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Fünftes Kapitel
Zeugen und Sachverständiger

1

Neben der Turnhalle liegt ein kleines enges Zimmer: sonst die Garderobe, das Arbeitszimmer, der Zensurraum des Lehrers. Jetzt ist es Wartezimmer für die Zeugen geworden. Ein Dutzend Stühle hat man hineingesetzt, und da sitzen sie, Städter und Landleute, Polizisten und Bauern, und warten stundenlang.

Denn jetzt, am achten Verhandlungstage, ist die reinliche Disposition längst über den Haufen geworfen. Die Verteidigung stellt immer neue Anträge, der Staatsanwalt ist bösartig geworden und kämpft mit Ironie und Schärfe gegen die Stimmung im Saale an, die bauernfreundliche Stimmung.

Keine Verhandlung fängt mehr pünktlich an, das Gericht sitzt oft stundenlang vorher zusammen und berät über Anträge. Am ersten Tage waren die Pressevertreter um neun Uhr gekommen, am zweiten um neun Uhr fünfzehn, jetzt fahren sie abends nach Stettin und kommen erst mit dem Zehn-Uhr-Zuge, kommen oft auch dann noch zu früh.

Stuff freilich kommt nicht aus Stettin, er kommt aus Stolpe. Und nun bummelt er gemütlich dem Gericht zu. Er weiß, er braucht sich nicht zu beeilen, drüben auf der andern Straßenseite geht Assessor Meier, im eifrigen Gespräch mit dem Oberstaatsanwalt. Und kurz vor ihm marschiert der Justizrat mit Henning.

Manchmal bleiben die Leute stehen und sehen denen nach. Die halbe Stadt ist im Gerichtssaal gewesen und weiß, wie sie ausschauen, muß ihnen darum noch einmal nachsehen.

»Kiek, dat is de Henning.«

»Weet ick. Weet ick. Bün all den irsten Dag dor wesen.«

Kurz vor der Schule trifft Stuff den Polizeihauptwachtmeister Hart, und wenn er auch kein Interesse mehr für Lokales aus Altholm hat, schwatzt er doch immer noch gerne mit der Polizei.

»Na, Hart, was macht ihr denn noch? Seid ihr noch nicht alle pensioniert?«

Hart ist gekränkt: »Wenn es auf dich ankäme, Männe, müßten wir ja wohl morgen schon alle wegen Blutrausch vor Gericht.«

Aber Stuff weiß Bescheid: »Habe ich ein Wort gegen dich geschrieben? Aber daß manche von deinen Kollegen nicht grade Engel sind, darüber brauchen wir doch wirklich nicht zu reden.«

Hart seufzt: »Weiß Gott. Und ich sage dir, jetzt wo es raus ist, daß Gareis wegmacht, wird der Frerksen immer frecher. Der setzt Dienst an, daß es knackt. Wieviel Stunden wir auf den Beinen sind, das ist ihm egal.«

»Was der Mann für eine Stirn hat, kann einen bloß wundern.«

Und Hart eifrig: »Meine Worte, Männe, ganz meine Worte. Wo er sich so lächerlich gemacht hat. Aber das sind die rechten, nach oben lecken und nach unten treten.«

»Wohin gehst du eigentlich, Hart?«

»Zu ihm natürlich. Er ist doch von morgens bis abends bei euch, daß er auch kein Wort verliert, was die über ihn sagen.«

»Nee, weißt du, der ist da als der Berichterstatter für den Staatsanwalt. Gestern sagt der Justizrat: ›Ich stelle fest, daß der Oberinspektor dem Staatsanwalt ständig Zettel schickt.‹«

»Und er?«

»Lief wie immer rot an, riß aus und war nach einer halben Stunde wieder da und schrieb wieder Zettelchen.«

Sie sind in dem Vorraum der Turnhalle angelangt, und Hart sieht sich in dem Gedränge der Ankommenden nach Frerksen um. Stuff schaut schließlich in den Zeugenraum, aber der ist heute noch fast leer: ein kleiner Mann mit dicken Händen sitzt dort und einem bissigen weißen Gesicht und eine ältere Dame.

»Ach, mein Herr«, sagt die Dame, »ich bin zu neun bestellt. Ob es denn noch nicht anfängt?«

»Das ist hier nicht so genau«, erklärt Stuff tröstlich, »das kann zwölf werden, das kann auch vier werden, Fräulein Herbert.«

»Sie kennen mich?«

»Natürlich kenne ich Sie. Ihr Vater hat mir noch in der Schule die Hosen stramm gezogen. Ich werd mal mit dem Gerichtsdiener sprechen.«

Stuff entweicht überstürzt.

Auf seiner Schulter hat er einen ständig sich verstärkenden Druck verspürt, Hart hat sich eingekrallt in ihn und ihm schließlich Püffe ins Kreuz versetzt.

»Bist du verrückt geworden?« fragt Stuff empört. »Mit dir spielen sie wohl?«

»Wer war das? Mensch, Männe, wer war das?«

»Das war Fräulein Herbert, Tochter vom Lehrer Herbert aus der zweiten Volksschule. Starb vor fünf oder sechs Jahren. Nein, warte, das war grade das Jahr ...«

»Quatsch. Den Kerl meine ich ...«

»Welchen Kerl?«

»Der da bei der Herbert saß.«

Stuff glotzt den Hart nachdenklich an: »Den kenne ich nicht. Kennst du ihn denn?«

»Und ob ich den kenne. Das heißt, mit Namen kenn ich ihn nicht.

Aber sonst – als ich damals Verkehrsposten machte auf der Insel, fünf Minuten, ehe die Attacke losging, kommt der Kerl an, fragt mich nach der Viehhalle, grölt mich an, wir hätten von den Bauern Kloppe gekriegt, die Fresse gehörte uns lackiert.«

»Und warum hast du ihn dir nicht gelangt?«

»Erst können. Ich war doch Verkehrsposten. Aber nachher hatte ich dir eine Wut, sage ich dir, ich hab den Bauern nichts geschenkt von wegen Fresse lackieren.«

»Du«, sagt Stuff langsam. »Dem ließe ich das nicht durch. Den legte ich rein.«

»Wenn ich nur seinen Namen wüßte, oder was er ist.«

»Ein Bauer«, schlägt Stuff vor.

