchen Unternehmen alles, auch das ihm sonst Liebste, zu opfern, wenn er damit nur sein Ziel, nämlich die Vernichtung des Gegners, erreicht.

Was nun aber das Aufgraben des Baues anging, so war das kaum so ohne weiteres durchzuführen, denn nach der Richtung der Einschlupfröhre mußte die Höhle unter dem Acker des Bürgermeisters Ihlenfeldt liegen und in dessen Kartoffelacker konnte man doch wohl kaum ohne Erlaubnis größere Erdbewegungen durchführen. Diese Erlaubnis sich aber zu holen, lag dem Vater ferne: er und der Bürgermeister standen aus mancherlei Anlaß auf einem gespannten Fuße miteinander.

Schließlich erwähnt der alte Brehm noch eine Art, den Dachs während seines Winterschlafes zu erlegen, indem man ihn nämlich in seiner Höhle mit einer Art Erdbohrer ›festbohrt‹. Brehm nennt diese Methode selbst barbarisch, und der Gedanke, daß sich da eine bohrende Spitze in den Körper des schlafenden Dachses senkt, und so aus seiner behaglichen Wohnhöhle sein Grab macht, dieser Gedanke ist wirklich so abscheulich, daß er von allen Ditzens trotz ihrer Kriegsbegeisterung einstimmig abgelehnt wurde.

Zum Schluß berichtet Brehm noch von der Verwertung des erlegten Dachses. Aus seinen Haaren mache man Bürstenwaren, das reichlich vorhandene Fett werde ausgelassen zum Einreiben verwendet und solle nach dem Volksglauben vornehmlich gegen alle Brusterkrankungen gut sein, das Fleisch schmecke aber noch süßer als Schweinefleisch, werde aber trotzdem von vielen begeistert gegessen.

Daraufhin holte der Vater seinen Rasierpinsel, der aus Dachshaar bestand; die schöne weiß-gräulich-bräunliche Färbung wurde bewundert, ebenso wie seine Weichheit, und Brehm schrieb doch, daß das Haarkleid des Dachses borstig sei. Auch seinen Satz über das Fleisch hatten die Kinder zu beanstanden, sie hatten noch nie bemerkt, daß Schweinefleisch süß schmeckte, und warum etwas noch Süßeres nur trotzdem gerne gegessen wurde, blieb ihnen ganz unverständlich. Ihnen konnte es gar nicht süß genug schmecken!

Aber das waren Kleinigkeiten. Es würde sich schon ergeben, wie man den erlegten Dachs verwendete, und ob man ihn aufaß – erst einmal zog man in den Krieg gegen ihn. Die Stunde für den Feldzug gegen seinen Bau wurde auf den späten Nachmittag festgesetzt, und jedes ging an seine Arbeit. Der Vater überzeugte sich davon, daß im Maisfeld gut aufgeräumt und daß es zwar leer, doch ordentlich aussah. Es war seltsam: der Entschluß, den Dachs mit Krieg zu überziehen, hatte irgendwie die Trauer über den geplünderten Acker vermindert. Die Gewißheit, daß der Schaden hier sich nicht weiter vergrößern würde, machte den Anblick erträglicher. Der Vater drehte sich kurz um, ging in seine Stube und setzte sich an seine Schreiberei.

Der Sohn Uli ging seinerseits auf den Holzplatz, um Stöcke für den ersten Feldzug vorzubereiten. Da man einen kräftigen Schlag auf die Nase führen mußte, hatten es kräftige Stöcke zu sein, eher schon derbe Knüppel. Nach einigem Suchen entschloß sich der Sohn für alte Baumpfähle, die auf dem Hof, weil abgefault, zum Brennholz-Schneiden lagen. Sie hatten die Stärke eines kräftigen Männerarms. Er sägte ein Stück von jedem ab und stellte drei bereit, einen für sich, einen für seine Schwester, die Mücke, und einen für den Vater. Für Achim wählte er einen dünnen Haselstecken.

Von der Mutter ist gar nichts zu berichten, sie hatte – nach Frauenart – weder an dem Kriegsrat teilgenommen, noch unternahm sie jetzt irgendwelche Vorbereitungen für den Feldzug. Sondern sie war in der Küche mit dem Zurichten des Mittagessens beschäftigt.

