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Zweites Kapitel
Drei Tage Glück

1

Am andern Morgen ist Tredup in glänzender Stimmung. Er hat geschlafen, Gebhardts quänglige Stimme klingt nicht mehr hart an seinem Ohr, Tredup hofft wieder, Tredup freut sich.

Eng im Bett an Elise geschmiegt, verteidigt er sogar den Chef, weil er nicht ohne Hoffnung sein will.

»Schließlich hat er recht. Was weiß er denn von mir? Er hat ja keine Ahnung, wie ich schreiben kann. Wenn er erst sieht, daß alles klappt wie bei Stuff und vielleicht besser klappt ...

Ich habe einen guten Anfang. So einen Dusel ... Erst einmal der Bericht über den Abend gestern, ich sage dir, Elise, der ist mir gelungen.

Ganz dramatisch habe ich es gemacht und gezeigt, daß nur durch Glück aus dem dreißigsten September kein sechsundzwanzigster Juli wurde.

Und nun kommt jeden Tag der Prozeßbericht. Ich werde schuften. Das soll ein guter Bericht werden, ich werde wirklich schreiben, was im Saal passiert. Der Wenk muß mir auch noch einen Ausweis geben, die Gerichtsdiener kennen mich doch gar nicht.

Und dann, an einem der nächsten Tage, wenn ich erst Bescheid weiß, wie alles klappt, nehme ich dich auch mal mit. Die Angeklagten und Richter und die Staatsanwälte und der Verteidiger, so was hast du doch nicht gesehen, so was interessiert dich doch, nicht wahr, Elise?«

»Ja«, sagt sie, »gerne komme ich mal. Wenn es dich nicht geniert. Man sieht es doch schon wieder bei mir. Bei mir sieht man es immer gleich.«

»Das macht nichts. Das ist doch keine Schande, wenn man ein Kind erwartet und ist verheiratet. Vielleicht ist es sogar ganz gut. Vielleicht ist Gebhardt grade da und sieht es, und legt mir von selbst zu.«

»Das möchte ich nicht«, meint sie, »daß der es sieht. Auf Gebhardt habe ich eine richtige Wut.«

»Aber warum denn? Gebhardt ist doch ganz gut, der legt mir am Ende doch zu, wenn ich zehnmal bei ihm gewesen bin. Ich geniere mich nicht. Ich frage immer wieder.«

»Nein, ich mag ihn nicht. Seit er gesagt hat, er legt der Heinze nichts zu, das ist schon viel zuviel, was er ihr gibt, seitdem mag ich ihn nicht. Daß der Mann sich nicht schämt! Das Mädchen will doch auch leben.«

»Gott, Elise, so sind die Chefs alle. Die verstehen doch nichts vom Gehalt und Auskommen. Die lesen in der Zeitung, daß ein Arbeitsloser mit zwölf Mark vierzig [Pfennig] die ganze Woche leben muß mit seiner Familie. Und da denken sie, was eine ganze Familie kann, muß ein einzelnes Mädel doch auch können.«

»Eben. Der sollte es mal versuchen. Eine Woche sollte er leben mit Frau und Kindern, nur so, wie wir leben ...«

»Das hilft nichts, Elise, eine Woche. Eine Woche können das alle. Das Schlimme ist ja, immer so leben, ohne Aussicht, daß es besser wird, das ist das Schlimme. Und das kann man dem Gebhardt nie beibringen. Nein, wir kriegen schon Geld. Es geht doch vorwärts, Elise. Vor einem Vierteljahr bekam ich nur Provision und heute bekomme ich festes Gehalt und bin Redakteur.«

»Und die tausend Mark ...« fängt Elise an.

Aber er will nicht hören: »Und ich sage dir, wir stehen jetzt gleich auf und trinken Kaffee. Und dann lauf ich zum Ostseekino und seh mir die Bilder an. Ich soll alles Lokale von denen kriegen, aber was ich kann, schreibe ich doch lieber selbst.

Und zum Wochenmarkt gehe ich auch noch. Zum eigentlichen Marktbericht ist es zu früh, aber ich will ein Stimmungsbild schreiben, wie die Marktwagen kommen und die Stände aufgebaut werden und der Hänsel von der Marktpolizei rumgeht und verteilt die Plätze. Und wie zwei Händler sich um ihre Stände zanken. – So was lesen die Leute gerne. Eine feine Zeitung will ich machen.«

Er liegt mit offenen Augen, abwesend, träumend. Frau Elise möchte noch einmal anfangen von den tausend Mark, aber dann tut er ihr leid. Er ist so glücklich, er freut sich wie ein Kind.

»Dann stehe ich auf und koch Kaffee«, sagt sie und will aus seinen Armen.

»Das tu nur. Ich muß los. Oh, Elise, Elise!« Er drückt sie immer fester und schüttelt sie. »Elise, ich bin Redakteur! Freust du dich nicht? Redakteur bin ich!«

2

Vor der großen Turnhalle bei der Marbedeschule ist Schupo aufmarschiert. Neugierige stehen in dichten Scharen auf der Straße.

Es ist schon ein Viertel nach neun, als Tredup mit stürmendem Schritt naht. Er hat sich verspätet, hoffentlich bekommt er noch einen guten Platz am Pressetisch.

Er stürzt auf den nächsten Schupo zu: »Tredup, Redakteur von der Chronik. Hier ist mein Ausweis. Hat es schon angefangen? Ist etwas passiert, Herr Wachtmeister, daß hier Schupo ist? Sie sind wohl gleich von gestern abend hiergeblieben?«

»Bitte, dort steht Herr Oberleutnant.«

Tredup lernt Oberleutnant Wrede kennen. Nein, es hat noch nicht angefangen. – Nein, das ist eine halbe Hundertschaft, vom Gericht angefordert. – Nein, natürlich im Einvernehmen mit der Polizeiverwaltung. – Ja, die bleiben den ganzen Prozeß hier. – In Hotels sind die Leute untergebracht.

Ja, er bäte den Herrn Redakteur, das lieber nicht zu erwähnen.

Tredup kraust die Stirn.

Es gäbe gleich wieder Gerede, über Luxus, Verschwendung, und doch wären keine anderen Quartiere hier in Altholm.

Tredup verspricht, nichts zu bringen. Und behält sich innerlich freie Hand vor. Eine halbe Hundertschaft Schupo in Hotels? Das ist ja horrend!

Tredup tritt eilig in die Turnhalle ein.

Man hat aus ihr durch die Entfernung der Geräte einen leidlichen Sitzungssaal geschaffen. Natürlich, der Gerichtssaal im Amtsgericht ist viel zu klein, und in den Saal einer Gastwirtschaft hat man wohl nicht gehen wollen. Immerhin wirkt es seltsam, wie hinter dem Richtertisch der dürre Wald der Kletterstangen aufwächst, die Seile sind hochgebunden, aber etwas ominös sieht es doch aus.

Tredup findet den Pressetisch grade gegenüber dem Platz der Angeklagten und sucht sich einen freien Stuhl. Schon ein Dutzend Herren sind da, auf vielen Plätzen ist ein Schild aufgepinnt, wer sie beansprucht.

Das also sind die großen Herren aus Berlin, sie flüstern miteinander. Die kennen sich. Tredup kennt niemanden. Von Altholm ist noch keiner da. Wenn doch erst Blöcker käme oder wenigstens der Pinkus von der Volkszeitung, daß man ein paar Worte reden könnte, erzählen, als was man hier ist.

Plötzlich tun sich die Türen hinten auf, und das Publikum wird eingelassen. Und durch die andere Tür, eskortiert von Justizwachtmeistern, erscheinen zwei Angeklagte: Padberg und Bauer Rohwer. Tredup sucht den einzigen, den er kennt, Henning, der einmal wegen der Bilder bei ihm war, doch der fehlt noch.

Nun geht die Tür zur Rechten auf, ein kleiner Mann kommt unsicher herein, sieht sich zögernd um, der Gerichtsdiener sagt was zu ihm. Der kleine Mann macht fünf Schritte und springt wieder zurück. Er sieht nicht gut aus: quer über die eine Gesichtshälfte, durch die Nase, läuft eine feuerrote breite Narbe. Und die Nase selbst, graubleich, sieht aus wie eine formlose Kartoffel.

