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Viertes Kapitel
Ein Gewitter zieht sich zusammen

1

Ein Mann tippelt auf dem Sandweg von Dülmen nach Bandekow-Ausbau. Eigentlich ist an Kleidung und Schuhwerk alles beisammen, daß dieser Mann ein Herr sein könnte. Aber irgendwo fehlt es doch: kein Dienstmädchen, das ihn anzumelden hätte, hielte ihn für einen Herrn.

Es ist heiß und der Mann läßt sich Zeit. Er schlendert so dahin, bleibt dann und wann stehen und betrachtet tiefsinnig die Spuren im Sande.

»Reinwärts ist ein Motorrad gefahren«, denkt er. »Das ist klar. Und wieder rückwärts nicht. Nach der Karte gibt's überhaupt nur diesen einen Weg zum Hof. Eine nette gottverlassene Gegend. Fünfzehn Kilometer zur nächsten Bahnstation.«

Der Mann bleibt stehen und betrachtet schnaufend die Gegend. Sie ist nichts Besonderes, eine povere Dreckgegend aus Sand, Kiefernkuscheln, Heidelbeerkraut und genügend Wacholder.

»Eigentlich hab ich mir immer gedacht, daß so Grafen wohnen müßten. Ich glaube, das ist auch so ein Graf von Habenichts, der vor Hunger nicht in Schlaf kommt. – Neugierig bin ich, was ich ausrichte.«

Ist man 52 und immer noch Kriminalassistent, trotz Tüchtigkeit, so knüpfen sich an solche Erwägungen leicht Hoffnungen. Kriminalassistent Perduzke (Altholm) hat seit der Revolution viele Kollegen Kriminalsekretär, Kriminalobersekretär, sogar Kriminalkommissar werden sehen. Er blieb, was er war, trotz Tüchtigkeit.

»Und wenn ich diesen Bombenschwindel aufdecke, so müssen sie mich befördern und wenn ich zehnmal das Parteibuch nicht habe.«

Er glotzt: »Quatsch! Wenn die täten, was die müßten, hätte ich schon nach dem Kapp-Putsch Kommissar sein sollen. Die scheißen einem was, die Gareis und Frerksen, die rote Kumpelbande.«

Perduzke ist der geborene Jagdhund. Jagen ist seine Leidenschaft. Die Aussicht auf Ausbleiben der ihm gebührenden Wurst kann ihm nicht die Luft für die Spur nehmen. Er ist schon bei dem Zettel, der heute in seinem Briefkasten steckte, mit nur zwei Worten: »Bomben – Bandekow.«

Er hat seinen Vorgesetzten nichts von dieser Spur gesagt. Kriegt er was raus, so macht er direkt Bericht an die Regierung oder den Minister, sonst unterschlagen die seine Berichte und rühmen sich mit seinen Verdiensten. Er geht hier offiziell-inoffiziell auf den Spuren eines Viehdiebstahls. »Beste Einführung bei dem Bandekow, diesem Habenichts!«

Es ist Juli, stille Zeit für den Landmann. Auf den Feldern, die jetzt die Heide ablösen, ist kein Mensch zu sehen. Die Wiesen sind verödet. Mit dem Roggenschnitt hat es noch vierzehn Tage Zeit und die Heuernte ist vorbei.

»Blöd, daß man niemand sieht. Von den Mädels hört man immer das meiste.«

Nun kommt ein Auto hinter ihm des Wegs, ein offener Opel-Viersitzer. Perduzke tritt gegen den Straßenrand, aber es staubt nicht sehr. Der Wagen schleicht, kriecht, der Sand ist zu locker. So kann der Kriminalist gemütsruhig die vier Herren anschauen.

Hinten sitzen zwei, das sind Bauern, soviel ist heraus, und die kennt er nicht. Bauern aus dieser Gegend kennt er nicht. Aber vorn ...

Und nun wird ihm warm. Es war Dusel, es war Glück, daß er gleich losgelaufen ist auf diesen Zettel hin! Wer hätte auf Bandekow geraten! Aber daß es in Bandekow stinkt, soviel ist jetzt sicher.

Den am Steuer kannte er schon gut, das war der Padberg, der Hauptschriftleiter von der Zeitung »Bauernschaft«, die so herrlich schimpfen konnte und es den Roten faustdick gab. (Nur las sie kein Mensch.)

Und der andere daneben, der Junge, das war der Thiel, und wenn er zehnmal das Gesicht wegwandte. Das war der Thiel, nach dem seit fünf Wochen netto die ganze Provinz still umgedreht wurde. Der Ochsenführer vom Finanzamt Altholm, verschwunden und wieder aufgetaucht im Auto bei Bauernschaft und Bauern.

»Stolper Wagen«, notiert sich Perduzke. »Die Erkennungsmarke kennen wir. Wird dem Padberg seiner sein. Also die haben sich den Jungen gekauft! Komisch das, hätte ich nie drauf geraten. Erst ihn verhöhnen, anbraten, in einen Graben schmeißen und nun im Auto mit ihnen auf Kopp und Arsch. – So was gab's nicht vor dem Kriege.«

Er tippelt und überlegt, wie er das Ding drehen soll.

»Vielleicht haben die mich erkannt. So einer wie der Zeitungshengst, der Padberg, die wissen immer, wie ein Krimscher ausschaut. In der halben Stunde, bis ich auf dem Hof bin, ist der Junge natürlich längst fort. Aber die Spur weiß ich nun.«

Mühsam mahlt er sich durch den Sand weiter zum Hoftor, an dem das Schild hängt: »Hier wohnt Graf Bandekow. Kauft nichts. Verkauft nichts. Und empfängt auch keine Besuche.«

Perduzke nickt anerkennend: »Hübsch ist das! Und wenn man dazu die Hunde rasen hört, die lieben Viecher ...«

Die drängen sich mit offenen Mäulern, hängenden Lefzen hinter dem Gitter, entschieden entschlossen, den Besucher zu zerreißen.

»Hier geht es nicht durch«, erkennt Perduzke. »Da hat das Auto für gesorgt. Also vielleicht auf der andern Seite.«

Er klettert über den Graben.

2

Der Hof Bandekow-Ausbau ist nur ein kleiner Ableger vom Rittergute Bandekow. Und sein Besitzer, Graf Ernst Bandekow, ist seinem älteren Bruder, Bodo Graf Bandekow auf Rittergut Bandekow, aus mancherlei Gründen, unter denen die materiellen nicht unwichtig sind, nicht sonderlich grün. Er lebt, ein alter Junggeselle, als Einsiedler auf dem Hof, hat sich ganz zu den Bauern geschlagen und fühlt sich als Bauer.

Es ist auch kaum mehr als ein Bauernhaus, in dem die Herren jetzt sitzen: die vier aus dem Auto, der Graf mit dem graumelierten Teppichbart und der schlanke Henning.

Die Herren sind eben gekommen. Das Auto steht auf dem Hof, neben der Dunggrube, und die Hunde sind aus dem Zwinger gelassen worden. Dann hat Graf Bandekow zwei Mädchen und die Haushälterin in den Garten geschickt und hat für Schnaps und einen Mosel gesorgt.

»Nun kann niemand lauschen«, erklärt er. »Also legen Sie los, Padberg.«

»Dann das letzte zuerst: Henning, du wirst abhauen müssen. Kripo ist im Anmarsch.«

»Ach, was! Wie soll Kripo hierherkommen?«

»Drei Kilometer vorm Hof strolchte so ein Hund uns vors Auto. Am liebsten hätte ich ihn überfahren.«

»Das wird ein Viehhändler gewesen sein. Die sehen meistens so aus wie die Krimschen.«

Thiel läßt sich vernehmen:

»Und es war doch Kripo! Es war der Perduzke aus Altholm!«

»Gott!« spottet Henning. »Gießt doch dem Jungen einen Kognak ein. Er hat eine ganz weiße Nase.«

»Sie können tun, was Sie wollen«, beharrt Thiel. »Ich ziehe Leine.«

»Warum eigentlich? Glauben Sie, daß hier ein Mensch lebend durch die Hundemeute kommt?«

»Und wenn er die Hunde abknallt?«

»Dann knalle ich ihn ab«, erklärt der Graf. »Aber all das ist Mumpitz. Wieso kommt der auf Bandekow, Padberg?«

»Sehen Sie! Wieso kommt der auf Bandekow? Das ist die Frage. Und das ist der zweite Punkt. – Heute morgen komme ich auf die Redaktion, steht mein Schreibtisch offen. Abgeschlossen hatte ich ihn. Ich sehe alles nach, nichts fehlt. Nur die Karte, die Sie mir geschrieben, Herr Graf, daß wir heute morgen zu Ihnen kommen sollten: die fehlt.«

Bauer Rehder-Karolinenhorst:

»Sie werden nicht abgeschlossen haben. Und die Karte liegt irgendwo anders.«

»Wenn ich mir in meinem Leben etwas habe angewöhnen müssen, so war es auf Papiere aufpassen.«

»Also hat die Kripo nachts revidiert. Die sind ja aus der Tüte wegen der Bombe.«

»I wo, die machen so was offiziell und verderben die Schlösser und schmeißen alles durcheinander.«

Henning erklärt gelangweilt: »Also schieß schon los. Du hast doch längst deine Vermutung, Padberg. – Übrigens Prost!«

»Ja. Wir können alle ruhig mal anstoßen. Prost!«

Padberg holt einen Brief aus der Tasche und läßt ihn zirkulieren. »Bitte, sehen Sie sich diesen Brief an. Der Text tut nichts zur Sache. Irgend so ein verhungerter Journalist. Aber sehen Sie sich den Brief gut an. Was meinen Sie?«

Alle betrachten den Brief, zögernd, unentschlossen, verlegen.

»Na, nun sagen Sie doch!« drängt Padberg.

»Mach dich nicht wichtig, Padberg«, sagt Henning. »Wir haben anderes zu tun als den Meisterdetektiv zu spielen.«

»Na, keiner?« fragt Padberg.

»Halt! Einen Augenblick!« fängt Thiel an. »Ich will nur fragen. Vielleicht ist es blöd. Ist der Brief in der Setzerei gewesen?«

»Na also!« sagt Padberg anerkennend. »Wenigstens einer. – Nein, der Brief ist nicht in der Setzerei gewesen, mein Sohn.«

»Aber ein Setzer hat ihn in den Pfoten gehabt?«

»Offiziell nicht.«

»Dann hat der Brief obenauf in Ihrer Schublade gelegen?«

»Richtig, mein Sohn, bei der verschwundenen Karte.«

»Dann hat«, sagt Thiel atemholend, »auch ein Setzer die Karte geklaut. Da sind Fingerabdrücke drauf auf dem Brief von Druckerschwärze.«

»Wenn es weiter nichts ist«, sagt Henning. »Das hätte ich dir längst sagen können, daß alle Setzer rot sind. Die sind alle in so einer Gewerkschaft.«

»O du Goldjunge!« spottet Padberg. »Was du nicht alles weißt. Im Buchdruckerverband sind sie. Aber deswegen klauen sie noch lange keine Postkarte, noch dazu eine so bedeutungslose, auf der mir irgendein Herr schreibt, er möchte mich mal sprechen.«

Der Graf kämmt seinen Fußsack mit den Nägeln. »Also, ich denke, wir haben auch noch anderes zu reden. Machen Sie's kurz, Herr Padberg.«

»Also kurz und schlecht: wir haben in der Setzerei einen Kerl, der auf Anweisung mit tadellosen Nachschlüsseln bestimmte Schriftstücke stiehlt. Der Kerl ist ein bißchen doof, sonst hätte er erstens an die Fingerspuren gedacht und zweitens nicht vergessen, das Fach abzuschließen.

Der die Anweisung erteilt hat, muß genau Bescheid wissen. Sonst wäre nicht heute schon der Perduzke im Anmarsch.«

Langsam sagt der Bauer Rehder in die beklommene Stille: »Ich weiß, der Franz Reimers wäre dagegen gewesen. Ich bin dagegen gewesen. Der Rohwer ist dagegen gewesen. Wir drei bestellten Führer von der Bewegung sind dagegen gewesen. Und du hast es doch getan, Henning!«

»Gut, daß ich es getan habe! Was glaubst du, denen geht der Arsch mit Grundeis!« sagt rasch und trotzig Henning.

»Wir haben eine gute Sache«, sagt langsam der Bauer Rohwer aus Nippmerow. »Du hast Krach um sie gemacht und Gestank. Was meinst du, wie das Land voll ist von Gerede, seit die Küche in die Luft flog?«

»Und du hast gelogen«, sagt Rehder wieder. »Es war nur Glück, daß nichts wie die Küche in die Luft ging. Du hattest es anders gewollt.«

Henning sieht böse auf Thiel: »Es gibt eben Weiber, die den Sabbel nicht halten können.«

Thiel wird rot und wendet das Gesicht ab.