»Ausgeschlossen. Viel zu weiß ums Maul.«

»Dann ein Handwerker.«

»Möglich. Weißt du was, Stuff, wenn ich jetzt dem Frerksen meinen Brief gebe, sage ich ihm, er soll mich noch mal als Zeugen melden.«

»Nee«, sagt Stuff langsam. »Nee. Tät ich nicht an deiner Stelle. Wenn du den Kerl reinlegst, hat er wieder den Ruhm davon. Weißt du, Hart, ich mach dir das.«

»Du?« fragt Hart mißtrauisch.

»Ich. Jawohl. Ich sorge dafür, daß du heute noch drankommst.

Ach, du meinst, weil ich für die Bauern bin? Aber doch nicht für solchen Kerl! Das ist doch auch gar kein Bauer. Der schadet unserer Sache doch nur. Das ist ein Schwein, das ist mir direkt ein Vergnügen, dem die Schwarte zu brühen.«

»Und du legst mich nicht rein?«

»Wie werd ich dich reinlegen, Hart, oller Junge. Alles in Butter, sag ich dir.« Und er klopft dem Polizisten gerührt auf die Schulter.

»Na ja. Bei dir, Stuff, weiß man nie ...«

»Bei mir weiß man immer. Nämlich, daß ich für ein durstiges Gemüt einen Schnaps und ein Bier spendiere. – Kannst du es machen, daß du um zwölf hier auf mich wartest?«

»Um zwölf? Nein. Vielleicht um halb eins.«

»Gut. Also um halb eins bestimmt. Dann weiß ich, wer das ist, und du kannst noch immer machen, was du willst.«

»Schön. Also um halb eins warte ich hier draußen auf dich.« Und Hart entfernt sich auf der Suche nach Frerksen.

Stuff sieht ihm nachdenklich aus trübem blauem Auge nach: »Junge, Junge, heute abend lackierst du mir auch am liebsten die Fresse.«

Und er stürzt fort, Justizrat Streiter zu finden.

2

Der Vorsitzende sagt: »Der Zeuge, Kriminalkommissar Tunk ist aufzurufen.«

Ein kleiner, dicker, weißlicher Mann tritt in den Saal, und stellt sich vor den Richtertisch.

Stuff sagt zu seinem Kollegen: »Jetzt schreib ich mit. Das wird interessant.«

»Wieso?« fragt der.

»Werden Sie erleben.«

Der Vorsitzende sagt eilig (es ist der einhundertdreiundzwanzigste Zeuge): »Sie heißen Josef Tunk? Sind dreiundvierzig Jahr alt? Sind Kriminalkommissar bei der Politischen Abteilung in Stolpe? Mit den Angeklagten nicht verwandt und nicht verschwägert?«

Als dies klargestellt ist, nicht weniger eilig: »Sie haben den Vorgängen am 26. Juli beigewohnt? Sie haben sofort am Abend dieses Tages einen ausführlichen Bericht erstattet? Wollen Sie uns erzählen, wann Sie nach Stolpe gekommen sind und welche Beobachtungen Sie hier gemacht haben.«

Der Zeuge räuspert sich. Er stellt sich in Positur. Er beginnt mit einer bei einem so runden Mann überraschend knarrenden Stimme zu reden:

»Ich fuhr mit dem Neun-Uhr-Zug von Stolpe nach Altholm. Ich hatte den strikten Auftrag der Regierung, mich auf Beobachtungen zu beschränken. Ich nahm deswegen keine Verbindung mit der hiesigen Polizei auf, sondern ging gleich vom Bahnhof aus in verschiedene Lokale.

Die Lokale waren alle voll von Bauern. Es fiel mir auf, daß die Stimmung sehr erregt war.«

»Einen Augenblick bitte. Wieso erregt? Wollen Sie uns das erklären?«

»Nun, ich hatte den Eindruck, daß die Leute erregt waren. Das ist ein Eindruck, den man als erfahrener Kriminalbeamter nach fünf Minuten hat oder nicht hat.«

»An bestimmte Äußerungen erinnern Sie sich nicht?«

»Nein, es wurde geschimpft.«

»Worüber wurde geschimpft? Über die Polizei? Über den Bürgermeister Gareis?«

»Es wurde allgemein geschimpft. Die Leute waren eben erregt.«

Der Zeuge sagt langsam und knarrend aus. Jedes Wort entläßt er mit Nachdruck seinem Munde. Er steht da, eine vollgewichtige Persönlichkeit, etwa einen Zentner sechzig Lebendgewicht, ein Fachmann, der das Gericht aufklären wird, seines Wertes sich voll bewußt.

»Am Nachmittag kam ich dann in das größte Lokal, ins Tucher. Der Saal war zum Erdrücken voll. Die Stimmung schien mir außerordentlich bedrohlich. Ich sah dann den Angeklagten Henning, der mit dem Angeklagten Padberg zusammen an der Fahne herumbastelte.

Ich dachte gleich, daß ich mit diesem Manne noch zu tun bekommen würde. Ich stellte mich ihm vor, um seinen Namen zu erfahren.«

Justizrat Streiter bemerkt: »Ich möchte eine Frage an den Zeugen richten. – Woran sahen Sie, daß Sie mit diesem Mann, wie Sie sich ausdrücken, noch zu tun bekommen würden?«

Der Zeuge ändert seine Haltung. Er macht eine Wendung, sieht den Verteidiger von oben bis unten an, wartet, wendet sich dann an den Gerichtshof und fragt: »Ist diese Frage zugelassen?«

Der Vorsitzende macht eine Handbewegung: »Jawohl.«

»Ich sah es daran«, sagt der Zeuge mit Nachdruck, »weil es mir meine kriminalistische Erfahrung sagte.«

»Das ist keine Erklärung«, sagt der Verteidiger. »Ich bitte mir präzis zu antworten: woran sahen Sie, daß Sie mit Herrn Henning noch zu tun bekommen würden?«

Der Kommissar sagt mitleidig: »Ein alter Kriminalbeamter bildet sozusagen einen sechsten Sinn aus. Wenn er einen Menschen auf der Straße sieht, sagt ihm plötzlich dieser Sinn: das ist ein Verbrecher. So war es auch mit dem Angeklagten Henning.«

Henning springt empört auf: »Herr Vorsitzender, ich bitte, mich gegen die Unverschämtheiten des Zeugen in Schutz zu nehmen. Der Zeuge hat mich einen Verbrecher genannt.«

Der Staatsanwalt springt auf: »Ich stelle fest, daß das nicht der Fall ist. Der Zeuge hat von einem konstruierten Fall gesprochen. Ich bitte aber, den Angeklagten darauf hinzuweisen, daß er wegen Ausdrücken wie Unverschämtheiten in Strafe genommen werden kann.«

Nach fünf Minuten hat der Vorsitzende den Sturm beruhigt.