Der Gerichtsdiener nimmt den kleinen Mann beim Arm und führt ihn zum Platz der Angeklagten. Ganz zuunterst setzt sich der. Er sieht sich ängstlich um und verbirgt dann sein Gesicht in der Hand.

Aus dem Gerede der Pressevertreter entnimmt Tredup, daß dies der Dentist aus Stolpe ist, gegen den unbegreiflicherweise Anklage erhoben sei. (Was eine Schande sein soll.)

Nun wird der vierte Stuhl bei den Angeklagten besetzt, Henning, den Arm in einer schwarzen Binde, ist gekommen. Im Zuschauerraum stehen die Leute sogar auf, um ihn zu sehen, alle recken die Hälse. Ein Pressemensch, zwei Plätze ab von Tredup, fängt an zu zeichnen, als sei nun erst der Richtige gekommen.

Aber Henning macht sich gut. Er begrüßt die andern Angeklagten, gibt ihnen die Hand, sogar dem Dentisten stellt er sich vor, die beiden reden miteinander, Henning lächelt.

Tredup notiert eifrig.

Eine Stimme quäkt neben ihm: »Nanu, ist das Käseblatt Chronik heute durch zwei Mann vertreten?«

Pinkus von der Volkszeitung hat sich neben Tredup gesetzt.

»Wieso zwei Mann?« fragt Tredup ärgerlich. »Ich vertrete die Chronik.«

Pinkus grinst: »Und Stuff? Was macht der?«

»Stuff? Was soll der machen?« Aber schon verschlägt es ihm die Rede.

Schräg gegenüber sitzt Stuff und sieht ihn grade und trüb durch den Klemmer an. Beklommen grüßt Tredup und Stuff bewegt ernst den Kopf.

Und während alles aufsteht, weil jetzt der Gerichtshof seinen Einzug hielt, ist Tredup ganz auseinander. Was will Stuff hier? Hat er sich mit Gebhardt ausgesöhnt? Oder ist er nur so da? Was spielen die mit ihm? Soll er nie Ruhe haben? Sich nie freuen dürfen?

Indes die Personalien der Angeklagten festgestellt werden, der Eröffnungsbeschluß verlesen wird, versinkt Tredup in Grübelei. Nur manchmal schreibt er flüchtig ein paar Sätze.

Wozu sich die Mühe geben? Es wird ja doch nichts mit ihm.

Die Vernehmung der Angeklagten zieht sich endlos hin. Der Vorsitzende hat eine freundschaftliche Art, mit ihnen zu sprechen. Er redet sie mit Herr an, er läßt ihnen Zeit. Und mit äußerster Genauigkeit bemüht er sich, jeden Schritt jedes Angeklagten während des Demonstrationszuges festzustellen. Hinter ihm steht eine große schwarze Tafel, auf der jedes Haus am Marktplatz und am Burstah eingezeichnet ist.

»Wo standen Sie da? – Waren Sie vielleicht schon beim Hause von Bimm? Sie wissen, das ist der Laden ...«

Die Staatsanwaltschaft schweigt. Der Verteidiger erläutert nur manchmal, hilft dem wortungewandten Rohwer.

Bewegung entsteht erst, als der Vorsitzende die Bauernschaftsfahne in den Saal bringen läßt. Sie ist auseinandergenommen, und nun bildet sich vor dem Richtertisch eine Gruppe: Henning und Padberg schrauben die Sense auf, der Vorsitzende sieht interessiert zu. Der Oberstaatsanwalt, gefolgt vom Staatsanwaltschaftsrat, beobachtet aus zwei Meter Entfernung, der Verteidiger steht neben Henning.

Padberg hebt die Fahne.

Das beschmutzte Fahnentuch hängt kläglich am Schaft herunter, die Sense, dreifach geknickt und verbogen vom Kampf, sieht trübe aus.

»Würden Sie nun einmal zeigen, Herr Henning, wie Sie die Fahne trugen? Ach so, Ihr Arm. Entschuldigen Sie, vielleicht ist Herr Padberg so liebenswürdig?«

Aber Padberg ist ungeschickt. Er ist klein, untersetzt, er hat sicher nie eine Fahne getragen. Sie schwankt zwischen seinen Händen, kippt nach vorn, der Vorsitzende und der Gerichtsdiener retten sie knapp vor einem Fall.

Ungeduldig streift Henning die Binde ab. Er nimmt die Fahne aus Padbergs Händen, hält sie vor die Brust. Dann hebt er sie plötzlich.

Irgend etwas reißt ihn mit, er hebt sie höher und höher, läßt sie seitlich fallen, fängt sie mit einer Hand ab, das Fahnentuch entfaltet sich: schwarzes Feld, weißer Pflug, rotes Schwert.

Sie knattert und schlägt, weht nach rechts, weht nach links.

Im Zuschauerraum werden ein paar Rufe laut: »Heil Bauernschaft!«

Der Verteidiger springt zu: »Ihr Arm, Herr Henning!« erinnert er. Plötzlich sinkt Hennings Arm herunter, er verzieht schmerzvoll das Gesicht, mit Mühe hält er die Fahne in einer Hand, Padberg und Rohwer nehmen sie ihm ab.

Alles ist vorbei.

Aber Tredups Hand fliegt nur so über das Papier.

»Der ›Krüppel‹ Henning als Fahnenschwenker. – Verteidiger nimmt Hilfsstellung. – Wunderwirkung einer Fahne auf Armlähmung.«

»Das ist doch was, da wird sich Bürgermeister Gareis freuen, wenn er das liest. Allerdings, eigentlich sind diese Angeklagten alle ganz nette Kerle, vor allem Henning ist wirklich nett, aber kann man sich so etwas entgehen lassen? Das grade lesen die Leute gern.«

Hinter dem Pressetisch geht der Gerichtsdiener, flüstert das Wort: »Chronik – Chronik – Chronik –«

Erschreckt fährt Tredup herum: »Ja. Hier.«

»Sie möchten mal rauskommen.«

Man ruft ihn ab. Stuff hat gesiegt. Wieder Annoncen sammeln, nachdem man hier im Saal, an diesem Tisch gesessen ...

Tredup rafft seine Papiere zusammen und schleicht aus dem Saal. Noch ein Blick auf alles, das er nicht wiedersehen wird: der Richtertisch mit den Schöffen, das Tischchen in der Ecke, an dem neben Stadtrat Röstel der Vertreter der Regierung in Stolpe sitzt, Assessor Meier, Padberg redet grade ...

Austreibung aus dem Paradies.

Die Tür geht hinter ihm zu.

Aber draußen im Vorsaal steht nur Lehrling Fritz in seinem blauen Kittel: »Das Manuskript, Herr Tredup, es ist gleich zwölf.«

Tredup atmet auf, sucht die Blätter zusammen.

»Herr Stuff ist auch hier«, sagt er möglichst gleichgültig.

»Der hat schon heute früh bei uns reingeschaut. Adieu gesagt. Der ist jetzt bei der Bauernschaft«, berichtet Fritz.

»Ja so, bei der Bauernschaft«, sagt Tredup und sieht gegen die Fenster, die heller und heller werden. »Wie ist eigentlich das Wetter draußen?« fragt er.

»Es klärt auf, Herr Tredup.«

»Also, es klärt auf«, sagt der und geht mit festen Schritten gegen die Tür, an dem Schupo vorbei, in den Sitzungssaal.

3

Als letzter Angeklagter wird noch am späten Nachmittag der Dentist Franz Czibulla aus Stolpe vernommen. Der kleine bärtige Mann tritt mit fliegenden Gliedern vor den Richtertisch, immer wieder fahren seine Hände bergend zu dem zerstörten Gesicht.

Der Vorsitzende fragt: »Sie haben eine Klage gegen die Stadt Altholm angestrengt?«

»Ja, Herr Landgerichtsdirektor, wo man mich so zugerichtet hat! Ich muß unter Menschen sein, um zu verdienen. Wie kann ich denn so unter Menschen sein?« Wieder fährt seine Hand zum Gesicht hoch.

»Also Sie kamen vom Bahnhof –?« fängt der Vorsitzende an.