»Ich bin anderer Ansicht«, sagt Padberg geläufig. »Ich bin Zeitungsmensch. Zeitung ist Reklame, von der ersten bis zur letzten Zeile. Reklame für eine bestimmte Sorte Politik oder Waschseife. Aber immer Reklame. Ich verstehe etwas von Reklame. Ihre Bewegung war gut, aber sie war im Luftleeren. Es geschah nichts, sie hatte keine Wirkung. Der Regierung war sie piepe. Dem Finanzamt war sie piepe. Der Schupo war sie piepe. Dem Bürger in der Stadt war sie schnurz.

Henning hat Reklame gemacht. Es hat geknallt. Ich gebe zu, es war große Reklame, hundertprozentige, es hat sehr laut geknallt. Aber plötzlich ist Leben um die Bewegung, alle horchen: was tun die Bauern? Ihre Bewegung wird beachtet. Ihre Bewegung wird gefürchtet. Ihre Bewegung kann etwas durchsetzen.«

»Wir Bauern wollen das nicht«, sagt Rohwer. »Wir mögen so etwas nicht.«

Der Graf sagt: »Und Sie haben nichts damit zu tun. Keiner von Ihnen war beteiligt, keiner hat etwas gewußt. Es sind Fremde«, sagt er mit erhobener Stimme, »wenn es zum Schlimmsten kommt, sind es Fremde gewesen, Abenteurer, Dunkelmänner.«

»Es ist«, sagt Padberg beifällig und grinsend, »das unvermeidliche Geschmeiß, von dem nicht energisch genug abgerückt werden kann.«

»Wir danken«, sagt Henning und grinst ebenfalls. »Das Geschmeiß schmeißt weiter. Bomben.«

»Aber was machen wir mit der Kripo?«

»Ich«, erklärt Henning, »habe im Augenblick keine Zeit, mich verhaften zu lassen. Ich muß zur Demonstration.«

»Was du nicht denkst«, höhnt Padberg. »Offen im Demonstrationszug auf Altholms Straßen. Daß wir eine hübsche Verhaftung am Tageslicht haben? Nein, mein Jungchen, du bleibst hier.«

»Und ich gehe mit. Und ihr braucht mich.«

»Wieso brauchen? Keiner ist unersetzlich.«

»Kommt. Ich werde euch was zeigen.«

»Was denn?«

»Ihr werdet schon sehen. Kommt nur.«

3

Henning führt die fünf Mann über den Hof in die Scheune. Auf der halbdunklen Tenne, in die von außen ein breiter Streifen Sonnenlichts schießt, zeigt er das Machwerk seiner Tage freiwilliger Haft: eine Fahne.

Es ist ein weißer ungehobelter Schaft, ein Stiel, wie für eine Heugabel, sehr lang, der in eine aufrecht stehende Sense ausläuft. Das Fahnentuch –

Henning erklärt eifrig: »Ich habe mir alles überlegt. Das Fahnentuch ist schwarz. Das ist das Zeichen unserer Trauer über diese Judenrepublik. Drin ist ein weißer Pflug: Symbol unserer friedlichen Arbeit. Aber, daß wir auch wehrhaft sein können: ein rotes Schwert. Alles zusammen die alten Farben: schwarzweißrot.«

»Was für ein Junge du bist«, sagt Padberg spöttisch.

»Wieso Junge?« fragt Henning eifrig. »Ist das nicht gut? Sagen Sie? Rehder? Was meinen Sie, Rohwer? Machen Sie doch den Mund auf, Thiel! Wie denken Sie, Herr Graf? Es ist eigentlich, natürlich mit Abänderungen, die Fahne von Florian Geyer. Ihr wißt«, sagt er erläuternd zu den Bauern, die es nicht wissen, »Florian Geyer war der Führer in den Bauernaufständen. Im Mittelalter.«

»Gegen den Großgrundbesitz, freilich«, spottet Padberg. »Aber das alles ist Unsinn. Womit vertrödeln wir unsere Zeit?«

»Erlauben Sie mal«, sagt Rohwer. »Die Fahne ist gut. Schwenke sie mal, Henning.«

»Nein, nicht auf dem Hof«, sagt der Graf hastig. »Hört!«

Das rasende Gebell der Hunde ertönt.

»Das ist der Perduzke, laßt sehen.« Thiel schielt durch einen Türspalt auf der andern Seite der Tenne.

Unterdes schwenkt Henning die Fahne. Flatternd, knatternd entfaltet sie sich. Stolz steht er da. Schwenkt sie, läßt sie kreisen.

»Du mußt«, sagt begeistert Rehder, »unser Fahnenträger sein am Montag.«

Thiel berichtet: »Der Perduzke streicht über den Graben.«

»Wo ich doch verhaftet werden soll«, sagt Henning.

»Der kann lange suchen, bis er einen Eingang auf den Hof findet«, bemerkt spöttisch Graf Bandekow.

»Diese Fahne im Zug«, erklärt energisch Padberg. »Und ihr seid in fünf Minuten aufgelöst.«

Rehder: »Wir stellen Jungbauern in die Spitzengruppe. Wehe dem, der die Fahne antastet.«

Rohwer: »Aber die Sense muß stumpf gemacht werden. Sonst richtet sie Unheil an.«

Henning: »Meinethalben. Ich nehme die Schneide mit einer Blechschere weg.«

Und Padberg erstaunt: »Ihr Bauern scheint ja für dieses Requisit zu sein?«

Der Graf: »Ich finde es sehr gut. Das macht kolossale Wirkung.«

Und Thiel: »Ich glaube, es wird fabelhaft wirken.«

Und wieder Padberg: »Wer trägt sie? Da doch der Henning verhaftet wird.«

Rehder energisch: »Henning ist unser Fahnenträger.«

Padberg, sehr ungeduldig: »Aber seid nicht blöd. Den Henning verhaften sie doch in der ersten Minute. Sie wissen doch, er hat die Bilder kaufen wollen von dem Tredup. Und war vorm Präsidium, als der Tredup mit dem Frerksen reinging. Und wird schon der gewesen sein, der angerufen hat und von der Bombe gequatscht. Und wer von der falschen Bombe weiß, wird auch die echte gelegt haben. – Also?«

»Ich wüßte schon einen Ausweg«, sagt der Henning langsam. »Daß ich dabei sein kann und nicht verhaftet werde.«

»Na bitte? Aber sag's rasch, sonst bist du schon verhaftet, eh du's gesagt hast.«

»Auf den Hof kommt keiner. Hier ist er sicher«, beharrt der Graf.

»Wenn einer ...« beginnt Henning und besinnt sich. Dann langsam, direkt zu Thiel: »Sagen wir mal, du packtest so um acht dein Köfferchen und tippeltest los im Halbdunkel. Und kämst in die Nähe von diesem Perdauzke-Perduzke-Perdummske. Und rissest aus wie Schafleder. Und ließest dich verhaften. Und sagen wir, morgen geständest du. Und sagtest, dein Komplice, das wäre, nun, der Bilderidiot von der Chronik und bliebest dabei bis zum Montag ...«

Alle sehen auf Thiel, der zögernd sagt: »Na, ich weiß nicht ... Ich schlittere hier so rein ... Wissen Sie, ich kenne mich nicht so recht aus ... Bin ich der Affe eigentlich, der die Kastanien aus dem Feuer holt?«

»Ich will Ihnen was sagen«, fängt Henning wieder an. »Ich habe einen Freund, den Strafanstaltshilfswachtmeister Gruen in Altholm. Der ist halb verdreht, dem kann nie was passieren. Und wenn der nun mal so eine Leiter an der Gefängnismauer stehenläßt? Und dann sind da die Fischer in Stolpermünde. Und nach der Insel Möen segelt man bei gutem Wind höchstens sechs, sieben Stunden. Und Möen ist Dänemark. Und die Bombe politisch.«

Plötzlich ganz rasch: »Sagen Sie: Ja!«

Thiel steht unschlüssig, verlegen: »Nein, ich möchte doch lieber nicht ... Sehen Sie, meine Eltern ... Und warum soll ich den Tredup in die Pfanne hauen? Das ist doch auch nur so ein armes Aas ...«

Padberg sagt: »Na, jedenfalls sind noch zwei Stunden bis zum Dunkelwerden. Bis dahin können wir uns das ja überlegen. Gehen wir jetzt wieder in die Stube und besprechen die Demonstration? Tausend Bauern kommen sicher.«

»Dreitausend.«

4

Morgens, gegen halb zehn, zehn Uhr, wenn Stuff die Politik und den Spiegel seiner Zeitung gemacht hat, geht er auf die Jagd nach lokalen Neuigkeiten.

Auf seinen immer schmerzenden Plattfüßen trabt er, ein kleines unförmiges Walroß, den Burstah entlang, sieht, durch seine Klemmergläser blinzelnd, jede Veränderung bis zum neuen Firmenschild, spricht Bekannte an, wird angesprochen, und bleibt stehen, Notizen machend.

Altholm hat 40 000 Einwohner, und drei, mindestens zweieinhalb Spalten »Lokales« muß er bringen, dazu zwingt ihn schon die Konkurrenz. Und eine Zeile in seinen Spalten ist lang, die Chronik bricht noch dreispaltig um.

Ist Stuff den Burstah hinunter, so kommt er auf den Marktplatz, einen langen, mit zwei Alleen gezierten Ort. Kriegerdenkmal 1870/71, Post, Bedürfnisanstalt und das Rathaus liegen daran.

Es ist zehn und schon verdammt heiß, als er an diesem Julivormittag das Rathaus betritt. Stuff trieft. Zum soundsovielten Male beschließt er, von jetzt an zweimal wöchentlich frische Socken anzuziehen. Die Füße brennen vor Schweiß. »Und waschen tu ich sie jetzt auch einmal.«

Stuff klopft kurz und tritt in die Rathauswache, durch die Tür »Eintritt verboten«. Es ist der Ruheraum der Stadtsoldaten. (Altholm hat keine Schupo, hat städtische Polizei.) Ein paar Beamte aalen sich auf ihren Pritschen und begrüßen Stuff mit dem Zuruf: »Na, Männe, gibst du einen aus?«

»Ihr mir! Was gibt's Neues?«

»Neues? Einen Berg. Aber erst ...«

»Maurer, ich habe euch neulich erst eine Lage bezahlt! Was glaubt ihr denn, wie der Wenk seinen Daumen auf die Kasse hält? Wenn ich im Monat zwanzig Mark Spesen habe, fällt er in Ohnmacht.«

»Wendest du dich an Schabbelt!«

»Schabbelt? Ich höre immer Schabbelt. Wer ist Schabbelt?«

»Witz! Was ist mit dem Chef?«

»Glaubst du, ich habe den gesehen seit Mai?«

»Sollte auf seine Frau mehr aufpassen. Vorgestern hat sie am hellen Tage gesungen auf dem Burstah. Man kann's bald nicht mehr übersehen.«

»Die säuft sich auch noch zu Tode.«

»Schade um so 'ne Frau.«

»Na, wir sterben alle einmal, so oder so. Und totgesoffen ist besser als totgehungert.«

»Deine Ansicht. – Also, was gibt es Neues?«

»Mensch, Männe, wie sollen wir das wissen? Frag drinnen in der Wachstube den Maak. Der sieht im Buch nach.«

»Ist der Rote nicht um den Strich?«

»Herr Polizeioberinspektor Frerksen ist bei seiner roten Herrlichkeit, Herrn Bürgermeister Gareis. Die Luft ist rein. Der Perduzke ist auch oben. Die brüten was.«

»Also los! – Tjüs derweilen. Wir trinken bald einen zusammen.«

»Vergiß dein Wort nicht, Männe.«

»Neues?« knurrt Maak. »Weiß nichts. Will mal im Wachtbuch nachsehen. Und, ach ja, Männe, eh ich das vergesse. In Stettin ist doch so ein Schulkurs für uns. Kannst ja mal anfragen unter ›Eingesandt‹, warum da nur Herren mit dem Parteibuch hingeschickt sind? Wir andern dürfen Dienst machen und sind Neese.«

»Wird gemacht. Hilft zwar nichts, ärgert aber doch. Also los, daß der Rote nicht kommt.«

»Schreib zu, ein Autozusammenstoß. Die alte Gefahrenecke. Das Nähere kann dir Soldin erzählen, der war dabei. Dann heute nacht wieder mal Schlägerei im Bananenkeller, wir waren mit sechs Mann da. Sprich mit dem Wirt, der inseriert ja wohl, daß du nichts schreibst, was ihn ärgert. Und ein Kinderwagen mit Kind gefunden. Na, weißt du ...«

Die Tür geht auf. Beide fahren herum. Herr Polizeioberinspektor Frerksen steht in der Tür.