Kommissar Tunk knarrt weiter: »Der Angeklagte nannte mir aber seinen Namen nicht. Wie ich feststellen konnte, warnte ihn der Angeklagte Padberg. Statt dessen entfaltete Henning die Fahne, die mit einem wilden Schrei begrüßt wurde. Ich sah, daß die Fahne im höchsten Grade provozierend und aufreizend war, sie brachte die Stimmung der Bauern zum Sieden.«

Der Verteidiger fragt: »Sie haben also die Fahne bereits im Tucher als provozierend und gefährlich empfunden?«

Der Kommissar erklärt mit viel Nachsicht: »Das habe ich eben gesagt.«

»Darf ich Sie fragen, Herr Kommissar, warum Sie dann der Polizei keine Mitteilung machten? Solange die Fahne noch nicht auf der Straße war, mußte es doch verhältnismäßig leicht scheinen, ihre Zurückziehung zu erreichen.«

»Ich habe bereits erklärt, daß ich Spezialberichterstatter der Regierung war. Es war mir untersagt, Verbindung mit der Polizei aufzunehmen.«

»Sie ließen also lieber ein Unglück geschehen? Sie duldeten lieber etwas Ihrer Ansicht nach Gesetzwidriges?«

»Ich hatte meine Befehle zu befolgen.«

»Ich danke, Herr Kommissar. Das genügt mir.«

Der Beamte nimmt seinen Bericht wieder auf: »Als der Fahnenträger mit der Fahne auf die Straße trat, wurde ein Sturm des Unwillens laut. Das Publikum auf den Gehsteigen, gute, ehrliche Bürger, wie ich sah, konnte sich gar nicht beruhigen. Ich sah daraus, daß meine Ansicht, die Fahne wirke provozierend, richtig war.

Der Fahnenträger hatte sich zuerst an die Spitze des Zuges gestellt, aber als er diesen Sturm des Unwillens hörte, bekam er es mit der Angst und lief ins Lokal zurück.«

Der Vorsitzende bemerkt milde: »Es ist eine Annahme von Ihnen, daß er es mit der Angst bekam.«

»Keine Annahme, Herr Landgerichtsdirektor. Ich sah an der Verfärbung seines Gesichtes, daß er es mit der Angst bekam.«

Der Vorsitzende sagt: »Es ist durch Zeugen festgestellt, daß Herr Padberg zu Herrn Henning gesagt hat: ›Du, die Sense wackelt aber‹, und daß die beiden ins Lokal zurückgegangen sind, um die Sense fester zu machen.«

»Das stimmt nicht, Herr Landgerichtsdirektor. Er hat Angst gekriegt, ich sah es an seinem Gesicht.«

»Ich sagte bereits, es ist durch Zeugen festgestellt. Der Wirt des Lokals hat bezeugt, daß die beiden einen Schraubenschlüssel verlangt haben, um die Muttern fester zu drehen.«

»Das haben sie doch nur gemacht, um ihren Rückzug zu bemänteln. Angst haben die gekriegt, Herr Landgerichtsdirektor.«

»Und warum haben sie, Ihrer Ansicht, die Fahne dann doch wieder vorgebracht?«

»Weil sich unterdes viel mehr Bauern angesammelt hatten. Nun hatten sie wieder Mut. Der Angeklagte Henning stellte sich an die Spitze des Zuges. Von der andern Straßenseite sah ich Herrn Oberinspektor Frerksen kommen.«

Der Vorsitzende hat den Kopf in die Hand gestützt. Die Beisitzer starren in den Saal und suchen nach Gesichtern von Bekannten. Der Verteidiger hört mit einem skeptischen Lächeln zu. Die Staatsanwaltschaft macht ernst und eifrig Notizen.

Stuff stöhnt: »Das ist ja ein bildschönes Schwein.«

Und Pinkus zischt: »Paßt Ihnen nicht in Ihren Kram, was?«

Stuff wirft einen Blick durch seine Klemmergläser und Pinkus duckt sich.

»Herr Frerksen ging ruhig und gehalten auf den Angeklagten zu und sagte zu ihm etwas, was ich nicht verstehen konnte, in höflichem Tone. Da sprang der Angeklagte Padberg wie eine Furie auf Herrn Frerksen los, packte ihn mit beiden Händen vor der Brust, schüttelte ihn, stieß ihn beiseite und der Zug setzte sich in Bewegung.«

»Das ist vollkommen neu«, sagt der Vorsitzende, »keiner der Zeugen hat bisher bekundet, daß Herr Frerksen hier schon geschlagen worden ist. Er selbst hat ausgesagt, daß er durch die losmarschierenden Bauern abgedrängt worden sei.«

Ungerührt sagt der Kommissar: »Herr Frerksen irrt sich. Seine Erinnerung täuscht ihn. Ich bin es gewohnt, exakte Beobachtungen anzustellen. Meine Beobachtungen stimmen. – Herr Frerksen sprach dann mit zwei Polizeibeamten und lief dem Zuge nach, der unterdes ungefähr sechzig Meter weiter gekommen war. Als Herr Frerksen dann neben dem Fahnenträger auftauchte, legte er die Hand auf die Fahne.

Ich erkannte, daß er sie beschlagnahmte. Sofort erhoben die Bauern die Stöcke, drehten sich um und schlugen auf Herrn Frerksen ein. Dieser zog den Säbel, doch der Angeklagte Henning entriß ihm den Säbel, setzte die Spitze auf die Erde und bog ihn krumm. Dann schlug der Angeklagte mit geballten Fäusten auf den Polizeioberinspektor los.«

Justizrat Streiter tritt dicht vor den Zeugen: »Ihre Darstellung stimmt auf keinen Fall. Von den zahlreichen Zeugen hat nicht einer bekundet, daß Henning die Fahne auch nur eine Minute losgelassen hat. Deswegen kann er auch nichts von dem getan haben, was Sie hier vor Gericht behaupten.«

Der Zeuge erklärt mit viel Ruhe: »Laienbeobachtungen sagen gar nichts. Laien können bei ihren Beobachtungen gar nicht unterscheiden, was an einer Handlung strafrechtlich wichtig und was unwichtig ist.