»Ich kam vom Bahnhof, ja. Ich wollte zu meinem Kunden Heß in der Propstenstraße, dem ich ein Gebiß gemacht hatte. Herr Heß kann immer schlecht abkommen, deshalb gehe ich zu ihm.«

»Wir werden Herrn Heß noch hören«, sagt der Vorsitzende. »Also, Sie gingen den Burstah hinunter? War es da nun sehr voll?«

»Nein. Zuerst gar nicht. Ganz leer war es, totenstill war es dort. Es fiel mir noch auf.«

»Also aufgefallen ist Ihnen da schon was?«

»Wie man so denkt. Hier ist es aber still. Und dann sieht man in die Schaufenster. Und dann denkt man wieder: Hier ist es aber still heute in Altholm.«

»Sie haben also nicht weiter darüber nachgedacht?«

»Nein. Wenn ich vorher gewußt hätte, was mir passieren würde, hätte ich darüber nachgedacht. Aber das kann man ja nicht.«

»Haben Sie denn nicht gewußt, daß in Altholm eine Bauerndemonstration stattfinden würde? Es stand doch in den Zeitungen.«

»Vielleicht habe ich es gelesen. Aber daran gedacht habe ich sicher nicht.«

»Sie sind also kein Bauernschaftsanhänger? Sie haben doch hauptsächlich Landkundschaft.«

»Ich bin ein Geschäftsmann, Herr Landgerichtsdirektor.«

»Sie sollen sich aber zustimmend über die Bauernschaftsbewegung geäußert haben.«

»Ich bin Geschäftsmann, Herr Landgerichtsdirektor, wenn ich bei einem Bauern bin, sage ich Ja zu dem, was der Bauer sagt, und bin ich bei einem Sozi, dann sage ich zu dem auch Ja.«

»Sie sind also nicht wegen der Demonstration nach Altholm gekommen?«

»Ich bin wegen der Zähne von Herrn Heß gekommen.«

»Als Sie nun den Burstah weitergingen, was sahen Sie da?«

»Da war plötzlich eine Masse Menschen, ein Gedränge, und überall standen Polizisten.«

»Und da sind Sie nicht stehengeblieben?«

»Ich mußte doch pünktlich zu Herrn Heß. Herr Heß will, daß ich pünktlich bin.«

»Nun, schildern Sie mal, was sahen Sie dann? Schlugen die Bauern auf die Polizei ein oder die Polizei auf die Bauern? Oder was war?«

»Geschlagen wurde überhaupt nicht mehr. Die Leute drängten hin und her und die Polizisten riefen immerzu ›Straße frei‹. Und als ich zehn Schritte weiter kam, da lag der Herr blutend auf dem Pflaster.«

Der Vorsitzende erläutert: »Herr Henning.«

»Ja, ich weiß, daß das Herr Henning ist. Den kenne ich.«

Der Oberstaatsanwalt erhebt sich: »Ich bitte, den Angeklagten zu fragen, woher er Herrn Henning kennt.«

Der Vorsitzende: »Wollen wir nicht alle Fragen zurückstellen? – Nun gut, woher kennen Sie den Angeklagten?«

»Richtig kennen tue ich ihn erst seit heute morgen, aber ich habe ihn im Krankenhaus ein paarmal gesehen.«

»Hat der Angeklagte nicht mit dem Angeklagten Henning im Krankenhaus gesprochen?«

Henning springt erregt auf: »Herr Oberstaatsanwalt, wenn Ihnen das Gesicht so zerschlagen gewesen wäre wie dem Herrn Czibulla, da würde Ihnen das Reden schon vergehen!«

»Ich bitte, den Angeklagten Henning auf das Ungebührliche seiner Redeweise hinzuweisen. Der Angeklagte Henning ...«

»Herr Henning, das geht nicht. Sehen Sie, wenn jeder aufspringen wollte und losreden, wenn ihm etwas nicht gefällt. Nicht wahr, Sie sehen das ein? Also bitte, das nächste Mal –« lächelnd – »Kandare stramm. – Die Frage ist wohl erledigt?«

»Im Gegenteil. Ich bitte, den Angeklagten zu befragen, ob er sich mit dem Angeklagten Henning im Krankenhaus irgendwie verständigt hat. Es gibt auch andere Wege als die Sprache.«

»Herr Landgerichtsdirektor, ich hatte wirklich anderes im Kopf als den Herrn. Ich habe ihn nur zwei- oder dreimal gesehen, als er zur Toilette ging und meine Zimmertür zum Gang stand auf.«

»Also. – Sie sahen Herrn Henning auf dem Pflaster liegen? Lag er allein oder war jemand bei ihm?«

»Er lag ganz allein. Das regte mich furchtbar auf, daß ihm keiner half.«

»So, Sie waren also sehr erregt? Waren Sie nun sehr erbittert auf die Polizei?«

»Ich wußte doch damals gar nicht, daß ihn die Polizei niedergeschlagen hatte!«

»Aber Sie sahen doch, daß es Säbelwunden waren? Sonst hatte doch niemand einen Säbel wie die Polizisten.«

»Wer denkt denn daran in so einem Augenblick? Ich hatte zu tun, daß ich durch die Leute durchkam, ich sah den Herrn liegen, das regte mich auf. Aber weiter nachgedacht habe ich nicht. Ich mußte doch zu Herrn Heß.«

»Warum gingen Sie nun grade zu der Fahnengruppe? Das war doch nicht der grade Weg zur Propstenstraße?«

»Der grade Weg war verstopft, da kam ich nicht durch. Und bei der Gruppe war Luft.«

»Fiel Ihnen nun die Fahne sehr auf?«

»Die habe ich gar nicht gesehen.«

»Aber es ist doch eine große Fahne! Sehen Sie sich einmal die Fahne an, sie steht dort in der Ecke. Die kann man doch eigentlich gar nicht übersehen.«

»Herr Landgerichtsdirektor, da war ja soviel zu sehen, ich habe die Fahne wirklich nicht bemerkt.«

»Nun schön, also Sie haben die Fahne nicht bemerkt. Was veranlaßte Sie nun, grade auf die Beamten loszugehen? Sie sahen doch, daß es Beamte waren?«

»Jawohl, ein paar hatten ja Uniformen an.«

»Was wollten Sie da nun eigentlich?«

»Ja, ich weiß auch nicht ... Herr Landgerichtsdirektor, ich wollte fragen, wie ich durchkäme, was los wäre ... Ich weiß auch nicht mehr recht, ich wollte eben zu den Beamten. Ich war so unruhig.«

Der Vorsitzende: »Ja.« Zögernd noch mal: »Ja. Sehen Sie, das ist so ein Punkt, Herr Czibulla, der scheint mir nicht ganz geklärt. Sie sagen, Sie wollten fragen, was los wäre. Glaubten Sie denn, die Beamten hatten Zeit, Ihnen Auskunft zu geben?«

»Ja ... Nein ... Ich weiß doch nicht ...«

»Sie hatten doch gemerkt, daß alles sehr unruhig war. Wurde denn nicht sehr geschimpft in Ihrer Nähe?«

»Ja, geschimpft wurde schon, aber ich kriegte nicht schlau, was los war.«

»Und das sollten Ihnen die Beamten erzählen? Wo ein Schwerverletzter auf dem Pflaster lag?«

»Ja, ich wollte doch gern wissen ...«

»Und dann wollten Sie fragen, wie Sie durchkämen? Durch die Menschenmenge? Wäre es nicht einfacher gewesen, Sie wären einfach zurückgegangen?«

»Aber dann kam ich doch nicht zu Herrn Heß!«

»Sie hätten doch durch die Grünhofer Straße gehen können.«

»Daran habe ich nicht gedacht.«

»Und Sie wollten nun fragen, wie Sie durchkämen. Aber da war doch die Menschenmenge, ein paar tausend Mann. Und Sie haben uns doch erzählt, wie die Beamten ›Straße frei‹ riefen. Wurde denn die Straße da frei?«

»Nein, da waren zu viele.«

»Wie konnten Ihnen denn die Beamten da helfen? Sie müssen doch eine Idee gehabt haben?«

»Nein ... ich weiß nicht mehr ... ich wollte bloß fragen, was los war.«

»Nein, Herr Czibulla, das scheint mir alles noch nicht auszureichen. Sie waren also sehr erregt. Sie hatten den blutenden Mann auf dem Pflaster liegen sehen. Die Beamten standen mit dem Rücken zu Ihnen. War es da nicht doch vielleicht so, daß Sie den Beamten eins auswischen wollten?«

»Herr Landgerichtsdirektor, so wahr ich hier stehe ... Ich bin doch Dentist, was gehen mich denn solche Sachen an?«

»Nun, der Herr ist Reisender in landwirtschaftlichen Maschinen, den ging es auch nichts an, wenn man es von Ihrem Standpunkt ansieht, und doch lag er auf dem Pflaster.«

»Ich kann das nicht erklären«, flüsterte der Kleine, »aber ich wollte nur mal fragen. Da standen die Beamten ...« Er bricht ab und sieht sich hilflos um.