»Stuff! Stuff! ich habe dich mindestens ein dutzendmal gebeten, die Nachrichten von mir und nicht von den Subalternbeamten zu holen!«

»Und wenn ich komme, hast du keine Zeit.«

»Es ist für deine Leser vollkommen unwichtig, ob sie die Sachen einen Tag früher oder später erfahren.«

»Das verstehst du nicht.«

»Jedenfalls ersuche ich dich, den Wachtraum sofort zu verlassen und nicht wieder zu betreten. – Sie, Maak, werde ich Herrn Bürgermeister melden.«

»Ich habe Herrn Stuff nichts gesagt!«

»Er hat mich an dich verwiesen.«

»Selbstverständlich, die Chronik verrät ihre Gewährsleute nicht. Sollte bei ihren Angestellten lieber ein bißchen auf Sauberkeit ...«

»Frerksen, ich verbitte mir!«

»Erledigt! Also, du verläßt sofort die Wachtstube.« Und die Tür schließt sich hinter dem Polizeioberinspektor.

Stuff tobt los: »Das Schwein! Die eingebildete Sau! Der Bengel hat bei mir das Fußballspielen gelernt! Diese stakige Schreiberseele, seine Brille schlage ich ihm kaputt!«

Und Maak: »Da siehst du mal wieder! Ich habe meinen Wischer weg.«

»Aber ich besorge es dir, Freundchen, warte nur! Du kommst mir auch mal. Kein Mensch mag diesen eingebildeten Laffen leiden. Dem ist das zu Kopf gestiegen, daß er vom Schreiber zum Oberinspektor raufgefallen ist.«

»Männe, es ist besser, du gehst jetzt. Ich fresse die Suppe nachher aus.«

»Ja, ich gehe schon, Maak. Aber warte, dem besorgen wir's.«

Eine Treppe höher, vor der Tür zur Kriminalpolizei: »Hier müßte er mich noch mal erwischen, dann wäre erst der Topp entzwei. – Na, egal, meine Nachrichten muß ich haben. – Guten Morgen, die Herren Kriminalisten! Nun, warum strahlst du so, Perduzke?«

Perduzke strahlt schon nicht mehr und sein wie seiner Kollegen »Guten Morgen« klingt kühl.

Stuff zieht sich einen Stuhl an den Tisch und greift nach einem Bündel Akten.

Eine Hand hält es fest.

»Nanu, was habt ihr denn heute? Ihr seid wohl von euerm Chef angesteckt?«

»Wieso Chef? Was hast du mit dem Chef? Welchen Chef meinst du überhaupt, Gareis oder Frerksen?«

»Frerksen natürlich. Was geht mich Gareis an?«

»Und was ist mit Frerksen?«

»Also ...« Und Stuff berichtet.

»Das sieht ihm ähnlich, dem eingebildeten Narren!«

»Seine Arbeit soll er machen, statt Leute schikanieren.«

»Vor den Chefs katzbuckeln und uns treten! Aber ich habe es ihm gegeben«, sagt Perduzke. »Habe ich dir schon erzählt, wie er reingefallen ist, neulich, als die Kommission mit den großen Tieren kam?«

»Ja. Aber erzähl es nur noch mal. So was höre ich immer wieder gerne.«

»Also du weißt Bescheid: die große Kommission aus Stettin, alle die großen Tiere. Der Oberbürgermeister führt. Kommen sie auch hier herein. Ich sitze allein beim Schreiben. Ich stehe auf, sage ›Guten Morgen‹ und setze mich wieder an meine Arbeit. Der Ober erzählt irgend etwas. Ich schreibe. Da kommt der rote Filou zu mir: ›Herr Perduzke, warten Sie so lange auf dem Gang vor der Tür.‹

›Herr Oberinspektor›, sage ich. ‹Ich mache hier meine Arbeit und störe niemanden.‹

›Herr Perduzke, ich befehle Ihnen hiermit dienstlich, auf den Gang zu treten.‹

›Ich habe keine Zeit. Der Bericht muß zur Staatsanwaltschaft.‹

Na, mein Frerksen schwillt rot an: ›Herr Oberbürgermeister! Herr Oberbürgermeister! Herr Perduzke befolgt meine dienstlichen Anweisungen nicht!‹

›Nun, Herr Frerksen, was tut er denn nicht?‹

›Er soll auf den Gang treten.‹

›Lassen Sie den Mann doch sitzen. Der stört ja niemanden.‹«

Beifälliges Gelächter: »Gib ihm Saures!«

»So Kattun muß er öfters haben.«

»Na, Stuff, daß er heute auf euch eine Stinkwut hat ...« fängt der Kriminalsekretär Bering an.

»Halt's Maul, Karl, du weißt doch, der Männe kann den Sabbel nicht halten.«

Und Stuff, erstaunt durch den Klemmer blinzelnd: »Also was ist los? Daß etwas los ist, habe ich lange gemerkt.«

Und Perduzke: »Lieber Männe, es ist wirklich besser, du erfährst es noch nicht.«

»Morgen kann er's erfahren, nicht wahr?« sagt Obersekretär Reinbrecht.

»Daß es die Konkurrenz wieder früher erfährt!« protestiert Stuff.

»Ich gebe dir mein heiliges Ehrenwort, weder Pinkus von der Volkszeitung noch Blöcker von den Nachrichten erfahren es früher als du.«

»Na ja. Aber kannst du es wirklich nicht gleich sagen?«

»Ausgeschlossen!« schneidet Perduzke kurz ab.

Und von der andern Seite sagt Hebel: »Was anderes! Ihr habt doch da auf der Chronik so einen Kerl, wie heißt er doch? Tretloch, Tretab, Tredup. Was ist das für eine Nummer?«

Es ist ein bißchen still nach dieser Frage, zu still, scheint Stuff. Er denkt müde blinzelnd nach. Plötzlich fängt er an zu lachen. »Oh, ihr Affen! Ihr Idioten! Jetzt kapiere ich. Wütend seid ihr, wegen der Bilder. Daß ihr nicht die große Entdeckung gemacht habt mit dem Ochsenstrohfeuer, sondern unser Annoncenwerber. Das hätte ich euch lange sagen können.«

Die andern sehen sich an: »Na, also, wenn du es schon weißt, Männe. Wie ist er denn, der Tredup?«

»Na, soweit er Geld hat«, fängt Stuff bereitwillig an, »ist er ein ganz anständiger Kerl ...«

5

Eine Stunde später ist es dem Stuff klargeworden, daß sie doch nicht stimmt, seine Lösung mit den Bildern. Und zwei Stunden später, am Mittagstisch, sagt er: »Die Brüder haben mich angeschissen, soviel ist klar. Der Frerksen weiß doch seit Wochen, daß die Bilder vom Tredup stammen. Warum sagen die denn, daß er heute eine Stinkwut auf uns hat?«

Er grübelt. Und das Ergebnis: »Irgendwas muß der Tredup ausgefressen haben, wovon die Polizei weiß. Ich werde ihn mir heute abend kaufen. Mit ihm saufen gehen.«

Aber Tredup hat keine Lust, muß arbeiten.

»Adressen schreiben? Du hast doch das Geld für die Bilder. Das hat doch eine Masse Moos gegeben.«

»Die Bilder? Sei mir von den Bildern ruhig, Stuff! Kein Wort auch heute abend davon.«

»Also um neun im Tucher?«

»Neun ist mir zu spät. Da ist es schon dunkel. Sagen wir acht.«

»Also schön, um acht. Acht ist auch viel besser. Da bummeln wir erst noch mal über den Strich und sehen uns die kleinen Mädchen an.«

Stuff entwirft sich einen Schlachtplan: »Ich werde Tredup zu trinken geben, bis er schwatzt, und ihn aushorchen.«

Aber am Nachmittag kommt Stuff mit Landwirtschaftsrat Feinbube vom Verband der schwarzbunten Rindviehzüchter und dem Syndikus Plosch vom Kreishandwerkerbund zusammen und ins Saufen. Stuff findet nicht fort. Er schickt einen Jungen zum Tucher: Tredup soll zu ihm kommen.

Doch Tredup kommt nicht, und Stuff trinkt weiter.

Nach einer Weile erinnert er sich wieder an die Verabredung und ruft den Kellnerjungen vom Büfett: »Was sagt der Tredup?«

»Er kommt nicht rein. Er steht vorm Lokal.«

»Und das sagst du mir erst jetzt? – Also, meine Herren, dann am Montag wieder. Sie sehen sich doch auch die Bauerndemonstration an?«

Tredup geht draußen auf und ab, auf und ab.

Der Burstah und der Bahnhofsplatz sind um diese frühe und milde Abendstunde voller Menschen. Viele helle Kleider und in jedem Türgang stehen Pärchen, natürlich auch bei der Chronik.

»Sieh mal, Tredup«, sagt Stuff und hängt sich schwerfällig bei ihm ein. »Da im Gang an der Chronik, da steht die Jüngste von unserer Reinmachefrau, die Grete Schade, und hat wahrhaftig wieder ihren Kavalier.«

»Was der Mensch braucht ...«

»Ja, stramm ist die, aber noch keine fünfzehn ...«

»Sie wird es ihrem Kavalier nicht erzählen ...«

»Der weiß doch auch, daß die erst zu Ostern aus der Schule gekommen ist. Da gibt es nichts, wenn es schnappt, fällt der rein.«

»Deine Sorge.«

»Meine? Vielleicht schon. Wenn sie lügt. Man weiß ja nicht. Ich will es dir erzählen, aber du mußt deinen Sabbel halten.«

»Natürlich.«

»Ehrenwort?«

»Ehrenwort!«

»Also vor einem Vierteljahr – wir heizten noch – komme ich morgens direkt vom Suff auf die Redaktion. Nicht aus den Augen konnte ich sehen. Die Grete ist grade beim Reinemachen und plötzlich sitzt mir die Kröte auf dem Schoß. Ich sage dir: eine Wärme! Mir wurde ganz anders. Über ihrem Hemd hatte sie nur ein Jumperkleidchen. Eine Wärme! Und eine Brust hat das Mädel!«

»Du wirst doch nicht, Stuff? Oder doch?«

»Na und wenn? Kann mir das einer verdenken? Und ist das gerecht, wenn ich dann wegen Verführung Minderjähriger –? So angesoffen wie ich war und diese Formen. Nein, aber ...« Und Stuff geht unvermittelt in eine andere Tonart über: »Aber man muß Mann sein, man muß sich beherrschen können. Nichts, sage ich dir, nichts ist passiert. Weggestoßen habe ich sie. – So, und jetzt gehen wir in die Grotte.«

»In die Grotte? Da möchte ich aber nicht gerne hin. Das ist mir wegen meiner Frau nicht recht.«

»Stehst du unter dem Pantoffel?«

»Und wenn? Jeder vernünftige Mann ist froh, wenn er unter dem Pantoffel ist, unter einem vernünftigen, natürlich.«

»Der Mann muß immer der Herr sein«, doziert Stuff.

»Quatsch, sei du mal zehn Jahre verheiratet! Sei du nur ein Jahr verheiratet! Immer der Herr! Solltest dich umsehen, wie das dir und deiner Frau bekommt!«

»Weißt du, was du bist!« schreit Stuff. »Dekadent bist du!«

»Ach was«, sagt Tredup verächtlich. »Du redest eben wie ein Blinder von der Farbe! Wenn du verheiratet wärst, würdest du auch anders reden. Dich hat eben keine gewollt.«

»Keine gewollt!« knurrt Stuff empört. »Willst du nun eigentlich mit mir ausgehen oder nicht?«

»Ich mit dir? Du mit mir! Du hast mich aufgefordert!«

Sie bleiben stehen, grade auf der Brücke, und sehen einander herausfordernd an.

Links liegt der Teich, in den die Blosse mündet, rechts rauscht auf dem Wehr leise und eindringlich das Wasser. Es ist dunkel hier unter den Bäumen. Ein paar Gaslaternen werfen ihren Schein auf die Fahrbahn, malen glimmende zitternde Reflexe auf die schwarze Fläche des Teichs. Im Hintergrunde leuchtet die bunte Lichtreklame über dem Eingang zur Grotte.

»Ich dich aufgefordert«, sagt Stuff verächtlich. »Ich dich!« Und plötzlich wütend: »Willst du, daß ich dich ins Wasser schmeiße?! Du Lump, du! Du Verräterchen!«

Tredup sieht auf Stuff, auf die leere Straße, die ins Dunkel der Baumgänge sich verliert. Er schiebt seinen Arm wieder in den Stuffs. »Komm man, Stuff, was machst du für Geschichten? Da ist die Grotte.«

Und Stuff erinnert sich plötzlich, daß er von diesem Manne was wollte. Irgendwie hatte es mit der Kripo zu tun und mit diesen verfluchten Bildern. Oder grade nicht mit den Bildern. Er weiß es nicht mehr recht. Es wird ihm einfallen, wenn er erst vor seinem Bier sitzt.