Von dem kleinen Achim ist ebenfalls nichts zu berichten. Nachdem er das Bild vom Dachs im Brehm bewundert und ihn zum ›komischen Hund‹ ernannt hatte, war er zuerst auf den Hof zum Sandhaufen entschwunden. Dann hatte er sich mit dem Wagen, der die Milchkanne holte, sachte ins Dorf verkrümelt. Ihm bedeutete ein Krieg noch gar nichts, er dachte nur an seine Spiele mit den Jungens im Dorfe.

Die Mücke aber konnte den Gedanken an den Dachs nicht loswerden. Sie erinnerte sich sehr gut an das, was Brehm von der Vorliebe dieser Tiere für Sonnenbäder geschrieben hatte. Sie wußte auch noch, daß es für einen geschickten Jäger nicht übermäßig schwierig ist, einen Dachs bei einem solchen Sonnenbade zu beobachten. Man mußte sich nur vorsichtig anschleichen – wie man das machte, wußte sie aus dem Karl May –, und vor allem mußte man die Windrichtung beobachten. Man mußte sich gegen den Wind anschleichen, so daß die Luft keine Spur des menschlichen Geruches zum Dachse hintrug.

Die Mücke überlegte es sich hin und die Mücke überlegte es sich her: sie hätte doch gar zu gerne das Tier, dem man den Krieg erklärt hatte, einmal gesehen. Da sie, wie wohl schon gesagt ist, ein ausnehmend artiges Kind war, bedachte sie natürlich auch, ob sie wohl so ohne weiteres zum Dachsenbau hingehen könnte. Sie stellte fest, daß nichts Gegenteiliges gesagt worden war, faßte ihren Entschluß, ging in die Küche und fragte ihre Mutter: »Darf ich wohl ein bißchen spazierengehen, oder kann ich dir noch etwas helfen?«

»Natürlich kannst du spazierengehen, Mücke«, antwortete die Mutter. »Das Essen ist heute ganz einfach; ich schaffe mit Frau Schemmel und Inge schon alles allein. Geh nur los – die Sonne scheint so schön.«

»Danke schön!« sagte die Mücke artig. Sie blieb aber noch einen Augenblick stehen und fragte flüsternd: »Was gibt es denn heute zu Mittag?«

»Gebratene Schornsteinfeger!« rief die Mutter, denn sie mochte die Topfriecherei nicht leiden. »Willst du wohl machen, daß du aus meiner Küche kommst, Jungfer Neugier!«

»Ich bitte dich vielmals um Entschuldigung«, sagte Mücke schuldbewußt und verließ die Küche. Es machte ihr großen Kummer, daß sie der Mutter, die ihr eben erst einen Spaziergang erlaubt hatte, Ärger bereitet hatte, und sie schwor sich zu, die häßliche Eigenschaft Neugier gänzlich in sich auszurotten. Sie mußte unbedingt noch bis Weihnachten ein völlig fehlerloses Kind werden – das hatte sie sich fest vorgenommen.

Auf dem Hofe wollte sich die Teddy – immer ausgehhungrig – natürlich gleich bei ihr anbiedern, aber Mücke konnte sie bei dieser heimlichen Dachserforschung absolut nicht gebrauchen. Es gelang ihr, die Teddy in den Kohlenstall zu locken und die Tür schnell zuzuwerfen. »Ja, jaule du nur!« dachte die Mücke und verließ den Hof.

Durch den Drahtzaun sah sie ihren Bruder Uli, der mit Knüppelsägen beschäftigt war. Uli rief: »Wo gehst du denn hin, Mücke?«

»Gebratene Schornsteinfeger pflücken!« antwortete die Mücke und ging weiter, ohne auf das unartige Geschimpfe ihres Bruders zu achten. Im Weitergehen nach dem Baumwerder bemühte sie sich, die Füße schön auswärts zu setzen, sich gerade zu halten und die Arme nicht wie Pumpenschwengel zu bewegen. Dabei wünschte sie sich von Herzen, den Dachs zu Gesichte zu bekommen.