Der Verteidiger erhebt sich: »Ich finde, Herr Czibulla hat uns eine vollkommen einleuchtende und ausreichende Erklärung gegeben. Herr Czibulla war unruhig, besorgt, erregt, ein blutender Mensch lag auf dem Pflaster. Herr Czibulla war ängstlich. Um ihn wurde geschimpft, die Leute waren aufgeregt.

Ein ängstlicher Mensch hat in solcher Lage den Wunsch, sich unter Schutz zu stellen. Da waren die Beamten. Was lag näher, als daß er zu den Beamten ging. Dafür ist die Polizei doch da. Er hat sich gar nichts weiter gedacht dabei, er hat rein gefühlsmäßig gehandelt. Vielleicht hat er sich wirklich gesagt, frag sie, wie du durchkommst, was los ist. Aber die Hauptsache war ihm, daß er unter Schutz kam.«

Der Vorsitzende fragt: »War das so, Herr Czibulla, wie Herr Justizrat Streiter das eben ausführte, daß Sie sich schutzbedürftig fühlten und sich unter den Schutz der Beamten stellen wollten?«

Der Kleine flüstert ängstlich: »Ich weiß doch nicht ... ich wollte doch zu Herrn Heß ...«

»Also lassen wir das vorläufig. – Was geschah nun? Halt, einen Augenblick. Was hatten Sie in Ihren Händen, als Sie zu den Beamten gingen?«

»In den Händen? Meine Tasche.«

»In der einen Hand. Und in welcher Hand? In der rechten oder in der linken?«

»In der linken. Nein, in der rechten. Nein, ich weiß nicht mehr.«

»Und was hatten Sie in der andern Hand?«

»In der andern? Nichts.«

»Herr Czibulla, überlegen Sie sich genau, was Sie sagen. Was hatten Sie in der andern Hand?«

»Nichts, Herr Landgerichtsdirektor. Bestimmt nichts.«

»Hatten Sie nicht einen Stock in der andern Hand?«

»Einen Stock? Ich gehe doch nicht mit einem Stock!«

»Oder einen Schirm?«

»Herr Landgerichtsdirektor, seit fünfundzwanzig Jahren gehe ich ohne Schirm. Seit ich im ersten Ehejahr den Schirm mal habe stehenlassen, habe ich keinen neuen gekauft.«

Gelächter im Zuhörerraum.

»Ich bitte, das Lachen zu unterlassen.«

Der Gerichtsdiener läuft in den Gang: »Das Lachen ist zu unterlassen! – Das Lachen ist zu unterlassen! – Das Lachen ...«

Der Vorsitzende: »Ich danke Ihnen, Herr ... Danke, danke, es ist erledigt. – Herr Czibulla, wir werden später einen Zeugen hören, der aussagt, daß Sie einen Schirm oder Stock in der Hand gehabt haben.«

»Herr Landgerichtsdirektor, das ist doch unmöglich. Nie gehe ich mit Schirm oder Stock. Fragen Sie meine Frau, fragen Sie alle meine Verwandten oder Bekannten, nie hat mich jemand mit einem Stock gesehen.«

»Der Zeuge wird aussagen, daß Sie den Polizeihauptwachtmeister Meierfeld mit dem Stock oder mit der Schirmkrücke ins Kreuz gestoßen haben.«

»Wie kann denn der Mann das! So, Herr Landgerichtsdirektor, so habe ich ihn mit der Hand am Rock gezupft.«

»Aber auch Herr Meierfeld hat ausgesagt, daß er einen heftigen Stoß verspürt hätte.«

»Herr Landgerichtsdirektor, gesagt habe ich drei- oder viermal ›Herr Wachtmeister‹, und dann habe ich ihn am Rock gezupft. Nicht doller, als eine Maus zupft.«

»Na, Sie müssen doch sehr energisch gezupft haben, sonst hätte der Beamte nicht solchen Schreck bekommen.«

»Nicht mehr wie eine Maus, Herr Landgerichtsdirektor, ganz sachte habe ich gezupft. Und da fuhr er gleich mit dem Säbel auf mich ein.«

4

Am Morgen des zweiten Verhandlungstages wird als erster Zeuge der Polizeioberinspektor Frerksen vernommen.

Da ist kaum einer im Saal, der ihn nicht kennt, doch recken sie alle die Hälse, als er hereinkommt. In den hinteren Reihen stehen sie sogar auf. Er tritt schlank und blaß, ein wenig vorgebeugt, an den Richtertisch, Tschako und Handschuhe in der einen, den Säbelgriff in der andern Hand.

»Reinweg vorm Spiegel muß der Affe das eingeübt haben«, knurrt Stuff. »Das hat er doch noch nie fertiggebracht, den Säbel richtig offiziersmäßig zu halten.«

»Totgeschossen hat er sich also doch nicht«, denkt Tredup. »Wie er das fertigbringt, jetzt vor allen Leuten, und vorgestern abend ist er erst auf der Straße seinem Säbel nachgerannt ...«

Frerksen spricht zu Anfang sehr leise, erst allmählich wird seine Stimme stärker.

Kaum sind seine Personalien festgestellt, erhebt sich der Verteidiger: »Ich bitte, von einer Vorvereidigung dieses Zeugen Abstand zu nehmen. Die Verteidigung ist der Ansicht, daß dieser Zeuge seine Befugnisse überschritten hat. Ein Disziplinarverfahren war bereits gegen ihn in Gang.«

Der Staatsanwalt widerspricht: »Das Disziplinarverfahren ist eingestellt. Es bestehen nach Ansicht der Staatsanwaltschaft keine Bedenken gegen die Vorvereidigung.«

Und der Vorsitzende: »Der Gerichtshof zieht sich zur Beschlußfassung zurück.«

Alles strömt in den kleinen Vorplatz, auf den Schulhof, wo man rauchen darf. Frerksen bleibt noch einen Augenblick vor dem Richtertisch stehen, aber alle schauen ihn an. So drängt er mit durch die zu enge Tür, taucht in die Menge ein, verschwindet in ihr vor der Aufmerksamkeit aller, und findet sich wieder Seite an Seite mit Henning.

Es ist der Blick des andern, der ihn aufmerksam gemacht hat. Ein lodernder Blick, ein kaltes Feuer.

Vor beider Augen steht jene Szene, da diese behandschuhte Hand nach dem Fahnenschaft griff, die andere ihn triumphierend hob, hob, hob.

Und der ganze Film bis da, da man Henning in die Apotheke trug, und dieser stürzte hinzu und rief: »Nicht anrühren! Der ist verhaftet.«

Sie sehen sich an, eng treibend, Schulter an Schulter im Gedränge der vielen. Sie sehen sich nur an.

Dann drückt Frerksen nach rechts, mit Gewalt nimmt er seinen Blick vom andern fort, sieht zur Seite, um die Augen nicht niederschlagen zu müssen.

Henning brennt sich eine Zigarette an.

Frerksen entdeckt den Assessor Stein mit Tredup. Stein hat sich den Tredup gekauft.