Ich habe genau gesehen, daß Henning die Fahne an einen Bauern abgegeben hat. Die Fahne ist dann noch durch drei oder vier Hände gegangen. Es ist hochinteressant, daß keiner der Zeugen beobachtet hat, was doch so klar zu sehen war.«

Der Vorsitzende bemerkt milde: »Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, Herr Kommissar, daß Herr Henning bisher nichts beschönigt hat. Er hat ohne weiteres alles zugegeben, was ihm vorgehalten wurde. Herr Henning, haben Sie die Fahne etwa weitergegeben?«

»Ich habe die Fahne nie aus der Hand gegeben.«

Justizrat Streiter sagt nicht ohne Schärfe: »Es ist hochinteressant die Aussagen des Herrn Kommissars zu verfolgen. Ich möchte folgendes erklären: Ich kenne denjenigen, der dem Oberinspektor den Säbel entrissen hat. Man hat es mir unter dem Siegel meiner Amtsverschwiegenheit mitgeteilt. Henning war es bestimmt nicht.«

Der Kommissar steht unerschüttert: »Es gibt bewußte Täuschungen und es gibt unbewußte Täuschungen. Ich habe deutlich gesehen, wie der Angeklagte Henning die Fahne weitergegeben hat, den Säbel krumm bog, den Inspektor schlug.«

Die Staatsanwaltschaft regt an: »Herr Frerksen ist im Saal. Vielleicht kann er hierzu aussagen.«

Der Oberinspektor nähert sich sachte dem Richtertisch. Der Vorsitzende sagt: »Sie haben ja bereits ausgesagt, Herr Oberinspektor, daß Sie sich an bestimmte Personen in dem Getümmel nicht erinnern können. Aber vielleicht können Sie sich daran erinnern, ob Herr Henning die Fahne weitergegeben hat oder nicht?«

Der Oberinspektor sieht sich zögernd um. Er blickt von einem Gesicht zum andern. Schließlich sagt er zögernd: »Ich kann nichts Bestimmtes sagen. Möglich ist es ja schließlich.«

»Sie sehen«, sagt triumphierend der Kommissar, »auch Herr Oberinspektor leugnet die Möglichkeit nicht. Wenn Sie scharf nachdenken, Herr Oberinspektor, müssen Sie sich daran erinnern, daß Henning Sie an der Brust gepackt hat und schüttelte.«

»Wir erheben Einspruch gegen derartige suggestive Fragen«, erklärt die Verteidigung.

Und Frerksen sagt erschreckt: »Nein, das möchte ich nicht sagen. Ich weiß es nicht. Möglich ist es ja. Aber ich möchte es nicht sagen.«

Padberg hat sich auch bis an die Gruppe herangepirscht. Mit atemloser Spannung hat er von einem Gesicht zum andern gesehen. Nun sagt er erregt: »Herr Vorsitzender, es ist eine Riesendummheit von mir, aber das kann ich nicht anhören. Das ist ja unglaublich, was dieser Zeuge phantasiert.

Ich, Herr Kommissar, ich, kein anderer als ich habe dem Oberinspektor den Säbel entrissen. Und zwar habe ich das von hinten getan, von hinten habe ich ihm ums Handgelenk gegriffen, ihm das Handgelenk umgedreht, bis der Säbel aufs Pflaster fiel. Säbel entreißen! – wer ist denn so dämlich und faßt in eine offene Säbelklinge?«

Allgemeine Erregung. Der Verteidiger hat sich auf Padberg gestürzt und redet tadelnd auf ihn ein. Unbewegt steht der Kommissar.

Der Vorsitzende sagt: »Es macht Ihnen alle Ehre, Herr Padberg, daß Sie sich nicht geschont haben. – Sie, Herr Kommissar, möchte ich doch bitten, bei Ihren Aussagen mit größter Vorsicht zu verfahren, und dort, wo Ihre Erinnerung nicht ganz klar ist, lieber zu sagen: ich weiß das nicht.«

Der Kommissar sagt ruhig: »Es sieht jetzt natürlich so aus, als wenn ich mich geirrt hätte. Aber ich habe mich natürlich nicht geirrt. Meine Darstellung des Sachverhaltes stimmt. Die Selbstbezichtigung des Angeklagten Padberg beweist gar nichts. Er hat sich dadurch eine milde Beurteilung gesichert, während sein Freund durch meine Aussage äußerst schwer belastet gewesen wäre.«

Der Vorsitzende erklärt etwas erregt: »Ich bitte Sie doch, Herr Kommissar, die Bewertung der einzelnen Aussagen dem Gericht zu überlassen. – Wollen Sie in Ihrer Darstellung fortfahren. Die Angeklagten bitte ich, ihre Plätze wieder einzunehmen.«

Stuff grinst über den Tisch zu Pinkus: »Feiner Vertreter, was? Sind Sie stolz drauf, wie?«

Und der ganz erstaunt: »Auf den blöden Bluff von Padberg fallen Sie rein? Sie können einem ja leid tun.«

Der Kommissar sagt weiter aus. Jetzt erfährt man, daß er derjenige Zeuge ist, der den Dentisten Czibulla mit einem Schirm oder Stock gesehen hat, mit was von beiden, das kann er nicht genau sagen. Irrtum ausgeschlossen.

Czibulla fährt hoch: »Herr Präsident, ich habe nun beinahe das biblische Alter. Sehe ich aus, als wenn ich große Polizeibeamte mit Stöcken stieße?«

Der Vorsitzende wiegt lächelnd den Kopf hin und her. Dann verweist er dem Czibulla den Eingriff in die Verhandlung.

Der Kommissar ist weiter voll von Sonderbeobachtungen. Gewichtig sagt er aus, gegen Henning, gegen Padberg, gegen Czibulla, gegen Feinbube, gegen Benthin, gegen Banz, er sagt aus. Er sagt aus.

Schließlich atmet alles auf, als er den Mund zumacht. Selbst Pinkus hat die letzte halbe Stunde nicht mehr mitgeschrieben.

Der Kommissar steht da, der Zeuge par excellence, der Sachverständige, den nichts erschüttert.

Der Vorsitzende fragt gelangweilt, ob an den Zeugen noch Fragen zu stellen sind oder ob er entlassen werden könne.

Da erhebt sich – und alles ist überrascht – der Verteidiger und bittet, den Zeugen noch nicht zu entlassen, da eine wichtige Zeugenaussage bevorstehe, zu deren Bestätigung er notwendig sei. Der Zeuge wird nicht entlassen, darf aber im Zuhörerraum Platz nehmen. In der ersten Reihe. Da sitzt er nun, er sieht wichtig und zufrieden aus, und hört zu.