Zur gleichen Zeit, da die Mücke Ditzen sich auf ihren Erkundungsgang machte, erwachte der Dachs Fridolin in seinem Bau. Selbst hier in seiner Erdhöhle, fast zwei Meter tief, merkte er, daß es draußen warm war und daß die Sonne schien. Er rekelte und streckte sich, er gähnte ein paarmal kräftig, er nieste und er machte auch ein ganz kleines Rülpserchen. Das erinnerte ihn an das köstliche Mahl von der vergangenen Nacht, darauf mußte er jetzt eigentlich einen frischen Trunk setzen. Es fiel ihm aber auch ein, daß er jetzt einen vergrößerten und bequemeren Sonnenbadeplatz hatte. So schnaufte er ein paarmal, rülpste stärker und sprach zu sich: »Na ja, na ja, nichts wie Arbeit auf dieser Welt! Nun muß ich schon wieder saufen und mir die Schwarte wärmen, statt ruhig weiterzuschlafen. Ich sage es ja: zu nichts kommt man ...«

Es dauerte aber noch eine ganze Weile, bis er sein wohliges Recken und Strecken, das er natürlich auch als Arbeit ansah, aufgab und sich zum Verlassen des Schlafzimmers entschloß. Da er doch saufen wollte, wählte er nicht den Gang steil aufwärts zum Sonnenplatz, sondern die langsam abwärts fallende Notröhre, die zu den Steinen am See führte. Diese Notröhre, die er ein paar Tage nicht benutzt hatte, war unterdes von einer ausnehmend fetten Kröte zum Quartier erwählt worden. Fridolin faßte sie, ehe sie noch die drei ersten Fluchthüpfer beendet hatte, und schluckte sie zufrieden hinunter.

»Was das alles für Arbeit macht«, seufzte er dabei, »nur sein bißchen Wohnung in Ordnung zu halten – es ist nicht zu sagen! Ich sehe schon, ich muß mich zu einem Großreinemachen entschließen und auch noch die anderen Notröhren revidieren. Na ja, na ja, über mangelnden Fleiß kann der Schöpfer aller Tiere bei mir bestimmt nicht klagen! Ich gehe jede Wette ein, ich bin der fleißigste Dachs aller Dachse.«

Mit diesen Worten war er bei dem gut versteckten Ausgang der Notröhre angelangt, er saß noch eine Weile ganz still, ehe er sich ins Freie traute. Seine Lauscher spielten nach allen Seiten, damit ihnen auch kein Laut entgehe, seine Nase bewegte sich schnobernd, aber kein böser Geruch belästigte sie, kein unrechter Laut störte den Sommerfrieden. So kam er denn endlich hervor, sah noch, am Seeufer sitzend, um sich, entschloß sich aber dann doch zum Trunke, der lange dauerte, weil er genießerisch immer nur kleine Schlucke nahm.

Wieder blieb er still unten hocken. Er überlegte sich, ob er jetzt mit dem Großreinemachen beginnen, das heißt, die Notröhren durchkriechen sollte, oder ob er nicht doch lieber direkt den Abhang hinaufsteigen und sich an seinen geliebten Sonnebadeplatz legen sollte. Er entschied, daß er für diesen Vormittag genug gearbeitet hatte und kletterte langsam und schwerfällig den Abhang hinauf.

Vor seiner Schlupfröhre angelangt, legte er sich sofort auf den Rücken und hielt den Bauch der Sonne hin, wobei er die Pfoten eng an den Leib zog. »Dadurch erwärmt sich das kalte Wasser in meinem Magen am raschesten«, dachte er und schaukelte sich behaglich hin und her. Die Sonne wärmte wirklich köstlich, und dazu war dieser Platz durch das Graben des Hundes tiefer und damit windgeschützter geworden – es war wirklich ein sehr behaglicher Platz.

»Es ist doch eine Riesenanstrengung, so eine Kröte schon am Vormittag aufzufressen«, dachte Fridolin, und wahrscheinlich machte es der Gedanke an diese Anstrengung, daß der Dachs sofort einschlief. Er war wirklich sehr ruhebedürftig.

Aber die Tiere haben Ohren, die auch im Schlafe hören: plötzlich erwachte Fridolin. Er lag dachsenstill in der schönen Sonne, aber seine Lauscher spielten nach allen Seiten, und so weit es die Mulde, in der er lag, zuließ, suchten seine Augen argwöhnisch das ganze Gelände ab.