»Ich glaube nicht«, sagt grade Stein zu Tredup, »daß wir uns das länger bieten lassen von der Chronik. Der Bericht über die Naziversammlung war direkt sensationell aufgemacht und entstellt. Als ob die Nazis Lämmer wären. Sagen Sie das man Ihrem Herrn Stuff!«

»Aber wieso?« stottert Tredup. »Das war doch alles richtig. Die Kommunisten hatten überfallen! Und die Polizei war doch wirklich zu schwach.«

»Ein schwarzer Tag!« nörgelt der Assessor. »Nach dem sechsundzwanzigsten Juli der dreißigste September. So 'ne Aufmachung! Was war denn los? Gar nichts! Aber gleich muß der Polizei eins ausgewischt werden. Wir kennen Ihren Stuff.«

»Ausgewischt? Der Herr Bürgermeister hat doch selbst gesagt ...«

»Ach was! Wenn man unsere Bekanntmachungen haben will, benutzt man nicht jede Gelegenheit, uns einen Tritt zu versetzen. Das sollte Herr Stuff auch wissen.«

»Ich höre immer Stuff«, sagt der Polizeioberinspektor. »Herr Stuff ist doch gar nicht mehr bei der Chronik!«

»Ja?« fragt Stein, scheinbar äußerst überrascht. »Wer hat denn da diesen Mist produziert?«

Frerksen deutet mit den Augen und Stein tut sehr verlegen: »Na, dann entschuldigen Sie, Herr Tredup. Hätte ich das gewußt! Aber Herr Bürgermeister wird sich sehr wundern, daß grade Sie so schreiben.«

»Ich habe ganz sachlich berichtet«, verteidigt sich Tredup.

»Viel Freunde werden Sie sich mit diesen sachlichen Berichten nicht machen. – Nun, Frerksen, werden Sie nun vereidigt oder nicht?«

»Vorvereidigt – hinterher werde ich doch vereidigt! Das ist doch Unsinn, daß ich mich strafbar gemacht haben soll.«

»Natürlich. Sie werden ja sehen, was für Zeugen für Sie aufmarschieren. Reichsbanner und SPD, kurz die Arbeiterschaft steht hinter Ihnen.«

Frerksen wechselt die Farbe.

Hundert Schritte ab, vor dem Schultor, wird auch über dies Thema gesprochen. Gareis hat seinen grauen flauschigen Lodenmantel über den Cut geworfen und geht zwischen dem Stadtverordneten Geier und dem Parteisekretär Nothmann auf und ab.

»Ich möchte wissen, Bürgermeister«, sagt Nothmann, »woher Sie noch das Vertrauen nehmen? Dieser ganze Prozeß wird ein Riesenreinfall für uns.«

»Warten Sie doch die Zeugen ab. Gestern die Angeklagten, das sagt gar nichts. Natürlich haben alle Idioten mit solch einem hübschen Jungen wie Henning Mitleid. Ein feiner Junge!«

»Die Zeugen sind auch so so«, meint Geier. »Die erliegen auch der Stimmung. Und der Vorsitzende mit seiner Väterlichkeit ist ein Aas. Man weiß, was man weiß.«

»Was weiß man?« fragt Gareis gereizt.

»Zum Beispiel, daß der Herr Vorsitzende nicht wie die andern Herren jeden Morgen aus Stolpe mit der Bahn rüber kommt, sondern daß er hier bei seinem Schwager, dem Fabrikbesitzer Thilse, wohnt. Richter und Fabrikbesitzer, das wird grade gegen die Bauern sein! Das Korps hält zusammen! Aber ich stecke es dem Pinkus, der kann es in der Volkszeitung bringen.«

»Macht doch nur nicht so was!« ruft der Bürgermeister erschrocken aus. »Warum soll der Mann nicht bei seinem Schwager wohnen? Darum ist er doch noch nicht Partei.«

»Lax sind Sie, Bürgermeister«, sagt Nothmann. »Schlapp. Früher waren Sie anders. Natürlich muß das ins Blatt. Der Arbeiter, der als Zeuge auftritt, muß wissen, was das für ein Mann ist, der ihn befragt. Daß das ein Freund von den Ausbeutern ist.«

»Wenn der Pinkus das bringt«, erklärt Gareis entschieden, »haue ich ihm ein paar ins Genick, daß er die nächste halbe Stunde nicht wieder aufsteht.« Sanfter: »Ihr seid Riesenrösser, alles würdet ihr mit so was vermasseln. Aber ihr könnt nichts dafür.«

»Du«, sagt Geier gekränkt, »kommst dir immer mächtig schlau vor, Genosse Gareis, aber bisher haben wir noch nicht gesehen, daß du viel erreicht hast für die Partei. Ewig muß man den Genossen erklären, entschuldigen, sie vertrösten. – Führ einen Kurs gefälligst, den der Arbeiter versteht, nicht solche Geschichten, die nicht Fisch und Fleisch sind.«

»Wenn die Bauern verknackt sind, werdet ihr wieder finden, daß ich recht gehabt habe.«

»Wenn. Und wenn nicht?«

»Ja, bitte?«

»Dann, Genosse Gareis, wirst du dein Köfferchen packen müssen. Wir können uns hier keinen Gesinnungsluxus leisten.«

»Nee«, sagt Gareis. »Nee. Habe ich schon gemerkt.«

Ungemütliche Stille.

Quer über den Fahrdamm kommt Pinkus gestürmt. Er trabt fast, so eilig hat er es.

»Ich komme direkt aus dem Parteibüro, Bürgermeister«, keucht er. »Was ich jetzt habe, das raten Sie nie.«

»Also erzählen Sie schon.«

»Ein Einschreibebrief ist gekommen. Von Frerksen ...«

»Was will denn der? Wieso schreibt er?«

»Seinen Austritt aus der Partei hat er erklärt«, kreischt Pinkus.

Die vier Männer starren sich an.

»Deine Zeugen, Gareis ...« höhnt Geier.

Der Bürgermeister holt tief Atem: »Egal!« Und mit Nachdruck: »Das sage ich euch, meine Koffer packe ich noch lange nicht! Da kann ja jeder Esel kommen und denken, er ist es. Ich mache weiter.«

Er stürmt fort.

»Heute noch«, sagt Nothmann zu Geier und Pinkus.

5

Unterdessen steht Frerksen wieder vor dem Richtertisch.

Er spricht noch sachter, noch zögernder, noch leiser. Vielleicht unter dem beklemmenden Eindruck, daß vom Gericht seine Vorvereidigung abgelehnt ist, vielleicht, weil der Blick Hennings nachwirkt ...

Jedenfalls notiert sich Tredup, daß dieser Zeuge, dieser Kronzeuge, eigentlich nichts gesehen hat, nichts weiß, niemanden wiedererkennt. –

»Sie hatten also den Eindruck, daß man Ihre Zusammenkunft mit Herrn Benthin hintertrieb? Daß man Sie absichtlich in falsche Lokale schickte?«

»Ja, ich weiß doch nicht. Wenn ich das in der Voruntersuchung ausgesagt habe, kann ich mich auch geirrt haben. Es war nur so ein Gefühl.« –

Der Vorsitzende fragt: »Was veranlaßte Sie nun zu der Flaggenbeschlagnahme?«

»Es wurden Rufe des Unwillens laut. Sie schienen mir bedenklich. Provozierend.«

»Erinnern Sie sich, wer gerufen hat?«

»Nein, ich erinnere mich nicht.« –

»Hatten Sie nun bei dieser Flaggenbeschlagnahme den Eindruck, daß Herr Henning Ihnen tätlich Widerstand leistete?«

Der Zeuge, zögernd: »Tätlich? Nein. Eigentlich nicht.« –

»Sie haben früher ausgesagt, Herr Padberg habe Sie von der Fahne zurückgestoßen?«

»Nein, das kann ich nicht mehr sagen. Ob es Herr Padberg war oder ein anderer, das weiß ich nicht zu sagen.«

»Sie sind geschlagen worden?«

»Ja. Stark.«

»Und von wem?«

»Das weiß ich nicht. Namen weiß ich nicht.«

Ein kläglicher Anblick, ein Mensch, der sich windet, der niemanden belasten möchte, der es am liebsten allen recht machte.