Und nun geht drüben auch die Tür zur Grotte auf. Jazzmusik klingt in die Sommernacht. Die Wasser rauschen plötzlich leiser.

Stuff faßt den Tredup fester: »Komm, mein Junge. Jetzt wollen wir aber tüchtig einen heben. Ich habe einen schrecklichen Durst.«

6

Nach zwei Stunden sitzen die beiden noch immer in der Grotte. Sie haben stramm getrunken und Stuffs Gesicht glüht dunkelrot gedunsen, Tredup ist blaß und muß häufig raus.

Stuff, der dicke, illusionslose Stuff, kaut noch immer an einer Bemerkung von Tredup, die ihn ins Herz getroffen hat: daß ihn keine gewollt habe. Darum ist er jetzt dabei, Tredup von seinen Siegen zu erzählen, seinen früheren Siegen.

»Ich sage dir, Tredup, da ist keine Bank im Stadtpark und kein Gebüsch, wo ich nicht mal ein Mädchen gehabt habe. Und der dunkle Bürgermeistergang ... ach, ich muß dir erzählen, wie ich da einmal überrascht worden bin ...«

Und er erzählt seine Geschichte, verweilt bei den Details und schließlich: »Das waren damals noch Mädchen, Tredup. Nicht solche verhungerten Spatzen wie heute! Und die schöne weiße Wäsche, die im Dunkeln leuchtete! Wenn ich heute diese beige und lila Schinkenbeutel sehe, ist der ganze Reiz weg.«

»Was ich fragen wollte«, beginnt Tredup zerstreut. »Du hast da vorhin was von Verräter gesagt. Richtig: Verräterchen. Hast du damit die Bilder gemeint?«

»Laß das, Tredup. Laß das!« ruft Stuff gerührt. »Wir sind alle keine Engel. Wenn bekannt wäre, was ich alles ausgefressen habe, ich säße Jahre und Jahre im Zuchthaus.«

»Es wird halb so schlimm sein. – Glaubst du, daß noch jemand was davon weiß, daß ich die Bilder verkauft habe?«

»Halb so schlimm! Ich sage dir, Tredup, in Stettin, auf der Kleinen Lastadie, in einem Hinterhaus, wohnt eine Frau, wenn die reden wollte und meinen Namen wüßte! Da war damals ...«

Stuff verliert sich und Tredup findet Zeit, zu fragen: »Glaubst du, daß die Bauern von meinen Bildern wissen? Da ist seit ein paar Tagen einer ...«

»Zum ersten Male bin ich mit der Henni bei ihr gewesen. Henni wollte und wollte nicht. Ich sollte sie nicht heiraten, ich sollte kein Geld zugeben, sie würde das Kind schon alleine großziehen. Ich gehe natürlich doch mit ihr hin. Wir kommen rein. – Ich hatte der Henni gesagt, mit meiner Liebe wäre es aus, wenn sie es nicht täte. ›Laß mir das Kind, Männe‹, hat sie geflennt.

Wir kommen rein, nur so eine Wohnküche, weißt du, zwei große Söhne von ihr. Die gehen raus, weißt du, wie wir kommen, ohne ein Wort. Sie ist so eine kleine gelbe Person, früher Hebammenschwester gewesen. Hat schon ein paarmal deswegen Zuchthaus gehabt. Man braucht gar nichts zu sagen, sie weiß sofort Bescheid. ›Legen Sie sich mal da über den Tisch!‹ Und zu mir: ›fünfundzwanzig Mark.‹«

Stuff schnauft und sieht vor sich hin.

»Na, es geht ganz schnell. Sie macht es mit Wasser und einer Spritze, nur der richtige Zeitpunkt muß es sein. Zwei Tage oder vierundzwanzig Stunden später ist das Kind da. Keiner hat's bei der Henni gemerkt. Sie hat es nachts abgemacht und am nächsten Tage ihren Dienst getan. Dienstmädchen.

Aber wie sie mir davon erzählt hat, Tredup, ich träume heute noch nachts davon. ›Ich habe nachgesehen, ehe ich es weggeworfen habe‹, sagt sie. ›Es wäre ein Mädchen gewesen.‹ Ich habe geheult, Tredup, richtig geheult, wie sie mir das gesagt hat.«

»Na, das ist sicher schon lange her«, horcht Tredup.

»Gar nicht so lange«, prahlt Stuff. »Und seitdem bin ich noch dreimal bei der Frau gewesen. Und einmal habe ich auch eine dazu gebracht, daß sie falsch geschworen hat ...

Ja, wir sind Schweine, Tredup, wir alle sind Schweine. Am Tage läuft man so rum und macht denselben Schweinkram wie die andern, aber nachts, wenn man lange in den Lokalen gesessen hat und der Pint steigt einem grade nicht zu Hirn, da sieht man, was man für ein Schwein ist: ich, du, alle.«

»Stuff«, sagt Tredup plötzlich entschlossen, ganz bleich vor Erregung. »Stuff, mir geht immer einer nach.«

»I wo, das bildest du dir ein.«

»Es ist, glaube ich, wegen der Bilder ...«

»Wegen welcher Bilder? Ach so, wegen der Bilder? Nee, das ist erledigt, da geschieht dir nichts. Lieber gehst du aber am Montag, wenn die Bauern demonstrieren, nicht dazwischen. Aber sonst, da geschieht nichts.«

»Nein, nein, so ist das nicht. Es ist auch die Bombe losgegangen beim Präsidenten.«

»Wegen der Bilder? Du Idiot!« lacht Stuff. »Wegen der Steuern ist die losgegangen, daß die Regierung Angst kriegt. Und die haben auch schon die Hosen randvoll, da sei man sicher.«

»Und es geht mir doch einer nach.« Tredup beharrt. »Nicht schon damals. In den letzten Tagen erst.«

»Weiß jemand vielleicht was von dem Gelde? Wieviel hast du übrigens gekriegt?«

»Dreihundert. – Nein, da weiß niemand von.«

»Also fünfhundert. Du hast viel davon ausgegeben?«

»Zehn Mark!«

»Und deine Frau?«

»Weiß auch nichts. Das Geld ist nicht im Haus.«

»Dann sage du man lieber rechtzeitig jemandem, wo das Geld ist. Es kann einem schließlich mal was passieren.«

»Siehst du, du glaubst es auch! Siehst du! Nein, das erfährt niemand, das ist eingegraben. Und wenn du mich totschlägst, ich verrate es nicht.«

»Schwätz nicht. Du bist ja besoffen. Wer soll dich totschlagen?«

»Nun, der Kerl von der Illustrierten, der mit dir bei mir war, nachts. Oder der mir immer nachläuft.«

»Wer läuft dir denn immer nach?«

»So ein kleiner Dicker. Mit krausem Haar. Schwarz.«

Stuff fällt plötzlich was ein: »Sag mal, kennst du Perduzke?«

»Perduzke? Nein. Wer soll das sein?«

»Höre mal, Tredup«, sagt Stuff und lehnt sich über den Tisch. »Hast du vielleicht in letzter Zeit was ausgefressen? Irgend etwas Großes, meine ich, nicht so etwas Kleines mit der la main, wenn du allein im Laden bist, Annoncen werben.«

»Du bist ein Schwein«, sagt Tredup, »du bist wirklich ein Schwein. Aber, damit du es weißt: weder was Kleines mit der la main noch was Großes.«

»Totsicher nicht?« Stuff glotzt beschwörend.

»Totsicher nicht. Weder geklaut noch Verführung zum Meineid, noch Abtreibung, noch Bomben, noch sonst was.«

»Ich glaube, er lügt diesmal wirklich nicht«, sagt Stuff. »Dann ist Perduzke ein Idiot. Laß ihn ruhig nachlaufen, Tredup, der tut dir nichts. Der meint wen anders.«

»Aber ich habe Angst, Stuff. Immer, wenn ich mich umdrehe, ist da jemand. Und am schlimmsten ist es, wenn keiner da ist, dann habe ich den Kopf ewig im Nacken, bis ich ihn wiedersehe.«

»Feigling! Du solltest bei uns im Felde ...«

Aber Tredup fährt unbeirrt fort: »Es ist da eine Stelle auf meinem Hinterkopf, die fühle ich ständig. Weißt du, quer über den Schädel, ein schmaler Streifen. Hier, vom Wirbel ab. Das ist kein Scherz. Da sitzt ewig ein Druck und ich weiß, da kriege ich mal einen mit der Hacke über den Schädel. Das fühl ich schon. So von hinten über den Schädel. Und dann liege ich da und bin weg.«

Er starrt Stuff erwartungsvoll an.

»Wir hatten da einen Vizefeldwebel im Felde«, setzt Stuff ein. »Mit dem fing es auch so an.«

»Rede nicht«, unterbricht Tredup. »Du sollst mir sagen, was ich tun kann. So werde ich noch verrückt.«

»Der Vizefeldwebel«, widerspricht Stuff hartnäckig, »kam auch in eine Anstalt ...«

Tredup steht brüsk auf. »Guten Abend, Stuff. Du machst wohl die Zeche in Ordnung.«

Nimmt seinen Hut und geht.

7

Es ist immer noch Sommernacht draußen, eine dunkle, mondlose Sommernacht, in der sich die Baumblätter leise bewegen. Das Wasser über dem Wehr rauscht noch immer, und auf der schwarzen Fläche des Teichs liegen die glänzenden Reflexe der Gaslaternen.

Tredup lehnt mit seinem Rücken gegen einen Baum und mustert aufmerksam den Weg in die Stadt. Die Fahrbahn liegt unbewegt und klar im Schein der Laternen da, und auch der Bürgersteig ist leer und fast schattenlos.

Aber die Bäume stehen auf jeder Seite in zwei Reihen, und hinter den starken Lindenstämmen kann ein Mann sich verstecken, oder zwei, man weiß es nicht. Und dann springen sie zu, und da ist die Stelle am Hinterkopf ... Haben sie erst geschlagen, dann ist es nicht so schlimm, aber der Augenblick der Erwartung muß grauenhaft sein.

»Am besten ginge ich noch mal ins Lokal und telefonierte mir eine Taxe vom Bahnhof her«, überlegt er. »Aber nein, da ist Stuff. Und ich komme nicht los von ihm, und das Saufen fängt wieder an und die Weibergeschichten ...«

Tredup tritt in die Mitte der Fahrbahn und beginnt langsam und zögernd vorwärts zu gehen. Ist er auf der Stammhöhe zweier Bäume, so späht er erst lange und vorsichtig hinter sie. Dann geht er weiter.

Zehn, zwölf Bäume sind schon vorbei, und vor ihm tauchen am Ende der Allee die Lichter des Marktplatzes auf, da bewegt sich rasch aus dem schwärzesten Schatten ein kleiner kugliger bärtiger Mann auf ihn zu ... jener, den er gestern schon sah, heute ...

Tredup sieht etwas wie eine ausgestreckte Hand auf sich zu ... Er macht einen ungeheuren Satz, nach dem Marktplatz hin, stößt einen Schrei aus, beginnt zu laufen.

Hinter sich hört er eiliges Schrittetrapsen, nun sind es schon zwei. Einer ruft: »Stehenbleiben oder ich schieße!«

Tredup rast.

Eine andere Stimme ruft: »Laß, Perduzke. Den kriegen wir auch so.«

»Perduzke?« denkt Tredup flüchtig. »Perduzke? Wer ist Perduzke?« Aber er muß laufen, sie kriegen ihn sonst, sie schlagen ihn sonst auf die schmerzende Stelle am Hinterkopf.

Er ist über den erleuchteten Marktplatz fortgelaufen, der jetzt, nach Mitternacht, menschenleer liegt. Dann gegenüber in die Probstenstraße.

»Das ist ein Umweg nach Haus«, denkt er. »Ach, wäre ich doch bei Elise!« Und läuft rascher.

Hinter ihm scheint jetzt nur noch einer zu sein, Tredup bekommt Hoffnung zu entrinnen, der Mann keucht so. Und ganz in der Nähe von hier sind die städtischen Anlagen, wenn er dahin kommt, da ist es dunkel, da finden sie ihn nicht.

Er schlägt einen Haken. Der Verfolger ist mindestens zwanzig Schritt hinter ihm.

Dann knirscht der Kies unter seinen Füßen. Hier ist es herrlich schwarz und Nacht. Tredup überspringt einen Rasenstreifen, wirft sich prasselnd durch ein Gebüsch, läuft ein Stück lautlos auf Gras – und sieht, während er auf der andern Seite in die Calvinstraße einbiegt, ganz hinten den Verfolger mit einer Taschenlampe suchen.