Doch trugen die Ohren dem Dachs nichts Verdächtiges zu, die Luft summte gewissermaßen vor Sonnenwärme; es war aber das tausendfältige Flügelschlagen all der Insekten, die in ihr tanzten, flatterten, flogen: die Flor- und Eintagsfliegen, die Mücken, die Hummeln und die Bienen. Und von unten klang leise das Murmeln des Sees herauf, das Schilf rauschte kaum, so ruhig war die Luft ...

Nein, etwas Verdächtiges war nicht zu hören ...

Aber die Augen, die Augen –! Dieser Baum da drüben, hätte er nicht weiß sein sollen? Nun aber war er rot, wenigstens unten. Und er war doch auch dicker geworden –! Und ganz matt spürte Fridolin in der Luft den widrigen Geruch von etwas Zweibeinigem ...

So war es fast sicher, daß etwas Feindliches während seines Schlafes nahe gekommen war. Aber der Dachs rührte sich nicht, bewegungslos lag er da, auf dem Rücken, die Pfoten gegen den Bauch gezogen. Wie es in ihm von Geburt her lag, wie es in allen Dachsen von jeher lag, stellte er sich der Gefahr gegenüber erst einmal tot, als wüßte er, daß ein großmütiger Gegner einem toten Feinde nichts tut. Aber jeder Nerv in Fridolin lag auf der Lauer, jeder Muskel war gespannt: der Dachs war bereit, sich bei der ersten Bewegung des Feindes in die Röhre und damit in Sicherheit zu rollen.

Die Mücke aber stand in ihrem roten Kleide am Stamm der Birke und dachte nicht daran, sich zu bewegen. Sie hielt den Atem an und starrte bewegungslos, mit entzückten Augen auf das Tier, das da so komisch in der Sonne lag. Kein Shatterhand, kein Winnetou hätte sich vorsichtiger anschleichen können, als es die Mücke getan hatte. Sie hatte nicht mehr daran gedacht, die Füße fein auswärts zu setzen und sich gerade zu halten, aber auf jedes Steinchen hatte sie geachtet, und jedem trockenen Blatt war sie aus dem Wege gegangen.

So war sie ganz dicht an den Dachs herangekommen, immer hatte sie noch ein Schrittchen zugelegt und wieder ein Schrittchen; sie hatte gesehen, daß der Dachs schlief, und dann hatte sie sich nicht mehr weiter gewagt, aus Furcht, ihn aufzuwecken. Ihr Herz hatte gewaltig geklopft, und ihre Knie hatten gewackelt. Vielleicht war sie noch nie in ihrem Leben derartig aufgeregt gewesen, denn die Aufregung vor der Weihnachtsbescherung war von ganz anderer Art.

Sie hatte sich leise gegen den Stamm einer Birke gelehnt, aber so leise sie das auch getan hatte, ein ganz leises Geräusch hatte es doch gegeben, als ihr Rücken sich gegen den Stamm lehnte. Da hatte sie den Dachs erwachen sehen, sie wußte es sofort: jetzt wacht er auf! Ein Zittern war über seinen Leib gelaufen, besonders der runde Bauch hatte leise, aber heftig gebebt, dann hatten sich die Augen geöffnet, und die Ohren hatten sich bewegt.

Die Mücke fand, er sah so drollig aus, dieser Dachs, ganz anders, wie sie sich nach dem Bild im Brehm ihn vorgestellt hatte, und auch ganz anders, wie sie sich ein wildes Tier vorgestellt hatte. Wohl stimmte die Zeichnung des Fells und die lange Schnauze und das weiße Gesicht mit dem schwarzen Streifen, und die lange, rüsselförmige Nase, die stimmte auch, und doch hatte sie sich das alles ganz anders vorgestellt, er sah gar nicht ›wild‹ aus, dieser Dachs! Wie er da mit seinen angezogenen Füßchen lag, kam er ihr putzig vor und eher bemitleidenswert, wie ein alter Großvater, der sich nicht mehr recht helfen kann, sondern dem man beistehen muß.

Plötzlich kam der Mücke der spitze Bohrer in die Erinnerung, den manche Menschen in solch ein Tier während des Winterschlafes hineinbohren – sie schloß die Lippen ganz fest und runzelte die Stirn: das mußten sehr böse Menschen sein, die so etwas tun konnten! Ja, wenn die Mücke jetzt einen Stein in der Hand gehabt hätte, einen faustgroßen Stein, und wenn sie ganz sicher gewesen wäre, mit diesem Stein den Dachs: Plauz! auf die Nase und dadurch totzuwerfen – sie hätte den Stein nicht geworfen.