»Na«, sagt Tredup etwas schadenfroh zu Pinkus, der eben wiederkommt, »Ihr Kronzeuge versagt ja völlig.«

»Unser Kronzeuge? Was geht uns Frerksen an?«

»Frerksen ist doch SPD.«

»Frerksen –? Mensch, Mann, wer hat Ihnen das aufgebunden? Frerksen ist doch nicht SPD!«

»Nein, nicht? Das ist ja das Neueste!«

»Glauben Sie, solche Leute wollen wir in der Partei haben?«

»Er ist also ausgeschlossen worden?«

»Ich habe Ihnen das nicht gesagt.«

»Nein, natürlich nicht. Aber es ist sehr interessant«

Doch unterdessen ist Padberg aufgestanden zwischen den Angeklagten: »Herr Oberinspektor, ich richte an Sie die Frage, haben Sie am sechsundzwanzigsten Juli Ihre Nerven in der Hand gehabt?«

Der Oberinspektor sieht den andern gespannt an. Das verbindliche Lächeln um seinen Mund verzieht sich: »Jawohl, die habe ich in der Hand gehabt. – Aber eine Gegenfrage, Herr Padberg: Sind Sie nicht Trinker?«

»Nein.«

»Waren Sie nicht in einer Trinkerheilanstalt?«

»Das ist eine infame Lüge.«

Der Vorsitzende spricht dazwischen: »Meine Herren, ich bitte Sie, was soll das? Wir wollen hier doch vernünftig verhandeln. Also, Herr Frerksen ...«

Aber die Stimmung wird schlechter und schlechter. Man sieht es deutlich am Pressetisch. Pinkus schreibt gar nichts, für den ist das alles nichts. Und Stuff schmiert wie wild.

Doch in der Pause nähert sich der Oberinspektor Herrn Tredup. Er geht da so allein unter den Leuten herum, niemand will etwas von ihm wissen.

Aus der Gruppe Stuff kann er ganz deutlich die Stimme seines alten Feindes hören: »Frerksen? Erledigt! Keine vier Wochen macht der Mann mehr Dienst.«

Nun tritt er zu Tredup, ein vorsichtig-ängstliches Lächeln auf dem Gesicht: »Nun, Herr Tredup, darf ich fragen, wie so die Stimmung des Volkes ist? Was denkt man über meine Aussage?«

Aber hier sieht selbst Tredup keinen Grund zur Schonung: »Zu lau. Zu lasch, Herr Oberinspektor. Nicht erkannt. Nicht erinnert. Weiß ich nicht. – Wenn man so was macht, steht man dazu.« Und er dreht sich um.

Manzow in seinem Kreis verkündet: »Der Frerksen war immer ein Schlappschwanz, aber für Gareis ist das gar nicht schlecht. Man sieht doch jetzt, wer die Böcke gemacht hat.«

»Du«, sagt Meisel giftig, »du willst dich jetzt wohl wieder anbiedern bei deinem Gareis? Ist nicht, mein Junge. Gareis ist erledigt.«

»Anbiedern?« protestiert Manzow. »Ich werde doch noch sagen dürfen, was ist. Die Fehler hat Frerksen gemacht.«

»Und Gareis bezahlt sie. Das ist immer so. Und kann uns nur recht sein.«

6

Im Rücken der Verteidigung steht ein Tischchen, an dem zwei Herren sitzen. Zum ersten der Stadtrat Röstel, der als Vertreter der Stadt den Verhandlungen folgt. Als man den Dentisten Czibulla vernahm, schrieb er eifrig mit, denn von Czibulla hängt eine Klage gegen die Stadt.

Doch der zweite Herr an diesem Tisch ist Assessor Meier. Kummervoll sitzt er da, es sieht aus, als hätte er sich ganz hinter seine Klemmergläser zurückgezogen. Bisher geht ja alles unberufen toitoitoi solala, man kann dem Chef nach Stolpe ganz günstige Berichte schreiben. Aber wenn nur der Gareis nicht wieder alles verbockt, dieser Gareis ...

Meier hätte gern mit Gareis vorher ein Wörtchen gesprochen, eigentlich hatte er den Eindruck, daß man daheim, in jenem großen, trüben, dunklen Zimmer gerne Frieden mit diesem Mann gemacht hätte ... Aber so was auf die eigene Kappe nehmen? Ein Wörtchen vor solchem Prozeß kann sehr falsch verstanden werden ... Zeugenbeeinflussung. Lieber wartet man ab. Gareis wird schon nicht so unklug sein ...

Es ist gegen elf Uhr, daß Gareis in den Saal eintritt. Er ist ganz ruhig, als er vor den Richter tritt. Seine Haltung ist gut.

»Eingebildeter Fatzke«, knurrt Stuff. »Im Cut, ist ja lächerlich, dieses Getue!«

Bei der Vereidigung muß Gareis den Vorsitzenden leider unterbrechen.

»Bitte, nicht die religiöse Formel«, sagt er entschieden in die ersten Schwurworte hinein, und der Vorsitzende entschuldigt sich kurz.

Dann sagt Gareis aus.

Er sei nicht gegen die Demonstration gewesen. Erst ein in der Presse veröffentlichter Brief des Bauernführers Franz Reimers, der zu Kundgebungen vor dem Gefängnis aufforderte, habe ihn stutzig gemacht. Er habe dann mit dem Landwirt Benthin verabredet, daß er am Tage der Demonstration mit den Führern noch einmal zu ihm kommen solle. Benthin aber habe sein Versprechen nicht gehalten.

Er selbst sei gegen Mittag nach Haus gegangen, um alles für seine Urlaubsreise vorzubereiten.

 

Schritt für Schritt ist während der Worte des Zeugen langsam und unaufhaltbar der schwarze Talar des Verteidigers vorgerückt. Der Rechtsanwalt hält den gelblichen Schädel gesenkt, die Hände liegen in den Falten der Robe.

Wäre dieser dunkle Schatten nicht, der gegen den Zeugen anrückt, alles wäre in Ordnung. Denn die leidenschaftslosen Worte von Gareis verbreiten Ruhe und Klarheit. Jetzt hebt der Verteidiger seine rechte Hand gegen den Vorsitzenden.

»Ich bitte, mir schon jetzt einige Fragen an den Zeugen zu gestatten, die vielleicht ein ganz anderes Licht auf seine Aussagen werfen werden.«

Der Vorsitzende macht eine gewährende Handbewegung.

Der Verteidiger sieht zur Erde. Er hebt den Blick auch nicht, als er langsam fragt: »Herr Bürgermeister. Hat nicht am Vortag der Demonstration eine Besprechung mit Regierungsvertretern stattgefunden?«

»Jawohl.«

»Hat an dieser Besprechung nicht auch Herr Polizeioberinspektor Frerksen teilgenommen?«

»Herr Frerksen war zugegen.«

Der Verteidiger spricht ganz langsam: »Ist in dieser Besprechung nicht von Regierungsseite gesagt worden, die Bauernschaftsbewegung sei gefährlicher als die KPD und man müsse daher besonders scharf gegen sie vorgehen?«

Gareis hat die Front geändert: er spricht nicht mehr zum Richtertisch, er steht dem Verteidiger grade gegenüber und sieht ihn an. Justizrat Streiter hält den Kopf etwas schräg zur Seite, er sieht empor zu dem Riesen vor ihm. Gareis antwortet ebenso langsam, aber völlig ruhig: »Die Verhandlungen mit den Regierungsvertretern haben längere Zeit gedauert, eine Stunde, vielleicht zwei Stunden. Einzelner Wortlaut ist mir also nicht mehr erinnerlich. Ich glaube aber nicht, daß Worte in der eben genannten Fassung gefallen sind.

Inhaltlich ist zu sagen, daß zwischen meiner Auffassung und der Auffassung der Regierung Meinungsverschiedenheit bestand. Diese Meinungsverschiedenheit besteht heute noch. Die Regierung wünschte völliges Verbot der Demonstration. Ich sah dazu weder rechtlich eine Handhabe noch innenpolitisch einen Grund. Ich habe das Verbot abgelehnt.«

Assessor Meier an seinem Tischchen stöhnt: »Ich wußte es doch! Nun ist der Topf entzwei. O mein Chef! O mein Chef!«

Der Verteidiger fragt: »Konnte ein Dritter aus den Worten der Regierungsvertreter entnehmen, daß die Regierung ein exzeptionell scharfes Vorgehen gegen die Bauernschaft wünschte?«

Gareis zögert einen Augenblick. Sein Auge irrt ab zu jenem Sitz im Zuschauerraum, auf dem der Oberinspektor Platz genommen hat.