Als Tredup eine Viertelstunde später seine Wohnungstür öffnet, sitzt auf dem Stuhl an der Kommode der schwarzbärtige Dicke. Elise hockt verweint, in ihre Decke geschlagen, auf der Bettkante. Die Köpfe der Kinder zeigen sich und verschwinden wieder.

»Kommen Sie man rein, Herr Tredup«, sagt der Dicke. »Draußen ist noch einer. Jetzt hauen Sie mir nicht wieder ab. Mein Name ist Perduzke von der Kriminalpolizei. Es sollte mich wundern, wenn Herr Stuff Ihnen heute nicht von mir erzählt hätte.«

»Sie waren es doch«, fragt Tredup gespannt, »der mir vorhin bei der Grotte nachlief?«

»Ich und mein Kollege«, bestätigt Perduzke. »Meinen Kollegen scheinen Sie ja wieder losgeworden zu sein.«

»Und Sie sind es gewesen, der mir auch in den letzten Tagen nachgelaufen ist?«

»Seit vorgestern abend.«

»Na, wenn ich das gewußt hätte«, sagt Tredup aufatmend. »Dann hätte ich mir diesen Dauerlauf erspart.«

»Na, na«, meint Perduzke ungläubig. »Das sagen Sie jetzt, wo wir Sie haben. – Jedenfalls muß ich Sie verhaften.«

»Und warum?«

»Warum? Überlegen Sie sich mal.«

»Ich weiß nichts.«

Perduzke sagt bestätigend: »Jeder stellt sich so dumm, wie er kann. Aber darüber sprechen wir dann morgen. Das sieht alles ganz anders aus, wenn man erst einmal eine Nacht in der Zelle gesessen hat.«

»Max«, flüstert Frau Tredup. »Max, wenn du etwas getan hast, vielleicht wenn du gleich gestehst, daß der Herr dich hierläßt.«

»Überlegen Sie es sich«, sagt Perduzke. »Ihre Frau ist vernünftig.«

»Nichts, Elise, sorge dich nicht. Es ist Unsinn. Aber geh morgen gleich auf das Rathaus zu Bürgermeister Gareis und sage ihm, daß ich verhaftet bin und ihn sprechen müßte.«

»Gareis? Was haben Sie mit dem Bürgermeister?«

»Also, nicht wahr, Elise, du tust es bestimmt? Nicht vergessen, nicht aufschieben, dann bin ich morgen abend wieder bei dir.«

»Das bringt nun nicht einmal ein roter Bürgermeister fertig. Dann kommen Sie man, Herr Tredup.«

»Und dem Stuff Bescheid sagen. Nicht dem Wenk. Dem Stuff. Gute Nacht, Elise.«

»Gute Nacht, Max. Ach, Max, wie werde ich denn schlafen können ... und die Kinder ... Ach, Max.«

»Nichts. Nichts, Elise. Es ist sogar gut, daß er mich verhaftet hat. Hab ich doch wieder eine ruhige Nacht.«

»Ach, Max ...«

8

Bei Bürgermeister Gareis sitzen an einem klaren sonnigen Julinachmittag des folgenden Tages vier Herren beisammen. Durch die großen Fenster brechen Fluten fröhlichen Lichtes und beleuchten das liebenswürdige fette Gesicht des schwersten Mannes von Altholm, die beweglichen, jetzt etwas betrübten Züge von Assessor Meier, Vertreter der Regierung in Stolpe, das recht verkniffene unzufriedene Gesicht von Polizeioberst Senkpiel und die beflissen aufmerksame Miene des Polizeioberinspektors Frerksen.

Gareis sieht noch liebenswürdiger aus, lächelt noch freundlicher: »Aber, meine sehr verehrten Herren aus Stolpe, warum in aller Welt soll ich diese Bauernkundgebung verbieten?«

Und Assessor Meier, etwas gereizt: »Ich sagte Ihnen schon mehrfach: weil Zusammenstöße zu befürchten sind.«

»Bei unsern Bauern? Die denken nicht daran, tätlich zu werden.«

Assessor Meier sagt betont: »Die Bewegung Bauernschaft ist gefährlicher als KPD und NSDAP zusammen. Ich wiederhole wörtlich einen Ausspruch des Präsidenten, nicht wahr, Herr Oberst?«

Oberst Senkpiel nickt brummig: »Hier muß am Montag Schupo her.«

Gareis lächelt noch strahlender: »Doch nicht gegen meinen Willen, Herr Oberst?«

Und Assessor Meier eilig: »Was ich Ihnen vortrug, sind Wünsche des Präsidenten. Aber ich muß Sie doch auf die erhöhte Verantwortung aufmerksam machen, wenn Sie diese Wünsche außer acht lassen.«

Meier fingert in seiner Westentasche und befördert einen Zettel ans Licht: »Bei allen ...« beginnt er und schielt kurzsichtig durch sein Klemmerglas.

Der Bürgermeister lehnt sich zurück und faltet gottergeben die Hände über seinem Bauch.

»Bei allen Demonstrationen sind zwei Gesichtspunkte zu beachten: die Stimmung der Demonstrierenden und die Stimmung der Bevölkerung.

Im hier vorliegenden Falle ist die Bauernschaft entschieden erregt, wenn nicht gar aggressiv gestimmt. Ich darf an die Ochsenpfändung in Gramzow erinnern, an die Bombe in der Villa des Regierungspräsidenten.

Dieser Gefahrenmoment wird dadurch erhöht, daß die Bauernschaft kein festes Gebilde ist, sondern etwas Fließendes, Ungreifbares. Sie kennt keine eingeschriebenen Mitglieder, keine Führer.

Bei andern Demonstrationen lassen sie sich, Herr Bürgermeister, die Führer kommen. Sie besprechen mit ihnen das Nötige, vereinbaren Route, Aufmarschart, Sie haben Verantwortliche. Hier nichts. Jeder ist autorisiert und keiner.

Kommt Punkt zwei: die Stimmung der Bevölkerung. Stark sind hier am Orte nur die Parteien SPD und KPD. Daß diese Leute einem Bauernaufmarsch nicht sympathisch gegenüberstehen, versteht sich. Es gibt tausend Reibungsmöglichkeiten, unabsehbare. Ein Zuruf kann eine Schlägerei entfesseln, eine Schlägerei eine Schlacht.

Sie haben hier etwa achtzig kommunale Polizeibeamte –«

»Achtundsiebzig«, sagt der Polizeioberinspektor.

»Eben. Achtundsiebzig. Zwanzig davon dürften auf Urlaub sein.«

»Einundzwanzig.«

»Schon gut, Herr Frerksen. Es kommt mir wirklich nicht auf die Einser an.«

Frerksen knickt zusammen.

»Also ... ich subtrahiere ... Wie war das doch? Ich bitte Sie, Herr Oberinspektor ... einundzwanzig weniger ...«

»Es würden siebenundfünfzig Mann zur Verfügung sein.«

»Richtig. Siebenundfünfzig. Das heißt praktisch höchstens fünfzig, denn Sie können nicht alle Verkehrsposten aufheben.«

»Nur vierzig«, sagt der Bürgermeister.

»Also vierzig. Vierzig! Herr Bürgermeister, Herr Gareis, ich bitte Sie! Da sind dreitausend, da sind ihrer viertausend, da sind vielleicht fünftausend Bauern, die demonstrieren, und in einer feindlichen Umgebung, in einer roten Stadt – Verzeihung! ich gehöre ja selbst der Partei an! –, und Sie wollen mit vierzig Mann kommunaler ungeübter Polizei ... Wenn das nicht Wahnsinn ist! Sagen Sie selbst, Herr Gareis, sagen Sie selbst!«

»Ich will Ihnen kurz und klar antworten:

Ich verbiete die Demonstration nicht!

Ich verbiete sie erstens nicht, weil ich keine rechtliche Handhabe besitze. Ich erlaube hier jeden Tag Umzüge aller Parteien, ich kann keiner Partei eine Sonderstellung einräumen ...

Ich verbiete sie zum zweiten nicht, weil ich keine Gründe für ein Verbot sehe. Die Bewegung Bauernschaft mag sein, wie sie will: ihre Mitglieder sind nicht aggressiv. Gramzow ist grade ein Beweis dafür. Man hat passiven Widerstand geübt, man hat auch Ochsen geschlagen, keinem Menschen ist ein Haar gekrümmt worden.

Ich verstehe ja, daß man wegen der Bombengeschichte in Stolpe nervös ist ...«

»Nervös, Herr Bürgermeister ...«

»Also nicht nervös ist. Nichts spricht dafür, daß dies Attentat von der Bauernschaft ausgeht. Der erste Verhaftete ist ein Angestellter des Finanzamts, der angegeben hat, sich an dem Regierungspräsidenten rächen zu wollen, den er aus idiotischen Gründen für schuldig an seiner Entlassung hält. Der zweite Verhaftete – nun, der ist erst recht kein Bauernschaftsmann, wie grade Sie wissen sollten, Herr Assessor.«

»Auch ich halte diese Verhaftung für einen Mißgriff.«

»Wir sind einig. Darin. Also: die Bauernschaft ist nicht aggressiv. Bleibt die Haltung unserer Arbeiterschaft. Die Demonstration findet wahrscheinlich zu einer Zeit, wo unsere Arbeiter in den Fabriken sind, statt.

Und zum Schluß, grundsätzlich: man muß Demonstrationen ins Leere stoßen lassen. Je mehr Aufwand, je mehr Reibungsmöglichkeiten. Stellen Sie zwei Hundertschaften auf und den Bauern fällt erst ein, daß sie gefährlich werden könnten. Vierzig Mann sind nicht viel, aber vierzig Mann sind vollkommen ausreichend. Ich sage Ihnen: es passiert nichts.

Und ich sage Ihnen: ich tue nichts.«

Der Bürgermeister macht eine rasche Bewegung: »Ins Leere stoßen. So. Ich bin fertig. Ich bedauere; es ist etwas lang geworden. Aber ich denke, jetzt ist alles geklärt.«

Und Gareis sieht strahlend auf die andern Herren. Dabei tastet seine Hand nach hinten. In seinem Rücken hängt vom Schreibtisch die Birne einer Klingel. Er drückt einmal, zweimal, dreimal.

Assessor Meier gibt sich einen Ruck: »Nein, Herr Bürgermeister, ich muß Ihnen wiederholen: es ist noch nichts geklärt. Ihre Entscheidung ist unmöglich. Ihre Entscheidung nehme ich nicht nach Stolpe mit. Herr Regierungspräsident hat mich angewiesen –«

Die Tür tat sich auf und Sekretär Piekbusch erscheint eilig und erregt: »Herr Bürgermeister! Herr Oberbürgermeister läßt fragen, ob Sie einen Augenblick abkommen können. Es ist dringend wichtig.«

Der Bürgermeister erhebt sich: »Sie hören, meine Herren. Sie entschuldigen mich. Ich bin sofort zurück. Vielleicht sprechen Sie mit Frerksen über die Lage. Herr Frerksen kann Ihnen auch jede Auskunft geben.«

Und Gareis verschwindet.

9

Gareis steht prustend im Vorzimmer: »Laß sie schwätzen drinnen, Genosse Piekbusch, es war höchste Zeit, daß ich den Klingelknopf zu fassen kriegte. Diese Stolper – ein Knallbonbon geht los und bloß weil ihr bißchen Leben in Gefahr war, möchten sie gegen alle Welt Ausnahmegesetze machen.«

»Drüben bei Assessor Stein sitzt auch der Bauer Benthin. Ich hab ihn drüben hingesetzt, daß die hier ihn nicht zu sehen kriegen.«

»Gut. Das paßt grade.«

Und Gareis läuft über den Gang, schwankend, prustend, zum Zimmer des Assessors.