3

Als nächste Zeugin betritt Fräulein Herbert den Saal, Tochter des verstorbenen Volksschullehrers Paul Herbert. Sie ist siebenundfünfzig Jahre alt, eine energische Dame, die sich nicht geniert. Sie leistet den Eid in der religiösen Form.

»Zeugin«, sagt der Vorsitzende, »Sie haben sich sowohl an den Herrn Verteidiger wie an mich schriftlich gewandt, Sie hätten wichtige Bekundungen zu machen. Wollen Sie uns mal erzählen, was Sie beobachtet haben? Sie wohnen ja wohl in dem Eckhaus Stolper Torplatz und Burstah?«

Die Zeugin ist ungeduldig hin und her getreten, jetzt ruft sie: »Herr Präsident, ich bin ja so empört! Ich bin ja so empört! Ich habe die Zeitungen gelesen über Ihre Verhandlungen hier. Das ist ja alles nichts, Herr Präsident. Das ist ja nicht das.«

Sie holt Atem. Der Vorsitzende betrachtet sie mit schief gelegtem Kopf, unentschlossen, von unten, der Herr Staatsanwalt beginnt sich wieder zu entrüsten, das Publikum stößt sich gegenseitig an und macht sich nachdrucksvoll auf das aufmerksam, was jeder vor Augen hat.

»Olle Schreckschraube«, murrt Stuff.

Aber die olle Schreckschraube läßt sich nicht im geringsten verwirren, sie weiß, was sie will.

»Herr Präsident, ich habe auf meinem Balkon gesessen, ich habe meine Handarbeit gemacht. An nichts Böses habe ich gedacht. Und plötzlich war es doch ... nein, Herr Präsident, und wenn ich in fünfzig Jahren sterbe, ich werde es noch vor Augen sehen ...

Ich habe gelesen, hier wird verhandelt, wie die Polizei vorgegangen ist, und ob sie erst eine Aufforderung an den Fahnenträger gerichtet haben oder gleich zuschlugen und ob sie die Gummiknüppel oder Säbel benutzt haben. Ich habe gelesen, daß der Herr Frerksen hier gestanden und gesagt hat, er hat es richtig gemacht und er kennt die Gesetze und die Verordnungen. Ich kenne den Herrn Frerksen, seit er ein Junge ist.«

Sie dreht sich um, sie sieht suchend in den Zuschauerraum. In der ersten Reihe entdeckt sie Frerksen und sie spricht ihn an.

»Herr Frerksen, ich kenne Sie ja als einen ruhigen Mann, ich kenne Sie als einen höflichen Mann. Aber was Sie den Nachmittag gemacht haben, das ist eine Schande, da hilft kein Drumreden, da müssen Sie sich schämen. Ewig müssen Sie sich schämen ...«

Frerksen hat sich erhoben, er sagt, rot begossen, flehend zu dem Vorsitzenden: »Herr Landgerichtsdirektor ...«

Und dieser: »Fräulein Herbert, Sie müssen zum Gerichtshof reden. Sie dürfen nicht zu Zeugen und Zuschauern sprechen. Können Sie uns jetzt vielleicht ruhig erzählen, was Sie beobachtet haben?«

»Ja, natürlich. Ich fange sofort an. Ich mußte es ihm nur einmal sagen, grade weil er sonst ein netter Mensch ist, wie schlecht er den Nachmittag gewesen ist. Ins Gesicht muß man ihm das sagen, Herr Vorsitzender, nicht immer hinter dem Rücken ...«

»Es ist ja gut. Es ist ja gut«, beruhigt der.

»Famoses Frauenzimmer«, erklärt Stuff. »Zehn solche und nicht die Bauern, die Polizei säße auf der Anklagebank.«

»Was das für ein Vorsitzender ist«, meint Pinkus, »möchte ich auch wissen. Bei dem tut jeder, was er will.«

Die Herbert beginnt neu: »Ich saß auf dem Balkon und da sah ich den Frerksen angelaufen kommen. Ich sah gleich, da war was nicht in Ordnung. Er ist doch sonst so geschniegelt und wie sah der Mann aus. Und er lief so rücksichtslos, wer ihm nicht auf zehn Schritte aus dem Wege ging, den rannte er einfach um, da gab es gar nichts.

Dann stellte er sich auf die Verkehrsinsel und schickte den Schutzmann weg. Unterdes sah ich die Bauern kommen. Und von der andern Seite kam plötzlich Polizei, ein Riesentrupp, mindestens vierzig Mann.«

»Etwa zwanzig, ist festgestellt.«

»Ausgeschlossen. Ganz ausgeschlossen. Mindestens vierzig, vielleicht fünfzig. Und auf die beginnt er einzureden, mit den Händen fuchtelt er in der Luft herum und plötzlich fangen sie alle an, gegen die Bauern vorzulaufen, Herr Frerksen an der Spitze. Und manche hatten die Gummiknüppel in der Hand, und manche Säbel, und manche zogen erst während des Laufens den Säbel aus der Scheide.«

»Hat Herr Frerksen auch einen Säbel in der Hand gehabt?«

»I wo, Herr Präsident, das müßten Sie doch wissen. Das stand doch schon x-mal in jeder Zeitung, daß der hinter dem Denkmal steckte. Herr Frerksen hat nur mit den Händen gefuchtelt.

Und nun passen Sie auf, Herr Präsident. Ich habe doch alles gelesen in den Zeitungen von der Verhandlung, aber davon habe ich nichts gelesen. Wo ist der Herr Frerksen geblieben, als der Angriff losging? Seine Leute sind immer schneller gelaufen, je näher es an die Bauern heranging, und Herr Frerksen ist immer langsamer gelaufen. Und als die Mannschaften anfingen und hieben mit dem Säbel auf die Bauern ein, da war Herr Frerksen zehn Schritte hinter seinen Leuten. Und näher ist er die ganze Zeit nicht an den Kampf herangegangen.«

»Sie haben selbst gesagt, Zeugin, daß er keine Waffe hatte.«

»Dann hätt er sich von seinen Leuten einen Säbel geben lassen sollen«, erklärt energisch Fräulein Herbert. »Wenn man so was anrichtet, dann darf man doch nicht zehn Schritte davon ab stehen bleiben, dann muß man mindestens mitmachen. Ich hätte es wenigstens so gemacht, Herr Präsident, ich bestimmt.«