Doch es ist nur ein Augenblick. Dann antwortet er ebenso ruhig: »Dieser Eindruck ist tatsächlich entstanden. Ich muß nachtragen, daß ich etwa eine Viertelstunde bei den Verhandlungen nicht zugegen war. Ich sprach in dieser Zeit mit dem Landwirt Benthin. Was Oberinspektor Frerksen in dieser Zeit mit den Herren von der Regierung gesprochen hat, weiß ich natürlich nicht. Als ich wiederkam, stand er aber entschieden unter dem Eindruck, daß die Regierung ein besonders scharfes Vorgehen wünschte. Ich habe ihn nicht im Zweifel darüber gelassen, daß meine Wünsche andere waren.«

»Hat ihn preisgegeben, den Frerksen!« frohlockt Stuff ganz laut an seinem Tisch.

»Ich stelle fest«, sagt der Verteidiger, »daß der Oberinspektor Frerksen unter dem Eindruck stand, die Regierung wünsche ein besonders scharfes Vorgehen gegen die Bauern. Ob Herr Frerksen später nach dem Wunsch seines direkten Vorgesetzten handelte oder nach dem der Regierung –« der Anwalt zögert – »das können wir allein aus seinem Verhalten während der Demonstration folgern.«

Pause.

»Ihre Fragen sind erledigt, Herr Justizrat?« fragt der Vorsitzende.

»Nein«, sagt der Verteidiger. »Nein, noch nicht.«

Wieder Pause.

Er ist kein schlechter Regisseur, dieser Verteidiger. Er weiß Pausen zu machen, Erwartungen zu steigern. Der ganze Saal wartet.

»Herr Bürgermeister«, fängt der Verteidiger wieder an, »ist Ihnen außer jener Besprechung noch eine Willensäußerung der Regierung zugegangen?«

Gareis schließt einen Augenblick die Augen. Dann zögernd: »Ich erinnere mich nicht. Es waren so viele Verhandlungen ...«

Der Verteidiger läßt sich Zeit. Er hat die Hände auf den Rücken gelegt und versucht, seine Schuhspitzen unter der Robe zu sehen.

»Nein, keine Verhandlungen«, sagt er. »Ich will Ihrem Gedächtnis nachhelfen. Ist Ihnen nicht ein Brief von der Regierung zugestellt, ein Geheimbefehl, den ein Schupo-Offizier überbrachte?«

Gareis sieht ganz geradeaus.

»Ja«, sagt er langsam. Und noch einmal: »Ja.«

»Und was enthielt dieser Geheimbefehl?«

Gareis sieht noch immer geradeaus. Er antwortet nicht.

»Ich will noch präziser fragen«, sagt der Verteidiger. »Enthielt dieser Geheimbefehl nicht die Weisung, mit aller erdenklichen Schärfe gegen die Bauern vorzugehen?«

Lange Stille.

Sehr lange Stille.

»Ja, Herr Bürgermeister, Sie werden schließlich doch antworten müssen.«

Gareis hat sich wieder. Er wendet sich zum Richtertisch: »Ist diese Frage zugelassen?«

Um die Augen des Vorsitzenden spielen tausend Fältchen. Wie bedauernd bewegt er die Hände: »An sich ja.« Und nach einer Pause: »Aber Sie müssen natürlich wissen, wie weit die Aussageerlaubnis der Regierung reicht.«

Gareis besinnt sich: »Ich bin der Ansicht, die Erlaubnis reicht nicht so weit. Es handelt sich um einen Geheimbefehl.«

Der Verteidiger widerspricht: »Ich bin der gegenteiligen Ansicht.«

Und der Vorsitzende: »Das wird sich rasch entscheiden lassen. Wir haben einen Vertreter der Regierung hier im Saal.« Zu dem Tischchen gewendet: »Herr Assessor ...«

Und der Assessor eifrig: »Ich frage sofort bei der Regierung an.«

Er ist schon auf dem Wege aus dem Saal.

»Wir machen jetzt eine halbe Stunde Pause«, verkündet der Vorsitzende.

7

Tredup stürzt nach der Setzerei. Es ist beinahe zwölf Uhr, aber diese dicke Sache muß in die Chronik, heute noch. Das darf ihm nicht aus der Nase gehen.

Den Text selbst hat er schon während der Verhandlung mitgeschrieben, nun entwirft er Überschriften. Sie stellen sich von selbst ein.

Als erste, quer über die ganze Seite:

»Sensationelle Wendung im Bauernprozeß.«

Als zweite:

»Bürgermeister Gareis verweigert die Aussage.«

Durch die Expedition stürmend, ruft Tredup dem Wenk zu: »Komm schnell in die Setzerei. Eine große Sache. Zweihundert Exemplare im Straßenverkauf. Es muß aber noch gesetzt werden.«

Er berichtet mit fliegenden Worten.

Der Metteur murrt, aber er gibt das Manuskript doch in eine Maschine.

Unterdes Wenk, sehr erstaunt: »Daß du so begeistert bist, Tredup! Ich denke, du kannst gut mit Gareis?«

Tredup stutzt einen Augenblick, dann: »Was hat das denn damit zu tun? Es ist doch so, wie ich schreibe. Und es kann ihn doch nicht ärgern, wenn ich schreibe, was ist?«

»Wenn du dich man nicht täuschst. Aber jedenfalls, für uns ist es gut. Die Nummer kauft jeder, der die Überschriften liest.«

»Ich muß gleich wieder zum Gericht. Tu mir den Gefallen, Wenk, und sieh rasch die Korrekturen durch, daß kein Mist stehenbleibt«

»Meinethalben. Wenn das Ganze nur kein Mist ist«

»I wo. Heute schlagen wir die Nachrichten. Heute mache ich mir eine Nummer bei Gebhardt.«

 

Als Assessor Meier den Saal verließ, hatte er vor, bei seinem Chef, dem Herrn Regierungspräsidenten Temborius, anzurufen. Aber von wo führt man ein solches Telefongespräch? Das ist doch ein Staatsgespräch, ein überaus wichtiges Gespräch. Er kennt ja seinen Herrn und Meister, bis ins Kleinste wird er berichten müssen, wie Gareis die Differenzen mit der Regierung aufgedeckt, sich bei den Bauern lieb Kind gemacht hat.

Kann man solch ein Gespräch am Telefon führen? Überall gibt es Mithörer. Nein, Assessor Meier entschließt sich, nach Stolpe zu fahren. Das geht aber nur, wenn er vorher mit dem Vorsitzenden gesprochen hat, sich seines Einverständnisses versichert, sich vergewissert hat, daß er heute nachmittag seinen Posten verlassen kann, daß keine wichtigen Zeugen vorkommen. Nun, mit dem Vorsitzenden geht alles glatt, der sieht keine Bedenken.

»Vernehmen wir den Bürgermeister eben morgen oder übermorgen. Falls Ihre Antwort positiv ausfällt. Nein, heute nachmittag nehme ich nur kleine Zeugen vor, unwichtiges Zeug. Sie können in Ruhe reisen, Herr Assessor.«

Aber Assessor Meier reist nicht in Ruhe. In seinem Abteil zweiter Klasse sitzt er und grübelt, wie er seinem Chef erklären soll, daß der Gareis in allem die Regierung bloßgestellt hat und bei diesem Geheimbefehl ist er abgeschnappt.

»Er war ja richtig verlegen. Nun, vielleicht ist der Befehl wirklich starker Tabak gewesen. Temborius hat ihn damals mit Oberst Senkpiel gebraut. Aber um so besser müßte das doch Gareis passen. Nein, ich verstehe es nicht. –«

 

»Ich gebe noch lange nichts verloren«, erklärt Gareis entschieden zu Assessor Stein. Sie gehen eilig dem Rathaus zu. »Wozu denn Geheim-Befehl? Temborius wird schon wissen, wieso geheim. Der gibt mir nie die Erlaubnis zur Aussage.«

»Ich weiß doch nicht ...« meint Assessor Stein.