Da half es auch nichts, an die Löcher im Zaun und an die Hühnerjagden und an den zur Hälfte verwüsteten Mais zu denken. Für Mücke war in diesem Augenblick der Krieg bereits aus und beendet. Sie hatte nicht die Absicht, diesen alten kleinen Großvater totzuschlagen und von seinem Fleische mitzuessen, und wenn es hundertmal süßer als Schweinefleisch schmeckte!

So ein putziger kleiner Kerl, er wußte ja gar nicht, was für einen Schaden er anrichtete. Er wußte nicht einmal, daß ihm der Krieg erklärt war. Er war ein ganz friedlicher Geselle, so ein richtiger Friedolin, nein, den Friedolin aus dem Gang zum Eisenhammer schrieb man Fridolin, ohne ›e‹. Aber das war jetzt egal. Fridolin war ein ausgezeichneter Name für dieses Tierlein, das übrigens auch viel kleiner war, als die Mücke sich vorgestellt hatte.

Nein, sie würde auch dem Vater sagen, daß sie bei diesem Kriege nicht mitmachte, der große Bruder Uli mochte über diese weichherzige Suserei spotten, soviel er wollte. Und sie würde darauf achten, daß die Teddy nicht wieder unbeaufsichtigt an diesen Bau kam: auch Mücke fand das schön ausgehöhlte und geglättete Sonnenbad sehr hübsch. Bestimmt hatte es dem Dachs viel Arbeit gemacht, Teddys Buddelei wieder in Ordnung zu bringen.

Armer kleiner Kerl! Sicher war es sehr schwierig, sich allein durch die Welt zu schlagen, ohne Vater und Mutter, von vielen Gefahren und jetzt auch noch von Ditzens bedroht. Dabei konnte man wohl griesgrämig werden, wie der Brehm schrieb. Mücke konnte es sich gut ausmalen, wie schlecht ihre Laune sein würde, wenn sie immer allein hausen müßte und wenn jeder Mensch und jedes Tier ihr hübsches, kleines Zimmer kaputtmachen durfte! Nein, sagte sie sich, sie wollte sich nicht nur von dem Krieg der Ditzens gegen den Dachs ausschließen, sie wollte sogar seine Bundesgenossin werden, sie wollte ihm helfen, soviel sie konnte. Sie wußte zwar noch nicht, worin ihre Hilfe bestehen konnte, aber es würde ihr schon etwas einfallen!

Am besten wäre es natürlich gewesen, wenn sie mit dem Dachs hätte sprechen können. »Lieber Fridolin«, würde sie ihm sagen, »der Papa ist furchtbar wütend auf dich, weil du unsern ganzen Mais kaputtgemacht hast und immer Löcher unter dem Zaun durchgräbst, und er hat dir den Krieg erklärt. Ich rate dir: ziehe weg von hier, suche dir einen Ort, wo der Papa dich nicht erreichen kann, denn wenn er erst mal wütend ist, wird es bestimmt schlimm für dich. Es gibt doch viele Orte auf der Welt, wo du ruhiger und friedlicher als bei uns leben kannst, und wenn du durchaus Mais fressen mußt, so suche dir ein großes Rittergutsfeld, wo es auf dein bißchen nicht ankommt, und nicht unsern kleinen Acker. Also mach dich fort, Fridolin, ich bin wirklich deine gute Freundin und rate dir gut.«

Aber leider hätte alles Reden nichts genutzt, denn der Dachs verstand kein Wort Zweibeinisch. Zum anderen aber hätte Fridolin, hätte er die Mücke doch verstehen können, manches auf ihren guten Rat zu antworten gewußt, zum Beispiel, daß dieser Ort ihm bis in die letzten vierundzwanzig Stunden als der friedlichste auf der ganzen Welt vorgekommen war, und daß stinkende Füchse nach der Art des Isolein ihm eigentlich noch schlimmer schienen als Menschen mit ihren Hunden.