Der Vorsitzende betrachtet sie, sein Gesicht strahlt von einer sanften Ironie. »Und was geschah dann, Fräulein Herbert?«

»Dann? Dann ging die Schlägerei los. Das haben Sie ja mindestens schon zwanzigmal gehört. Aber das sage ich Ihnen, Herr Präsident, wie die mit dem jungen Mann da«, sie dreht sich um, sucht auf der Bank der Angeklagten, entdeckt Henning und sagt erfreut: »Da ist er ja. Das ist der Herr Henning ... Wie die mit dem umgesprungen sind, das war einfach grausam. Der lag doch auf der Erde und hatte seine Fahne festgehalten und die haben auf ihn eingeschlagen. Ich habe gedacht: Altholmsche sind das? Das sind ja Wilde. Das sind ja Seeräuber.«

Sie holt Atem. Dann, auf den zusammengesunkenen Czibulla weisend: »Mit dem war es das Schlimmste. Ich habe ihn ganz gut gesehen, er lief ewig rum, genauso wie ein Huhn vorm Auto. Der war doch ganz kopflos von dem Gedräng.

Und daß er einen Stock gehabt haben soll oder einen Schirm, wie Sie ihn am ersten Tag gefragt haben, das ist einfach nicht wahr. Der hatte genug mit seiner Reisetasche zu tun. Sehen Sie sich den doch an, Herr Präsident, der würde doch jeden Schirm überall stehenlassen. Da kann doch seine Frau froh sein, wenn er sich und seine Tasche dahin bringt, wo sie hinsollen.«

Der Vorsitzende sagt mühsam: »Sie sind also der Ansicht, daß Herr Czibulla den Wachtmeister nicht geschlagen hat?«

Die Zeugin ist ganz Verachtung: »Der Ansicht? Herr Präsident, der und schlagen? Der ist ja froh, wenn ihn keiner schlägt. Ich hab's doch in den Nachrichten gelesen, daß er gesagt hat, wie ein Mäuschen hat er gezupft. Grade so ist es.

Und dann kriegte er den fürchterlichen Schlag. Das war das Grausamste von allem. Wie ich da das Gesicht sah und das Blut auf dem Gesicht, da habe ich mich umgedreht, da konnte ich nicht mehr. Da bin ich in mein Zimmer gegangen und so schlecht war mir, entschuldigen Sie, daß ich mich erbrochen habe.«

Stille.

Stuff schmiert begeistert. »Die Stimme der Menschlichkeit und der Vernunft«, schreibt er.

Der Vorsitzende sagt hastig: »Hat jemand noch Fragen an diese Zeugin. Wenn nicht ...«

Und verzweiflungsvoll, aber ergeben in sein Schicksal: »Bitte, Herr Justizrat ...«

»Fräulein Herbert, ich bitte uns doch zu sagen, hatten Sie bei diesem Zusammenstoß den Eindruck, daß die Polizei angriff oder daß die Bauern angriffen?«

Die Zeugin ist voll Verachtung: »Und das fragen Sie nach all dem, was ich erzählt habe? Die Polizei hat natürlich angegriffen. Wie die Wilden haben sie angegriffen.«

Justizrat Streiter sagt lächelnd:

» Ich weiß das wohl. Aber es gibt noch immer einige im Saal, die es bezweifeln.«

Der Vorsitzende: »Bitte, Herr Oberstaatsanwalt.«

Der Oberstaatsanwalt fragt still und harmlos: »Ich bitte, die Zeugin zu fragen, ob es ihrem Eindruck nach zu dem ganzen blutigen Zusammenstoß gekommen wäre, wenn die Bauern die Fahne freiwillig herausgegeben hätten?«

Justizrat Streiter sagt rasch: »Ich beanstande diese Frage. Es handelt sich dabei um eine reine Hypothese, während meine Frage nach dem Gesamteindruck zielte, den die Zeugin auf Grund ihrer eigenen Beobachtungen gewonnen hatte.«

Der Vorsitzende: »Ich habe keine Bedenken gegen diese Frage.«

Und der Oberstaatsanwalt: »Ich bitte den Herrn Vorsitzenden, die Frage aufzunehmen.«

Der Vorsitzende: »Also, Zeugin, glauben Sie, daß es auch zu dem blutigen Zusammenstoß gekommen wäre, wenn die Bauern die Fahne freiwillig herausgegeben hätten?«

Ehe noch die Zeugin antworten kann, sagt der Verteidiger rasch:

»Ich beanstande diese Frage wiederum und bitte um Gerichtsbeschluß.«

Der Vorsitzende erhebt sich ergebungsvoll und verläßt, gefolgt von seinen Mannen, den Gerichtssaal. Allgemeine Unterhaltung setzt ein.

Fräulein Herbert wendet sich zu den Angeklagten und schüttelt erst Henning, dann Czibulla die Hand. Der Gerichtsdiener protestiert.

»Ein Staatsweib«, erklärt Stuff.

»Ist ja gar keine Zeugin«, erklärt Pinkus. »Die hat ja gar nichts beobachtet. Die spricht ja nur von Blut. Die ist ja hysterisch.«

»Junge, Junge«, sagt Stuff. »Ich werde ihr mal erzählen, was Sie eben gesagt haben. Die wird Ihnen was beibringen von wegen hysterisch.«

»Um Gottes willen«, sagt Pinkus und geht weiter nach hinten.

Der Gerichtshof erscheint wieder und der Vorsitzende verkündet: »Die Frage des Herrn Oberstaatsanwalts wird in folgender Form vom Gericht zugelassen: hat die Zeugin nach ihrer Beobachtung die Polizei für so erregt gehalten, daß sie selbst bei Herausgabe der Fahne zugeschlagen hätte?«

Fräulein Herbert will schon antworten, als der Oberstaatsanwalt sich erhebt und mühsam lächelnd erklärt: »Wir verzichten auf die Beantwortung der so formulierten Frage durch die Zeugin.«

»Wenn dann also keine weiteren Fragen an die Zeugin zu richten sind? Fräulein Herbert, Sie sind entlassen. Sie können aber, wenn Sie wollen, im Zuhörerraum Platz nehmen.«

Fräulein Herbert erklärt vernehmlich: »Nein, danke, habe genug davon«, und verläßt den Saal.

Der Vorsitzende: »Gerichtsdiener, rufen Sie jetzt den Zeugen Polizeihauptwachtmeister Hart.«

Alles setzt sich ergeben zurecht, Polizeiaussagen sind weder interessant noch beliebt.