»Im ersten Augenblick dachte ich wirklich: da bist du drin. Der Vorsitzende ist ein anständiger Kerl. Das mit der Aussageerlaubnis war die einzige Rettung.«

»Rettung?« zweifelt Stein. »Haben Sie eigentlich nicht das Gefühl, Herr Bürgermeister, daß diese ganze Sache mit dem Geheimbefehl reichlich mystisch ist?«

»Bestellte Sache, meinen Sie? Glaube ich auch. Verschwindet, keiner weiß davon, aber im rechten Augenblick weiß der Streiter doch davon. Glänzend übrigens, der Streiter, die Staatsanwaltschaft muß sehr einpacken.«

»Ich fand ihn nicht sehr glänzend. Mit solchen Pistolen kann jeder schießen.«

»Aber jeder hat nicht solche Pistolen. Nun kommt es nur darauf an, ob nicht das Englein, nämlich Temborius, auf die Zündpfann brunst.«

»Versteh ich nicht.«

»Das wissen Sie nicht, Steinlein? In irgendeiner Kirche hängt so eine schöne Darstellung von Isaaks Opfer. Mittelalter. Isaak ist auf den Holzstoß gebunden. Abraham steht mit einer Riesenreiterpistole vor ihm und will losdrücken. Aber oben auf einer Wolke steht das Englein und piet auf die Zündpfanne. Und ein Spruchband geht darum: ›O Abraham, o Abraham, dein Schießen ist umsunst, dieweil das Englein auf die Zündpfann brunst.‹«

Und der Bürgermeister summt vor sich hin: »O Streiterlein, o Streiterlein, dein Schießen ist umsunst, dieweil Temborius auf die Zündpfann brunst.«

»Ihre Laune möchte ich haben!« sagt neiderfüllt der Assessor.

Sekretär Piekbusch tritt ihnen entgegen: »Herr Bürgermeister, es ist eben vom Gericht angerufen: Sie brauchen heute nicht mehr zur Vernehmung zu kommen. Die Sache mit Stolpe dauert noch. Sie bekommen wieder Bescheid.«

»Was sage ich?« triumphiert der Bürgermeister, »Temborius brunst. Und es ist ganz gut, daß er erst einen oder zwei Tage Gras über die Geschichte wachsen läßt. Dann ist die heutige Szene so gut wie vergessen.«

Er starrt vor sich hin: »Aber wir wollen die Zeit nützen! Piekbusch, jetzt wird gesucht! Jetzt suchen wir drei Mann hoch.«

»Was suchen wir?«

»Den Geheimbefehl ...«

Piekbusch schaut zur Decke: »Wo sollen wir denn noch suchen, Herr Bürgermeister?«

»Überall. Überall. Überall. Und morgen liegt er auf meinem Schreibtisch.«

 

Wenk freut sich: die großen Überschriften haben ihre Wirkung getan. Zweihundertzehn Exemplare von der Chronik sind verkauft.

Das war noch nie da. Der Mann aus der Bahnhofsbuchhandlung hat viermal rübergeschickt, immer neue holen lassen.

»Max, eigentlich solltest du morgen früh vor der Verhandlung schnell noch auf ein paar Annoncen losgehen, jetzt kriegst du welche.«

Aber da kommt er bei Tredup schlecht an: »Du bist wohl nicht ganz, heh? Ich soll auf Annoncen losgehn? Jetzt, wo ich Redakteur bin?«

»Wer soll es denn? Ins Haus bringen sie uns die doch nicht.«

»Ist Stuff auf Annoncen losgegangen? Also! Da muß eben jemand neues engagiert werden.«

»Das sag du man dem Chef! Überhaupt hat Gebhardt mir gar nicht gesagt, daß du Redakteur bist.«

»Weil das selbstverständlich ist. Das kapiert jedes Kind, daß ein Redakteur nicht Anzeigen wirbt. Was sollen denn die Leute davon denken?«

»Die wissen doch, daß du immer geworben hast.«

»Und jetzt wissen sie, daß ich die Verhandlungsberichte schreibe. Außerdem habe ich keine Zeit.«

»Jetzt ist es sechs. Bis sieben könntest du gut und gerne noch drei, vier Anzeigen geholt haben.«

»Jetzt ist es sechs und jetzt mache ich Feierabend. Tjüs ok, Wenk. Platz man nur nicht vor Neid. Gebhardt hat mir auch hundertfünfzig zugelegt!«

Damit ist Tredup zur Tür hinaus und freut sich den ganzen Heimweg, daß er es dem Wenk gegeben hat. Wenn das mit den hundertfünfzig auch noch nicht wahr ist, bis zum Ersten ist es sicher wahr.

Er erzählt es auch Elise und den Kindern. Alle sitzen um den Tisch, er erzählt den ganzen Prozeß. Er malt auf, wo sie alle sitzen, die Richter und Schöffen, Staatsanwälte und Verteidigung. »Hier hat Gareis gestanden und dann hat er sich immer mehr gedreht, bis er dem Rechtsanwalt direkt ins Auge sah. Das ist ein Kerl, sage ich euch! Ganz ruhig, aber ein Fuchs: ›Was hat denn nun wohl im Geheimbefehl dringestanden, Herr Bürgermeister?‹ – Und Gareis hat richtig gestottert: ›Darauf verweigere ich die Aussage.‹ Ganz verlegen war er.«

»Papa«, ruft Hans. »Papa, in der Volkszeitung hat aber gestanden, daß der Bürgermeister nur von der Regierung die Genehmigung haben will zur Aussage.«

»Das ist doch dasselbe, Hans. Das habe ich doch auch geschrieben.«

Aber ein ungemütliches Gefühl überkommt Tredup. Doch gleich: »Und hier habe ich eine Karte für dich, Elise. Für morgen. Ich habe sie dem Gerichtsdiener abgeschnorrt.«

»Aber vormittags kann ich doch nicht, Max.«

»Gehst du eben nachmittags. Es ist nur schade, weil morgen vormittag wahrscheinlich Bürgermeister Gareis drankommt. Das wird sensationell.«

 

Aber Gareis weiß schon, daß er morgen noch nicht vernommen wird.

Man bäte aber, daß Herr Bürgermeister sich zur Verfügung des Gerichtes halte.

Und der Bürgermeister teilt mit, daß er stets auf dem Rathaus erreichbar sei, übrigens auch morgen gerne den Herrn Landgerichtsdirektor einmal gesprochen hätte.

Die Herren vereinbaren die Mittagsstunde.

Nun hätte Gareis neue Zeit zum Suchen, aber er sucht nicht mehr, er läßt auch Stein und Piekbusch nicht mehr suchen.

»Das mit dem Geheimbefehl ist Quatsch«, erklärt er, mißvergnügt in seinem Sessel hockend. »Man sieht doch jetzt schon, daß Temborius unter keinen Umständen will.«

»Wenn aber der Minister Ja sagt?«

»Wo sich Temborius so hat, wird der Minister schon nicht Ja sagen.«

»Ich weiß nicht ...«

»Ach, meckern Sie noch, Stein. Ich hab dies ewige Meckern satt. Ganz Altholm kann nichts wie meckern, als wenn sonst nichts zu tun wäre! Aber diesem Schwein, dem Tredup, schlage ich doch einen über die Schnauze für seinen unverschämten Bericht.«

Zum zehntenmal glotzt der Bürgermeister auf das Zeitungsblatt, in dem er schon mit Rot- und Blaustift gewütet hat.

»Warte, mein Junge«, sagt er. »Warte nur. Ich war wohl wahrhaftig der einzige Mensch in Altholm, den du noch nicht verraten hast. Aber warte, morgen sollst du erleben, was das heißt, Gareis verraten.«

»Tredup ist das größte Schwein von der Welt«, erklärt Stein sachlich. »Sie hätten sich nie mit ihm einlassen sollen.«

»Wenn ich«, erklärt der Bürgermeister, »nur mit Edelmenschen Umgang pflegen will, kann ich keine Politik treiben. Aber darum laß ich mich noch lange nicht von jedem Schwein annagen.«


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