Aber leider wurde aus diesem ganzen Zwiegespräch nichts, weil sich die Mücke und der Dachs eben nicht verständigen konnten. So blieben sie eine lange Zeit fast bewegungslos nahe beieinander; sie sahen sich in die Augen, und der Mücke wurde ganz seltsam unter dem Blick des Dachses, unter diesen kühlen, fremden Augen – so fremd hatte sie noch niemand im Leben angesehen. Die Tiere auf dem Hof: der Hund, die Kuh, die Schweine sahen sie ganz anders an, aber vermutlich waren diese Tiere schon mehr an den Anblick eines Menschen gewöhnt und sahen ihn darum nicht mehr so fremd an wie so ein Dachs.

Es war nicht abzusehen, wie lange die beiden so noch still beieinander ausgehalten hätten, das Menschenmädchen und der Dachs, denn keines wagte sich zuerst zu rühren, und wenn es die Mücke auch noch so sehr wie Husten in der Kehle juckte, sie bezwang den Reiz heldenhaft – da löste sich die Lage auf eine ganz andere Art ...

Denn plötzlich kam etwas auf Mückes Spur dahergesaust wie eine Kanonenkugel, ein fliegendes, jachterndes Gebilde aus Fleisch, Haut und Haaren – und es war natürlich die Teddy, die von der Inge aus dem Kohlenschuppen befreit worden war und die nichts Eiligeres zu tun gehabt hatte, als sich Mückes Spaziergang, freilich etwas verspätet, anzuschließen. Freudewinselnd sprang der Hund an Mücke hoch; der Dachs aber stieß ein ärgerliches Prusten aus, das ganz so klang wie: »Na also! Da haben wir ja den Salat! Genau, wie ich es mir gedacht habe!« Er kugelte sich in seine Höhle und war von der Bildfläche verschwunden.

Die Teddy aber, die das Prusten gehört und den Geruch des Dachses wahrgenommen hatte, sprang von ihrer Herrin fort und in den Eingang der Röhre. Sie bellte nur ganz kurz und zornig und fing sofort mit wildem Eifer zu graben an. Mücke sprang ihr nach, sie faßte nach des Hundes Halsband – das war aber schon mit Kopf und Hals in der Erde verschwunden. So faßte die Mücke mit beiden Händen den besten Henkel, den solch ein Hund hat, nämlich den Schwanz, sie zog zornig daran, und dazu schrie sie: »Willst du sofort mit deinem Buddeln aufhören, du abscheuliche Teddy?! Der Fridolin hat dir gar nichts getan, und du hast seine Wohnung gefälligst in Ruhe zu lassen, verstehst du mich?!«

So kräftig angesprochen und gezogen, mußte die Teddy schließlich doch von ihrer Buddelei ablassen. Ganz erstaunt kam sie mit ihrem sandigen Kopf aus dem Dunkel hervor und schaute ihre Herrin fragend an: Was war denn nun wieder los? Gestern war sie ermuntert worden, feste zu graben, und nun sollte sie wieder nicht? Verstehe einer diese Menschen!

Mücke aber faßte die Teddy fest bei ihrem Halsband und führte sie von Fridolins Bau fort. Sie ließ sie auch nicht eher los, bis sie über die Brücke zum Baumwerder weg waren, und den Rest des Weges warf sie sicherheitshalber ununterbrochen Steinchen, damit die Teddy ja nicht auf den Gedanken käme, wieder zu Fridolins Bau umzukehren. So gab die Mücke ihren ersten Beweis von ihrer Bündnistreue mit Fridolin.

Beim Mittagessen an diesem Tage überraschte die Mücke ihre Angehörigen durch folgendes Zwiegespräch, das sie mit ihrem Vater führte. Sie leitete es mit der Erklärung ein: »Du, Papa, ich habe mir die Sache überlegt, ich mache bei diesem Krieg mit dem Dachs nicht mit.«

»So?« fragte der Vater und warf einen erstaunten Blick auf seine älteste und einzige Tochter. »Und warum hast du deinen Entschluß von heute morgen so plötzlich geändert?«

»Ja«, antwortete die Mücke, »ich habe nämlich den Dachs in der Sonne vor seiner Höhle schlafen gesehen, und er ist ein ganz putziges, kleines Tier, mit dem man eher Mitleid haben muß. Er sieht ganz friedlich aus, und darum habe ich ihn auch Fridolin genannt.«

»So!« sagte der Vater wieder, aber diesmal nicht fragend, sondern eher entrüstet. »Darf ich mich erkundigen, ob du am Vormittag in der Sonne eingeschlafen bist und ein bißchen geträumt hast? Wo hast du denn den Dachs gesehen?«