4

Der Vorsitzende sagt: »Wie uns die Verteidigung mitteilt, wünschen Sie Ihre Aussagen noch in einem Punkt zu vervollständigen.«

Doch der Hauptwachtmeister entgegnet: »Die Verteidigung? Nein.«

Er sieht sich argwöhnisch nach Stuff um, doch Stuff nickt ihm freundlich zu und zwinkert mit den Augen. Dem Polizeimann geht ein Licht auf, Stuff hat den Verteidiger irgendwie reingelegt, und er gibt zu: »Auch die Verteidigung. Meinethalben.«

Der Vorsitzende sieht den Mann prüfend an, er merkt, hier stimmt etwas nicht, hier spielt mal wieder einer, wie ewig in diesem Prozeß, mit verdeckten Karten, und so fragt er nur: »Um was handelt es sich?«

»Ich hab vor ein paar Tagen bei meiner Vernehmung erzählt, wie ich auf dem Stolper Tormarkt als Verkehrsposten gestanden habe. Wie da ein Bauer gekommen ist und mich gereizt und getriezt hat, daß ich am liebsten alle Bauern verhauen hätte. Den Bauern habe ich heute früh im Zeugenraum sitzen sehen.«

»Einen Bauern?« fragt der Vorsitzende. »Da müssen Sie sich irren. Für heute ist nicht ein Bauer vorgeladen.«

»Aber ich habe ihn doch sitzen sehen, einen dicken, dunklen Mann mit weißem Gesicht.«

Der Vorsitzende denkt einen Augenblick nach. Er sieht den Verteidiger auf dem Sprunge zu reden, aber er weiß schon selber Bescheid. Ganz hübsch gemacht das, denkt er, der Streiter ist zehnmal so tüchtig wie die Suse von Staatsanwalt. Der Wachtmeister weiß gar nichts. Der ist ganz dumm und ahnungslos. Wie der Streiter das wohl hingekriegt hat?

Laut aber sagt er: »Nein, Bauern sind heute nicht vernommen. Aber vielleicht drehen Sie sich einmal um und sehen sich die Zuhörer an. Vielleicht sitzt dort Ihr Mann.«

Während Polizeihauptwachtmeister Hart seine Musterung beginnt, faßt der Vorsitzende einen Mann scharf ins Auge. Der Mann wendet erst den Kopf fort, dann greift er in die Tasche, holt ein Taschentuch hervor und beginnt ein ausdauerndes leises Nasereinigen.

Was ihm aber nichts hilft, denn schnurstracks geht Hart auf ihn zu und erklärt laut (das Publikum ist aufs höchste gespannt): »Das ist der Mann.«

»Sind Sie sicher«, fragt der Vorsitzende, »ist das der Mann, der Sie geneckt, verhöhnt und provoziert hat?«

»Jeder Irrtum ist ausgeschlossen, Herr Landgerichtsdirektor«, sagt der Wachtmeister. »Das ist der Mann. Damals hatte er Stulpenstiefel an, einen grünen Lodenanzug mit Joppe, und einen grünen Hut mit Gamsbart. Der beste Beweis, daß er es ist: er hat eben versucht, sein Gesicht vor mir zu verstecken.«

»Ich habe gar nicht mein Gesicht versteckt«, sagt der Mann grob. »Ich habe einen Schnupfen, wenn ich einen Schnupfen habe, schnaube ich meine Nase. Ich bin Ihnen im Gegenteil dankbar, daß Sie mir Gelegenheit geben, meine Aussage zu ergänzen.«

»Na, na«, sagt Hart, »daß Sie reden können, das habe ich ...«

Der Vorsitzende greift ein: »Die Zeugen haben nur zu sprechen, wenn ich sie frage. Herr Hart, dieser Herr ist aber kein Bauer, das ist Herr Kriminalkommissar Tunk aus Stolpe.«

»Der Teufel ...« Der Polizist spricht nicht weiter, er dreht sich um zum Pressetisch, er sieht auf Stuff.

Aber Stuff schreibt.

Hart dreht sich wieder zum Vorsitzenden: »Es ist so, wie ich gesagt habe. Und wenn der Herr Kriminalkommissar ist, dann verstehe ich gar nichts. Er hat mir gesagt: › Wir Bauern haben euch Polizisten niedergeschlagen – mach, daß du ausreißt, sonst lackieren wir euch die Fresse‹ ... Das verstehe ich nicht, nein, Herr Landgerichtsdirektor –«

Der Kommissar ist wieder vollkommen ruhig. Ihn erschüttert nichts.

Der Vorsitzende fragt: »Ist die Schilderung, die Herr Hart uns von Ihrem Vorgehen gegeben hat, auch Ihrer Ansicht nach richtig?«

»Vollkommen, Herr Landgerichtsdirektor, vollkommen. Ich möchte sagen, ich habe ihn noch mehr zu reizen versucht, als aus seinen Worten hervorgeht.«

»Und warum das? Schien Ihnen das nicht bedenklich?«

»Es schien mir richtig, Herr Landgerichtsdirektor. Ich handelte nach reiflicher Überlegung. Ich hatte gesehen, daß die Polizeimacht klein, die Bauern sehr zahlreich waren. Die Bauern waren erregt und kampflustig. Die Polizei ruhig und scharfem Vorgehen abgeneigt.

Zudem hatte ich die etwas laxe Haltung des Polizeioberinspektors gesehen, da hielt ich eine Prise Pfeffer für angebracht.

Direkt durfte ich mich mit der Polizei nicht in Verbindung setzen. Da habe ich diesen Weg gewählt. Ich wollte die Polizei aufrütteln, kampflustiger machen, vor allem wollte ich erreichen, daß sie nicht von den Bauern vollkommen überrascht wurde.