Auf dem Gang steht unschlüssig eine Frau, deren Gesicht bei seinem Anblick heller wird. Der Bürgermeister, in dessen Vorzimmer alles sitzt, was Hilfe braucht – er hat auch das Wohlfahrtsdezernat –, der Bürgermeister bleibt stehen und fragt: »Na, wollen Sie zu mir, junge Frau?«

»Ja, Herr Bürgermeister. Ja doch. Und dann hörte ich, Sie wären nicht zu sprechen. Und sie haben doch meinen Mann verhaftet.«

»Ihren Mann? Das ist schlimm. Wer ist denn Ihr Mann?«

»Der Tredup, Herr Bürgermeister, der Tredup von der Chronik, der bei Ihnen war wegen der Bilder.« Rasch und sich überstürzend: »Und wenn er jetzt vielleicht auch was ausgefressen hat und wenn das mit den Bildern nicht recht war: er ist doch ein guter Mann. Es ist ja doch nur, daß wir kein Glück haben und daß immer was Neues bei uns kommt. Und fleißig ist er und trinkt nicht und spielt nicht, und nach jeder Annonce läuft er zehnmal, und abends sitzt er bis in die Nacht und schreibt Adressen. Nur, daß alles nichts hilft und die zwei Kinder da sind, und man kommt nicht vorwärts.«

»Na, jetzt muß es Ihnen doch aber besser gehen, wo er die tausend Mark für die Bilder bekommen hat?«

»Tausend Mark? Mein Max? Aber Herr Bürgermeister, das ist doch wohl nicht möglich, davon müßte ich doch wissen. Wo die letzten Tage kaum Geld im Haus war, bis ihm Wenk, das ist der Geschäftsführer, zehn Mark Vorschuß gab.«

Gareis blinzelt ein wenig: »Na, vielleicht hat er das Geld auch noch nicht bekommen. Aber er bekommt es gewiß. Ich werde mich mal erkundigen.«

Und die Frau: »Ist es denn sicher mit den tausend Mark? Oh, Herr Bürgermeister, wenn das wahr ist! Tausend Mark ... Und man könnte endlich einmal Wäsche kaufen für die Kinder und Schuhe, und Max braucht auch so viel ...«

»Es ist ganz bestimmt, Frau Tredup. Und jetzt hat man also Ihren Mann verhaftet?«

»Ja, Gott, ich vergesse es ja. Es ist nur, weil ich so aufgeregt bin. Und Sie möchten so gut sein und ihn besuchen. Wenn Sie es tun wollten? Wenn es keine Frechheit wäre zu bitten?«

»Nein, nein, ich werde ihn schon besuchen. Wahrscheinlich heute noch. Und dann ängstigen Sie sich nicht. Ihr Mann hat nichts ausgefressen. Ihr Mann ist bald wieder bei Ihnen.«

»Ich danke auch schön, Herr Bürgermeister. Und die tausend Mark?«

»Sind Ihnen sicher. – Also dann, ich werde ihn grüßen, Ihren Max.«

»Ich danke auch schön, Herr Bürgermeister. Und dann ...«

Aber Gareis ist schon drinnen im Zimmer vom Assessor Stein, die Tür klappt grade hinter ihm zu.

Am Fenster steht der Bauer Benthin, der einzige Landwirt in Altholm, bekannt unter dem Namen »Mottenkopp«, weil in seinen grau und blond gescheckten Haarwuchs eine Flechte runde »Mottenlöcher« gefressen hat. Er dampft aus einem urmächtigen Knösel.

»Behalten Sie die Piep im Mund, Vadder Benthin, immer dampfen Sie ruhig weiter. Nun, was macht das liebe Leben? Frau munter? Ist der Junge schon da?«

»Danke der Nachfrage, Herr Burgemeister. Das geht ja alles soweit. Auf den Stammhalter warten wir noch. Das kann ja nun wohl jeden Tag losgehen.«

»Na, bei uns hier auch, nicht wahr?«

»Bei uns auch? Wie meinen Sie denn das, Herr Burgemeister?«

»Ich habe so was gehört, ihr wollt hier großen Trara machen. Massendemonstrationen. Zehntausend Bauern. Widerstand gegen die Staatsgewalt. Aufruhr. Revolution.«

»Gott, Herr Burgemeister, seh ich so aus? Ich bin man auch ein ruhiger Mann.«

»Und die andern? Die Bauernschaft? Die Bewegung?«

»Das sind doch auch alles Leute wie ich, Herr Burgemeister.«

»Aber was wollt ihr denn? Ihr müßt doch hier was wollen? Umsonst zieht ihr hier doch nicht auf die Straße?«

»Wir wollen doch unserm Franz Reimers unsere Sympathie kundgeben. Sehen Sie mal, Herr Burgemeister, da sitzt der Mann nun, und alles wegen der verfluchten Steuern. Es ist schwer mit den Steuern, Herr Burgemeister, glauben Sie mir das.«

»Weiß ich, weiß ich, Vadder Benthin. Wir müssen mal wieder eine feine Ausstellung machen, wie wir beide sie voriges Jahr gedeichselt haben. Das bringt Leben in die Bude.«

»Die Ausstellung war gut, Herr Burgemeister, da gibt es nur eine Stimme.«

»Na ja, und am Montag, wird es da auch gut?«

»Gott, warum soll es nicht gut werden? Wir sind friedlich. Da wird ein Lied gesungen, und da werden ja dann wohl Reden gehalten. Und sehen Sie, Herr Burgemeister, es sind auch Junge unter uns und Verbitterte, manchen geht es sehr dreckig. Nun, Sie brauchen ja nicht zuzuhören, was da geredet wird. Es wird soviel geredet. Darum fällt noch lange nichts um.«

»Ich will Ihnen mal was sagen, Benthin, und darum habe ich Sie kommen lassen. Sie sind ein oller Altholmischer und ich denke, Sie haben was übrig für die Stadt, wenn es auch nur ein olles Fabriknest ist. Also, Vadder Benthin, wir haben zusammen die schöne Ausstellung gemacht und nun sehen Sie mich an und sagen mir ins Gesicht, daß am Montag nicht gestänkert werden soll und nichts zerschlagen.«

»Herr Burgemeister, es wird eine ruhige Sache, ich kenne doch uns Bauern.«

»Und Sie versprechen mir in die Hand, Vadder Benthin, daß Sie am Montagvormittag noch mal mit den Führern zu mir kommen, damit wir besprechen, wie und wann und wo marschiert wird?«

»Versprech ich, Herr Burgemeister.«

»Und Sie versprechen mir auch heilig, daß Sie am Montag von selbst zu mir kommen, wenn Sie merken, es soll gestänkert werden. Es wäre doch eine Schande, wenn es hieße, in Altholm hat es Stänkerei gegeben mit den Bauern!«

»Versprech ich, Herr Burgemeister.«

»Na, dann ist ja alles in Ordnung, Vadder Benthin. Und grüßen Sie die Frau. Und daß der Stammhalter bald und gut kommt.«

»Dank auch schön, Herr Burgemeister.«

»Und Sie versprechen, daß ich ruhig schlafen kann, Vadder Benthin, und ohne Sorgen?«

»Wie mein Sohn in seiner Wiege schlafen soll, Herr Burgemeister, wie mein Sohn.«

10

»Ich will Ihnen etwas sagen«, erklärt unterdes Assessor Meier mit ungewöhnlichem Nachdruck. »Ich denke gar nicht daran, mit diesem dickköpfigen Bescheid von Gareis nach Stolpe zurückzukommen. Sie wissen Bescheid, Herr Oberst. Mein verehrter Herr Chef, die Ohren reißt er mir ab.«

Meier steht auf, der Klemmer fällt von seiner Nase und schlägt am Bande schaukelnd ein paarmal gegen die Weste. »Ohren abreißen? Ich bin erledigt, einfach erledigt, wenn ich mit diesem Bescheid nach Stolpe komme. Und ich werde es Ihrem Bürgermeister sagen, Herr Polizeioberinspektor, ich werde es ihm mit aller Deutlichkeit sagen: die Demonstration wird verboten!«

Er stand da, sein fettes Gesicht zitterte, Haare hingen ihm in die Stirn.

»Auch ich bin der Ansicht ...« begann der Oberst.

Aber Meier war von Energie ergriffen, er sah seine Karriere bedroht, er rief: »Es handelt sich hier nicht um Ansichten, es handelt sich hier um Staatsnotwendigkeiten! Die Demonstration wird verboten!«

»Soweit ich meinen Chef kenne ...« beginnt vorsichtig und verbindlich der Polizeioberinspektor ...

»Auch ich kenne meinen Chef!« ruft der Assessor. »Glauben Sie, er vergißt je die Bombengeschichte? Die haben Sie uns eingebrockt! Sie, Herr Frerksen, und Ihr famoser Chef, Genosse Gareis. Glaubt er, er ist Mussolini? ›Ich sehe keine Bedenken.‹ Herrlich, vorzüglich, da mein Chef ...«

Er bricht ab und starrt vor sich hin. Mit neuer Kraft: »Sie haben diesen Bilderonkel zu uns gebracht, mit diesem Bilderonkel fing das Unheil an. Ohne die Bilder keine Bombe. Temborius verzeiht nie! Und er hat Verbindungen im Ministerium!«

Der Polizeioberst räuspert sich mißbilligend.

Der Assessor, eilig und leise: »Wir sind unter uns. Herr Frerksen, wenn Sie auch diese Uniform tragen: Sie sind ein ziviler Mensch. Im Vertrauen gesagt: Herr Regierungspräsident hat mir vor meiner Abreise hierher gesagt: ich verlange ein exzeptionell scharfes Vorgehen gegen diese Bauernlümmel.«

Der Oberst räuspert sich, stärker.

Und der Assessor noch eiliger und leiser: »Wir sind unter uns, Herr Oberst. Wollen Sie, daß hier Blut fließt? Die Bauern sind übermütig –« Mit Elan: »Sie spotten des Staates! Schlimmeres bleibt verhütet, wenn die Demonstration unterbleibt. Zwei Hundertschaften Schupo, unter bewährter Führung, und die ankommenden Demonstranten werden sofort aufgelöst, Herr Oberinspektor!«

Frerksen bewegt bedauernd den Kopf: »Ich bin einflußlos, Herr Assessor ...«

»Sie sind nicht einflußlos. Ich bin im Bilde! Sie sind der Mann seiner Wahl, seines Vertrauens. Er hat Sie zum Oberinspektor gemacht, gegen die Bürgerlichen, gegen den Oberbürgermeister, gegen den Magistrat, fast gegen die eigenen Genossen. Er hört auf Sie.«

»Er hört nur auf sich.«

»Sagen Sie ihm: die kommunale Polizei ist zu schwach. Sagen Sie ihm, daß Sie die Verantwortung nicht tragen können. Setzen Sie ihm die Pistole auf die Brust, gehen Sie auf Urlaub – nur, verhindern Sie die Demonstration. Gareis braucht Sie zur Ausführung seiner Befehle. Verweigern Sie ihm die Hilfe und verhindern Sie diese wahnwitzige staatsfeindliche Demonstration.«

»Es liegt außer meiner Macht ...«

»Wer ist schon Gareis? Ein zufällig gewählter Vertreter einer zufällig gewählten kommunalen Mehrheit. In diesem Herbst sind neue Wahlen. Die Verbindungen des Oberpräsidenten ...«

»Meine Herren«, sagt Polizeioberst Senkpiel und erhebt sich mit einem Ruck: »Dies geht nicht.«

Die beiden andern starren ihn an.

»Außerdem ist Gareis, soviel ich weiß, eng mit dem Minister befreundet.«

»Wir sind unter uns, Herr Oberst, seien Sie ganz unbesorgt, wir sind unter uns. Was ist schon ein Bürgermeister? Nicht wahr, Sie wollen doch weiter, Herr Oberinspektor? Verhindern Sie diese Demonstration!«

»Meine Herren«, beginnt flüsternd und hastig der Polizeioberinspektor und schaut scheu zur Tür. »Ich verstehe Ihren Standpunkt, ich kann fast sagen: ich teile ihn. Aber Ihre Voraussetzung ist falsch. Ich bin machtlos, ich bin ohne Einfluß. Suchen Sie ihn zu überzeugen, Herr Assessor, ich will gerne, soweit es meine Stellung erlaubt, in die gleiche Kerbe hauen. Mehr zu tun, ist mir unmöglich.«

»Soweit es Ihre Stellung erlaubt!« Des Assessors Stimme klingt verärgert. »Man muß sich manchmal entscheiden können, mein lieber Oberinspektor. Man muß manchmal Opfer bringen, wenn man etwas erreichen will.«

»Trotzdem! Trotzdem! Meine Stellung hier. Ich bin nicht beliebt in der Stadt.«

Senkpiel trommelt gegen die Scheiben. »Sind Sie nun bald fertig, meine Herren? Es hört sich nicht sehr hübsch an. Außerdem kann Gareis jeden Augenblick wiederkommen.«

Der Assessor springt auf, läuft erregt hin und her: »Und es soll bei dieser Entscheidung bleiben? Unmöglich! Vollkommen unmöglich! Es muß ...« Er bleibt stehen, seine Züge erhellen sich. »Kommen Sie her, meine Herren. Auch Sie bitte, Herr Oberst. Ein anderer Vorschlag:

Die Demonstration findet statt. Sie wird gestattet. Sie staunen, meine Herren? Sie wundern sich? Ja, wir gestatten die Demonstration der Bauern, wir sind großzügig. Aber –