»In der Kute vor seinem Bau!« berichtete die Mücke ganz ungerührt, wenn sich ihre Backen auch immer röter färbten. »Ich habe einen Spaziergang dorthin gemacht.«

»So!!!« rief der Vater zum dritten Male, aber diesmal drohend. »Und wer hat dir die Erlaubnis gegeben, zum Dachsbau zu gehen, Fräulein Vorwitzig?! Jetzt hast du uns den Dachs womöglich vergrämt, und aus unserer Nachmittagsexpedition wird kaum noch etwas werden!«

»Die Mummi hat mir erlaubt, spazierenzugehen«, gab die Mücke Auskunft. »Ich habe ihr aber nicht gesagt, daß ich zum Dachsbau wollte. Geh du doch auch einmal morgen vormittag hin, Papa. Wenn du ihn in der Sonne liegen siehst, merkst du auch, daß er ein sehr nettes Tier ist, ein richtiger Fridolin. Ich bin jedenfalls seine Bundesgenossin geworden, Papa. – Du brauchst gar nicht so zu grinsen, Uli, ich werde dem Dachs helfen, soviel ich kann!«

»Du mit deinem Fridolin!« sagte der Vater empört. »Wenn ich meinen Mais ansehe, wird mir ganz nach Fridolin zumute. Denkst du denn gar nicht daran, wie vielen Schaden er angerichtet hat? Womit soll deine Mutter denn das Geflügel über Winter füttern – du weißt doch, wie knapp das Futter ist!«

»Aber, Papa«, antwortete Mücke überlegen. »An das Hühnerfutter für den Winter kann der Fridolin doch wirklich nicht denken, der ist doch nur ein dummes, kleines Tier! Es ist doch nicht richtig, ihn deswegen umbringen zu wollen!«

»Das ist ja ein reizender Standpunkt«, rief der Vater wieder. »Dann soll ich wohl auch die Ratten auf meinem Futterboden toben lassen und keine Katze gegen sie halten? Die Ratten können auch nichts dafür, daß ihnen unser Kuh- und Schweinefutter so gut schmeckt!«

»Das ist doch etwas ganz anderes!« entgegnete die Mücke. »Ratten sind ekelhafte Tiere, und darum ist es nur gut, wenn man sie umbringt. Aber Fridolin ist ein ganz süßer Dachs, und ich bin darum seine Freundin geworden.«

Über diese echt weibliche Antwort war der Vater eine Weile so verdutzt, daß er gar nichts sagte. Dann bemerkte er abschließend: »Also, meine Tochter Mücke macht bei dem Dachsenkrieg nicht mit. Sie will sogar ihrem Fridolin helfen. Sehr gut! Ausgezeichnet!! Wirklich wunderbar!!!« Aber es war den Worten des Vaters anzuhören, daß er dies weder gut, noch ausgezeichnet, noch wunderbar fand. Er wandte sich an seinen Sohn: »Du bleibst doch bei meiner Partei, Uli?«

»Versteht sich von selbst, Papa«, antwortete der Sohn. »Ich habe schon Knüppel zurechtgesägt, und wenn ich diesen Fridolin treffe, will ich ihm einen auf die Nase geben, daß er auf der Stelle umfällt.« Mücke zuckte bei diesen Worten zusammen, aber sie sagte nichts mehr.

Später beim Abwaschen in der Küche meinte die Mutter zur Tochter, die ihr abtrocknen half – Geschirr abtrocknen gehörte auch zu den Leidenschaften Mückes –, also die Mutter sagte: »Heute mittag hast du aber mit dem Papa gar nicht artig geredet, wie wir es sonst von dir gewöhnt sind, Mücke!«

»Ach, Mummi!« antwortete die Mücke. »Artigsein ist sicher etwas Großartiges, und ich will bestimmt noch immer artiger werden. Aber wenn es um meinen Fridolin geht, dann kann ich nicht mehr an Artigsein denken, dann denke ich bloß daran, daß sie ihn totschlagen wollen, und so rede ich dann auch. Das kommt dann ganz von selbst.«

Darauf antwortete die Mutter gar nichts, und schweigend fuhren die beiden fort mit Geschirrabwaschen und -abtrocknen.


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