Wie Herr Hart uns eben mitteilt, habe ich dieses Ziel erreicht.«

Im Zuschauerraum hat sich Oberinspektor Frerksen erhoben. Schritt für Schritt zog er dem Richtertisch näher, nun sagt er mehrmals rasch hintereinander: »Herr Landgerichtsdirektor! Herr Landgerichtsdirektor!«

»Ja bitte, Herr Oberinspektor? Haben Sie noch etwas zur Sache mitzuteilen?«

Mit vor Erregung zitternder Stimme erklärt Frerksen: »Der Herr Kommissar hat eben von meiner laxen Haltung gesprochen. Demgegenüber möchte ich feststellen, daß der Herr Kommissar in der Viehhalle mich zu meinem Vorgehen beglückwünscht hat. Er hat mir, ich weiß seine Worte noch genau, gesagt: ›Sie haben den Laden geschmissen.‹«

»Das habe ich gesagt, Herr Landgerichtsdirektor«, sagt der unerschütterliche Kommissar. »Das ist richtig. Aber Sie hätten diesen Mann sehen sollen, als er sich auf mich stürzte – er kannte mich ja –, als er mich fragte, wie man in Stolpe das alles aufnehmen würde, ob er richtig gehandelt hätte und so weiter. Rein, um den Mann zu beruhigen, habe ich das gesagt, ganz privat natürlich, aus Freundlichkeit.«

»Herr Kommissar ...« beginnt Frerksen.

Aber der Vorsitzende greift ein: »Das ist ohne jedes Interesse für uns. – Hat noch jemand Fragen an den Zeugen Tunk? Sie, Herr Justizrat?«

»Danke nein. Der Zeuge ist für mich erledigt.«

5

Am Schluß der Beweisaufnahme betrat der Sachverständige, Polizeimajor a. D. Schadewald den Gerichtssaal.

Er ist ein dicker, kugeliger Herr mit blankpoliertem Rundschädel, auf dessen Wölbung drei Beulen, taubeneigroß, auffallen.

Der Vorsitzende sagt: »Der Sachverständige soll keinerlei Werturteil fällen. Er soll nur zur Instruktion des Gerichtes ausführen, wie er die Aufgabe, eine Fahne aus einem Demonstrationszug zu entfernen, gelöst haben würde. Dafür sind drei Fragen formuliert ...«

Aber zuerst schildert der Vorsitzende kurz die Lage. Er tritt an die Schiefertafel:

»Hier ist das Lokal: das Tucher. Hier über Marktplatz, Burstah, am Stolper Torplatz vorbei, unter der Bahn fort, durch Villenstraßen dann, geht der Weg des Demonstrationszuges, der etwa dreitausend Mann stark ist. Ihnen, Herr Polizeimajor, stehen etwa zwanzig Beamte kommunaler Polizei, die mit Polizeiknüttel, Säbel und Revolver ausgerüstet sind, zur Verfügung. Die Lage ist klar?«

Der Polizeimajor Schadewald sagt vernehmlich: »Jawohl.«

Der Vorsitzende: »Ich stelle nun Frage Nummer Eins: scheint es notwendig und üblich, die Aufgabe der Wegnahme einer Fahne nach einem bestimmten Plane vorzunehmen?«

Der Polizeimajor Schadewald sagt vernehmlich: »Jawohl.«

Alles wartet mit Spannung, aber es erfolgt nichts weiter. Der Sachverständige hat Frage Nummer Eins bereits seiner Ansicht nach erschöpfend beantwortet.

Der Vorsitzende: »Ich stelle Frage Nummer Zwei: Wird der Führer zur Durchführung dieser Aufgabe seinen Beamten bestimmte Anweisungen erteilen?«

Der Polizeimajor Schadewald sagt vernehmlich: »Jawohl.«

Und wieder ist Stille. Alles ist verzweifelt. Gott, ein Sachverständiger, der sich nicht selbst gern reden hört, gibt es denn so etwas?

Der Vorsitzende stellt die dritte Frage: »Wie wirkt das Verhalten des Führers, seine Ruhe und seine Erregung, seine klare oder unbestimmte Befehlsausgabe auf die Truppe?«

Gutachter Polizeimajor Schadewald erklärt: »Je ruhiger der Führer, um so ruhiger die Truppe.«

Und verstummt wieder.

Die drei Fragen sind vorbei.

Der Vorsitzende lächelt, etwas verlegen, etwas hilflos.

Dann: »Herr Major, ich muß zu der Frage Zwei nun doch noch eine Zusatzfrage stellen. In welchem Umfange würden Sie als Führer Ihrer Truppe Befehle erteilen? Welche Befehle würden Sie erteilen?«

Der Sachverständige tut seinen Mund auf und spricht: »Zuerst muß ich wissen, wo ich die Fahne wegnehmen will.

Natürlich an der schmalsten Straßenstelle, denn dort kann ich den Zug am leichtesten zum Halten bringen. Also niemals Stolper Tormarkt, sondern –« er zeigt auf die Tafel – »unterer oder oberer Burstah.

Dann teile ich meine Leute ein.

Acht Mann müssen eine Sperrkette über die Straße bilden. Sie haben den Zug aufzuhalten, aber möglichst den Fahnenträger, eventuell auch einige seiner Freunde, passieren zu lassen, damit er vom Zug isoliert wird.

Fünf weitere Beamte sind der Stoßtrupp. Zwei bekommen den Befehl, den Fahnenträger, wenn er auf meine Aufforderung hin die Fahne nicht herausgeben will, am rechten und am linken Arm zu fassen. Widersetzt sich der Fahnenträger, so haben sie von ihrem Polizeiknüttel Gebrauch zu machen. Sonst kommt Waffengebrauch nicht in Frage.

Die drei andern haben nur einzugreifen, wenn die mitpassierten Freunde des Fahnenträgers tätlich werden wollen.

Der Rest der Mannschaft ist meine Reserve.

Vorher habe ich mir ein Auto besorgt, mit dem die fortgenommene Fahne sofort den Demonstranten aus dem Auge geschafft wird.

Sobald ich die Fahne habe, kommandiere ich: Sammeln. Die Sperrkette rollt sich auf und der Zug kann weitermarschieren.«

Schluß. Ende. Alles rückt zurecht.

Gewiß, das ist klar, jeder versteht es, so wäre nichts geschehen.

Der Vorsitzende fragt nachdenklich: »Ist denn immer Zeit, so detaillierte Anweisungen zu erteilen?«

Und der Sachverständige: »Der Weg ist doch lang, die Leute marschieren fast eine Stunde, ich kann mir ja die Stelle aussuchen.«

»Noch eine Frage: würden Sie mit Ihren Mannschaften dem Zuge entgegengehen oder sein Herannahen abwarten?«

Und der Sachverständige: »Abwarten. Unbedingt abwarten. Lieber später eingreifen, aber genau instruieren.«

Der Vorsitzende sagt: »Ich habe keine Frage mehr an den Herrn Sachverständigen.«

Weder Verteidigung noch die Staatsanwaltschaft rühren sich.

Der Polizeimajor a. D. Schadewald verläßt, ehrfürchtig angestarrt, den Saal.


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