Aber Sie, Herr Oberinspektor Frerksen, Sie haben die Führung der kommunalen Polizei. Sie ordnen den Zug. Sie besichtigen ihn. Sie haben ein Auge auf ihn, ein exzeptionell scharfes Auge.«

Ganz langsam: »Und wenn Sie irgend etwas merken, etwas Anstößiges, Aufreizendes, Staatsfeindliches – ein Zuruf, ein Lied schon kann es sein –, so schreiten Sie ein, so lösen Sie den Zug auf.«

Der Assessor schaut triumphierend, der Oberst meint skeptisch: »Mit vierzig Mann kommunaler Polizei. Ich beglückwünsche Sie zu dieser Aufgabe, Herr Frerksen.«

Der Assessor lächelt: »Richtig, das sagte ich noch nicht. Eine ganz kleine Konzession wird mir unser lieber Gareis doch machen, da ich ihm soweit entgegenkomme. Zwei Hundertschaften legen wir hier in Bereitschaft, ganz unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Etwa auf den Rathaushof, in der Marbedeschule, die ja auch zur Hand ist. Das tut er doch, nicht wahr, Herr Frerksen?«

»Ich weiß nicht ... es ist schon möglich ... ich zweifle allerdings ...«

»Die Leute sollen ja nicht zum Einsatz kommen. Nur für den äußersten Fall der Not, Herr Oberinspektor, das muß ihm doch recht sein!«

Er wendet sich rasch zu dem eintretenden Gareis: »Also, Herr Bürgermeister. Wir haben alles noch einmal durchgesprochen. Herr Frerksen hat mir wertvolle Aufschlüsse gegeben:

Unsere Bedenken sind nicht zerstreut, aber wir wollen sie zurückstellen. Sie mögen den besseren Kontakt mit den Bauern haben seit Ihrer vorzüglich gelungenen landwirtschaftlichen Ausstellung. Also, die Demonstration findet statt, sie wird freigegeben.«

»Ich habe das bereits eben einem Führer der Bauernschaft mitgeteilt.«

Meier verzieht das Gesicht ein wenig: »Nun also. Ist auch das in Ordnung. Nur eine Konzession müssen Sie uns machen: für den schlimmsten Fall legen wir Ihnen ein oder zwei Hundertschaften Schupo her, auf den Rathaushof, in eine Schule.« Sehr rasch: »Nein, nein, niemand erfährt davon, die Leute kommen nachts. Es ist nur, daß Sie Hilfe zur Hand haben. Ich würde sogar, nun, ich will es verantworten, die Leute unter Ihren Befehl stellen.«

Der Oberst grunzt.

Der Assessor lächelt nervös: »Unser lieber Oberst Senkpiel scheint zu protestieren. Aber Sie verstehen doch, Herr Oberst, so schwierig, wie der Fall gelagert scheint. Nicht wahr, Herr Bürgermeister, wir sind einig?«

Der Bürgermeister lächelt: »Ich bin längst einig und zwar mit mir selber. Schupo kommt nicht nach Altholm. Was Sie da sagen von ›heimlich‹, ›niemand erfährt davon‹, ist, entschuldigen Sie, Herr Assessor, Unsinn. Auf den Rathaushof gehen hundert Fenster, ganz abgesehen davon, daß auch in Altholm Leute manchmal nachts auf sind und die Schupo kommen sehen.

Nein, all das kommt nicht in Frage. Es gibt keine Zusammenstöße.«

»Herr Bürgermeister, ich bitte Sie, der Regierungspräsident ...«

»Auch der Regierungspräsident kann an meiner Entscheidung nichts ändern.«

»Wir werden Ihnen einen Befehl geben!«

»Ich wende mich dann an den Minister. – Aber, lieber Herr Assessor, was erregen wir uns? Ich trage die Verantwortung, ich allein. Der Fall ist erledigt.«

»Er ist nicht erledigt. Er kann und darf nicht so erledigt sein.«

»Ich versichere Ihnen, er ist erledigt.«

»Dann«, ruft der Assessor verzweifelt aus, »dann bleibt uns nichts, als die Schupo nach Grünhof zu legen, nach Ernsttal. In die Vororte.«

»Was außerhalb meines Amtsbezirks geschieht, kann ich nicht hindern. Gut ist es nicht, denn auch dort wird die Schupo gesehen.«

»Und Sie werden diese Schupo benutzen, Herr Bürgermeister. Ich prophezeie Ihnen ...«

»Prophezeien Sie nicht, Herr Assessor, man hat nie den Propheten geglaubt. – Eine andere Frage: wissen Sie zufällig, ob der Tredup seine tausend Mark bekommen hat?«

»Gewiß doch«, sagt der Assessor übellaunig.

»Sie sind sicher?«

»Wo ich doch dabei gestanden habe, wie er sich das Geld genommen hat!«

»Genommen hat, ist gut. Aber das ist wirklich seltsam ...«

»Ja, Herr Bürgermeister, meine Obliegenheiten sind also dann erledigt. Ich verhehle Ihnen nicht, ich gehe mit sehr schwerem Herzen. Herr Regierungspräsident wird äußerst ungehalten sein.«

»Sie werden am Dienstag wissen, daß ich recht hatte.«

»Ich hoffe es, aber ich kann nicht daran glauben. Adieu, Herr Bürgermeister.«

»Adieu, Herr Assessor. Es hat mich sehr gefreut.«

Der Assessor schüttelt dem Oberinspektor die Hand: »Adieu, Herr Frerksen.« Leise: »Wir verlassen uns ganz auf Sie.«

Die Herren von der Regierung gehen ab.

Der Bürgermeister sehr scharf: »In was verläßt sich Stolpe ganz auf Sie, Herr Frerksen?«

Frerksen fährt zusammen: »Oh, die haben mir nur die Ohren voll geblasen, daß ich Ihnen wegen der Schupo zureden soll.«

Gareis mustert seinen Oberinspektor lange: »Na ja, Frerksen, wie Sie meinen. Das mit der Schupo war ja wohl schon erledigt. Nein, bitte erzählen Sie mir nichts. Aber ...« sehr scharf: »... hier gelten meine Befehle.«

Plötzlicher Übergang, sanft lächelnd: »Und Sie haben ja wohl aus der Bildergeschichte gelernt, was für Dank man sich aus Stolpe holt. Ich bin nur ein kleines Pferd«, er bewegt seinen ungeheuren Körper, »aber vielleicht mache ich doch das Rennen.«

11

Das Zentralgefängnis der Provinz liegt etwas außerhalb Altholms. Mit seiner roten Backsteinarchitektur, dem Grauweiß der zementgeputzten Mauern, nur unterbrochen von den monotonen vergitterten Fensterlöchern der Zellen, macht es selbst an einem strahlenden Julinachmittag einen trostlosen Eindruck.

Bürgermeister Gareis weiß Bescheid, er ist schon öfter dort gewesen. Als auf sein Klingeln ihm ein Wachtmeister die Tür des Einfahrthauses aufschließt, sagt er kurz: »Zu Direktor Greve. Ich weiß den Weg.«

Der Wachtmeister sieht ihm nach, wie er langsam und ohne Hast, schwerfällig aus dem Torhaus hinaustritt, auf den Hof, in die Sonne. »Der sollte man gleich hier bleiben, der rote Bonze«, denkt er und schiebt krachend die Riegel wieder zu.

Auf dem Hof ist mit zwanzig Quadratmetern Rasen, zwei Beeten Geranium und vier Rosenstöcken ein schüchterner Versuch gemacht worden, Anlagen zu schaffen, aber es bleibt ein Steinhof, eine trostlose Häufung von Granit, Ziegelsteinen, Zement und Eisen. Links das Untersuchungsgefängnis, rechts das Jugendgefängnis, gradezu der Bürobau, in dessen oberem Stockwerk, gekrönt von einem goldenen Kreuz, der »Betraum«, die Kirche untergebracht ist.

Gareis kann nicht anders, als er dieses blitzende goldene Kreuz betrachtet, muß er die Unterlippe vorschieben, die Schultern bewegen und »Na ja« sagen.

Ein Wortwechsel, laute und polternde Stimmen ziehen seinen Blick vom Kreuz auf ein Auto, einen geschlossenen Privatwagen, der vor dem Untersuchungsgefängnis hält. An dem Wagen stehen zwei uniformierte Wachtmeister, ein Zivilist, in dem er seinen eigenen Kriminalkommissar Katzenstein erkennt, und ein zweiter Zivilist, auf den von den andern dreien heftig eingeredet wird.

Der Zivilist soll irgend etwas tun, scheinbar den Wagen besteigen, aber er steht dort, den Rücken fest gegen die Mauer gelehnt, die Hände schlagbereit vor sich. Die Wachtmeister schelten auf ihn ein, abwartend, ruhiger redend, mehr im Hintergrund, Kommissar Katzenstein.

Einen Augenblick steht Gareis unschlüssig, da erinnert er sich plötzlich, wer der Zivilist ist. Er überquert den Steinplatz, geht eilig auf den Bedrängten zu und streckt ihm die Hand hin: »Guten Tag, Herr Reimers. Freut mich, Sie zu sehen. Ausfahrt machen, was?«

Reimers sieht ihn mit seinen kalten grauen Augen prüfend, aber nicht ganz mißbilligend an: »Ganz zufällig, Herr Bürgermeister, was, daß wir uns hier wiedersehen?«

Gareis lacht: »Man wird mißtrauisch, wenn man in so einem Käfig tagaus, tagein mit seinem eigenen Ich zusammenhockt? Alle andern draußen halten gegen einen zusammen, wie?«

»Sie reden aus Erfahrung?«

»Als ob ich auch schon gesessen hätte? Hab ich, hab ich. Pressevergehen. Aber man konnte mir nichts beweisen und so durfte ich denn noch Bürgermeister von Altholm werden.«

»Sie haben Schwein gehabt. Mir kann man was beweisen.«

»Aber Sie haben mildernde Umstände. Schlimm wird es nicht. Und Bürgermeister wollen Sie ja nicht werden.«

»Ich bin Bauer.«

»Das Beste«, bestätigt Gareis. »Übrigens, was macht Ihr schwarzbunter Stier, der auf unserer Ausstellung den ersten Preis bekam?«

Reimers lächelt, er lächelt wirklich: »War in diesem Frühjahr auf der Großen landwirtschaftlichen Ausstellung in Stettin, hat den Ehrenpreis der Landwirtschaftskammer bekommen.«

»Nun also«, sagt Gareis. »Übrigens sehe ich Sie wirklich zufällig, Herr Reimers. Ich will hier jemand anders besuchen, der übrigens auch mit Ihnen – vielleicht – zusammenhängt. Einen Tredup. Einen gewissen Tredup.«

»Tredup –? Dieses Schwein, das die Bilder verraten hat! Zu dem gehen Sie?!«

»Richtig! Zu dem gehe ich.« Gareis lächelt. »Er steht nämlich in dem Verdacht, die Bombe gelegt zu haben, in der Nacht, als Sie verhaftet wurden.«

»Der –?? Die Polizei – –«

Reimers kommt nicht weiter. Einer der Wachtmeister hat die Unterredung des Bürgermeisters mit dem Häftling unter steigender Mißbilligung angehört. Jetzt explodiert er fast: »Es ist verboten, mit den Gefangenen ohne Sprecherlaubnis zu reden. Gehen Sie weg!«

Der Bürgermeister strahlt: »Richtig, Sie sind ein pflichttreuer Beamter. Sagen Sie mal, hat Ihnen der da, der Katzenstein, auch seine Sprecherlaubnis vorgezeigt?«

»Das geht mich nichts an. Das ist ein Kriminalbeamter.«

»Richtig. Und ich bin der Vorgesetzte dieses Kriminalbeamten. Also –?«

Der andere Wachtmeister, da sein Kollege wortlos dasteht, beginnt: »Es ist etwas anderes. Herr Bürgermeister, verzeihen Sie, aber, nicht wahr, es ist doch etwas anderes? Die Form?«

»Richtig. Die Form. Und deshalb bitte ich Sie oder Ihren pflichtgetreuen Kollegen, sich einmal zu Herrn Direktor Greve zu bemühen und ihm zu melden, daß ich hier mit einem Untersuchungsgefangenen rede.«

Die Beamten sehen einander an, flüstern miteinander. Der Barsche entfernt sich. Unterdes hat sich der Bürgermeister längst wieder an den Gefangenen gewendet: »Und was war das für ein Disput, der gerade losging, als ich vorbeikam?«

Für den Gefangenen, der schweigt, antwortet Kriminalkommissar Katzenstein: »Herr Reimers sollte von mir zu einer Vernehmung in der Bombensache nach Stolpe gebracht werden. Er will nicht ins Auto.«

»Vernehmung in der Bombensache ist lächerlich. Ich soll nicht hier sein, wenn die Bauernschaft demonstriert.«

»Das glaube ich auch«, sagt Gareis bieder. »Man will Sie gerne von hier weg haben. Finden Sie das so dumm?«

»Nein, schlau sind die. Aber ich bin ebenso schlau.«

»Schließlich«, beginnt der Bürgermeister langsam, »könnte man Sie mit Gewalt abtransportieren. Hier sind viele, Sie sind einer. Sie könnten schreien, hier ist schon mehr geschrien worden. Es ist immer dumm, sich aussichtslos zur Wehr zu setzen, weil es zwecklos ist.«

»Aber man soll sich nicht fügen, man soll sich zur Wehr setzen.«

Plötzlich kommt Leben in Gareis: »Selbstverständlich soll man kämpfen, Herr Reimers. Kämpfen Sie um Ihren Hof, für die Bauernschaft, gegen den Staat meinethalben, wenn Sie müssen – das ist Kampf. Aber einer gegen zwanzig körperlich sich rumhauen – das ist Idiotie.«

»Ich gehe nicht weg«, sagt trotzig der Bauer.

»Natürlich gehen Sie weg«, sagt Gareis wieder sanft. »Natürlich gehen Sie. In diesem Gefängnis«, er sieht an den Mauern empor, »liegen achthundert bis tausend Gefangene. Am Montag ist Demonstration unter diesen Fenstern, Musikkapellen, Reden, Gebrüll – glauben Sie, Mann, ich bin ein Narr, das zu gestatten, damit achthundert Gefangene nächtelang toben, weinen, brüllen, sich verzweifelt raussehnen? Bloß weil es Ihre Eitelkeit kitzelt?«

»Ich bin nicht eitel.«

»Dann sind Sie dumm. Haben Sie geglaubt, unter Ihren Fenstern wird demonstriert?«

»Sie verbieten die Demonstration?!«

»Ich will Ihnen etwas sagen, Reimers. Man hat von zehn Seiten verlangt, daß ich diese Demonstration verbiete. Ich erlaube sie, weil ich euch Bauern kenne. Ich erlaube Sammlung auf dem Marktplatz, Marsch durch die Stadt, jedwede Rede in Ihrer Auktionshalle, aber – unter die Mauern dieses Gefängnisses stellt sich kein Bauer, dafür stehe ich Ihnen!«

»Sie werden sich nicht abhalten lassen. Sie werden doch kommen.«

»Sie werden nicht kommen. Ich werde am Montagmorgen verbreiten lassen durch die Stadt, daß Sie nicht mehr hier sind. Ganz gleich, ob Sie nun hier sind oder nicht.«

»Das ist eine Gemeinheit!«

»Eine Gemeinheit gegen Sie und eine Wohltat für siebenhundertundneunundneunzig. Seien Sie doch vernünftig, Mann, kämpfen Sie, schlagen Sie mich ins Gesicht, auch ich bin ein Bonze. Ich werde Sie wieder schlagen, ich werde gegen Sie ankämpfen. Aber seien Sie kein Narr. Seien Sie kein Flachkopf.«

Gareis steht noch einen Augenblick, als überlegte er sich etwas. Dann zieht er den Hut, drückt dem Bauern überraschend die Hand, sagt »Guten Tag, Herr Reimers« und geht auf einen Herrn zu, der vor einigen Minuten mit dem Wachtmeister in die Nähe trat und zuhörend stehenblieb.

Der Bauer sieht ihm einen Augenblick nach, dann zum Himmel hoch, dann auf die Gesichter um sich.

»Also fahren wir«, sagt er und steigt in den Wagen.

12

Gefängnisdirektor Greve und Bürgermeister Gareis schütteln einander die Hand, kühl und doch vertraut.

Der Direktor sagt lächelnd: »Wo Sie hinkommen, Herr Bürgermeister, schlichtet sich das Widerhaarige, das Unebene wird glatt. Nun, jedenfalls haben Sie mir einen großen Dienst getan, es wäre nicht angenehm gewesen, gegen den Mann Gewalt anzuwenden.«

»Wie macht er sich denn?«

»Gott, was soll man sagen, nach den paar Tagen! Alle diese Leute sind ja ein Problem. Behandelt man sie so oder so: allemal wird ein Märtyrer daraus. Also behandle ich sie gar nicht.«

»Und er ist nicht aufsässig?«

»Nein, noch nicht.«

»Und was werden Sie später mit ihm machen, wenn er erst verurteilt ist? Tüten kleben? Matten flechten? Netze stricken?«

Der Direktor zögert: »Ich weiß noch nicht. Es bleibt kaum was anderes.«

»Aber Sie haben eine Gartenarbeiterkolonne?«

»Ja, mein Lieber, aber da gibt es Vorschriften. Zur Gartenarbeit darf ich nur Leute abordnen, die mindestens ein halbes Jahr Strafhaft sich einwandfrei geführt haben. Gartenarbeit ist Belohnung.«

»Ich würde da ein Auge zudrücken.«

»Ich nicht. Ich danke, mein lieber Herr Gareis. Zu Anfang macht man in meinem Beruf mal Ausnahmen. Aber das läßt man rasch. Nicht nur, weil keiner dem andern so sehr Vergünstigungen mißgönnt wie der Gefangene selbst. Auch dem Wachtpersonal ist nichts recht und die sind die ersten, die bei der Vollzugsbehörde Klage führen. Grade auch Ihre Leute aus der Partei, Herr Bürgermeister.«

»Ja, gewiß. Es gibt immer Übereifrige. Dabei fällt mir ein ...«

Die Herren bleiben stehen. Gareis taucht in die Tasche seines Jacketts und holt ein Stück Papier hervor, einen Brief, wie sich zeigt.

»Das hat auch ein Übereifriger auf meinen Tisch gelegt, anonym natürlich, und es stammt aus Ihrem Haus, Herr Direktor.«

Der Direktor entfaltet den Brief. Es ist ein Schreiben auf den Vordrucken des Gefängnisses mit Zellennummer und Absendernamen. Absender ist der Untersuchungsgefangene Franz Reimers. Zelle U 317. Es ist kein unwichtiges Schreiben, nein, es ist ein Brief, der den Direktor sehr interessiert. Reimers gibt aus der Haft heraus einem gewissen Georg Anweisungen für die Demonstration am Montag. »Filmapparate, Geldsammlungen. Sich nicht schrecken lassen. Kalter Hohn. Wir müssen zur Macht, diese Regierung ist unmöglich.«

»Nun ja«, sagt der Direktor. »Dies ist auch als Brief nicht uninteressant. Interessanter ist freilich die Frage, wie dieser Brief statt auf meinen auf Ihren Schreibtisch kam.«

»Es scheint«, sagt der Bürgermeister, »ein Original zu sein. Den Empfänger hat der Brief also nicht erreicht. Sie müßten feststellen, Herr Direktor, wo dieser Brief in Ihrem Betrieb verschwand.«

»Er trägt keinen Zensurvermerk. Ist also nicht in die Büros gekommen. Entweder hat ihn ein Wachtmeister unterschlagen oder ein Gefangener hat ihn gestohlen. Es gibt viele Möglichkeiten. Leichter wäre es vielleicht festzustellen, wer ihn auf Ihren Schreibtisch legte.«

»Er kam mit der Post. In einem gewöhnlichen, an mich persönlich adressierten Umschlag. Heute morgen.«

»Und der Umschlag? Haben Sie ihn vielleicht auch hier?«

»Nein. Eine Schreibmaschinenschrift. Daraus ist nichts zu sehen.«

Eine Pause entsteht.

»Jedenfalls muß ich der Sache nachgehen. Es ist schon wieder eine bildschöne Schweinerei. Ich sage Ihnen, dieses ganze Haus, gedrängt voll Menschen, ist eine einzige Hölle von Lügen, Mißgunst, Verrat, Unzucht, Neid. Hier«, sagt er und lächelt trübe, »bessern wir die Gefährdeten.«

»Und Sie werden den Brief dem Empfänger noch zustellen?«

»Sicher. Da er unversehrt in meine Hände gelegt ist?«

»Es bleibt die Möglichkeit, daß der Dieb sich eine Abschrift nahm.«

»Was sollte er damit? Hat es viel Sinn? Empfänger ist ein Georg Henning auf Bandekow-Ausbau. Mir ganz unbekannt.«

»Ein Bauer«, rät der Bürgermeister.

»Sicher ein Bauer. Also es bleibt mir, Ihnen ein zweites Mal zu danken.«

»Sie können rasch mit mir quitt werden, Herr Greve. Ich habe den Wunsch, einen gewissen Tredup, der heute nacht ins Untersuchungsgefängnis eingeliefert wurde, einen Augenblick zu sprechen.«

Der Direktor verzieht sein Gesicht: »Sie wissen, Herr Bürgermeister, es liegt außer meiner Kompetenz. Untersuchungsgefangene dürfen nur mit Erlaubnis des Untersuchungsrichters gesprochen werden.«

»Es handelt sich um den Übereifer eines meiner Kriminalbeamten. Es ist ein Irrtum, den ich in zehn Worten aufklären kann. Es ist ein menschlich bedauerlicher Fall. Frau und zwei Kinder des Verhafteten vergehen vor Angst.«

Der Direktor: »Warum wenden Sie sich nicht an den Untersuchungsrichter?«

»Es lag außer meiner Kompetenz, Reimers zum Abtransport zuzureden, Herr Direktor. Es lag außer meiner Kompetenz, Ihnen diesen Brief zurückzubringen.«

»Ich weiß. Ich weiß. Ich bin Ihnen auch sehr dankbar.«

»Das ist ein Wort. Sie sind kein Mann der Redensarten ...«

»Nein. Aber Sie ahnen nicht, wie diese blödsinnige Bombe bis nach Berlin erregt hat. Rund um Ihren Tredup habe ich alle Zellen ausräumen müssen. Unter seinem Fenster steht ein Posten.«

»Sie könnten der Unterredung beiwohnen, Herr Direktor.«

»Nein. Auch dann nicht. Ich bin fest entschlossen. Es ist unmöglich. Nein.«

»Also, dann muß ich verzichten. Armer Tredup, er wird ein paar ungemütliche Tage verleben. – Und im übrigen, also auf Wiedersehen, Herr Direktor.«

»Auf Wiedersehen, Herr Bürgermeister. – Es tut mir leid. – Warten Sie, ich bringe Sie noch zum Tor.«

»Ich möchte Sie nicht bemühen, Herr Direktor.«

»Es ist mir wirklich keine Mühe, Herr Bürgermeister.«

13

In seinem Amtszimmer angekommen, setzt sich der Bürgermeister einen Augenblick in seinen Sessel und denkt nach. Er stützt den Kopf in die Hände und bewegt sich nicht. Das große Haus ist totenstill, Bürozeit längst vorbei. Er denkt nach, denkt nach.

Er hat Wünsche, Hemmungen. Er sieht die Szenen eben wieder vor sich: den Wortwechsel mit Reimers, dann kam der Greve. Der ist von oben gekommen, aus gutem Bürgerhause. Er selbst hat sich seinen Weg von unten bahnen müssen. Wer von unten kommt, darf nicht empfindlich sein gegen Schmutz.

Der Bürgermeister geht an einen Wandschrank, läßt das Wasser aus dem Leitungshahn in das Becken laufen. Er läßt es lange laufen. Das Geräusch tut ihm gut. Es schläfert seine Gedanken ein, er braucht nicht mehr nachzudenken.

Dann trinkt er ein Glas Wasser und nun geht er auf und ab, auf und ab, und denkt wieder nach.

Er hat nie bedingunglos an den Satz geglaubt, daß der Zweck die Mittel heiligt, heute meint er beinahe, daß er nie richtig ist.

Gleichgültig, er kann nicht mehr umlernen. Was schlimmer ist: er will es nicht mehr.

Er geht zum Telefon und greift nach dem Hörer.

Und hebt ihn nicht ab, geht wieder hin und her, lange, lange.

Der Himmel draußen vor den Fenstern wird durchsichtig grün und die Vögel lärmen nicht mehr in den Baumkronen.

Dann nimmt er den Hörer ab und verlangt eine Verbindung.

»Hier der Bürgermeister. – Ist Pinkus dort von der Volkszeitung? – Nein? Aber er kommt doch noch? – Schön. Sagen Sie ihm, er kann den Brief morgen bringen. Auf der ersten Seite. – Den Brief. – Jawohl. – Den Brief, er weiß schon. – Und er soll zu mir kommen in meine Wohnung, heute abend noch. – Ich will die Aufmachung mit ihm besprechen.«

Der Bürgermeister legt den Hörer zurück.

In seinem Amtszimmer ist es dunkel geworden.


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