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Sechstes Kapitel
Gareis der Sieger

1

Eine stille bedrückte Schar hockt am nächsten Morgen in den Räumen der Bauernschaft beieinander. Nicht im Redaktionszimmer, dort haust noch die Kriminalpolizei, sucht, liest, beschlagnahmt.

Oben im Korrektorzimmer sitzen sie, alles neue Gesichter, in der Nacht noch von Vater Benthin, den der verhaftete Padberg im letzten Augenblick heranrief, zusammengeholt: Bauer Biedermann, Bauer Hanke, Bauer Büttner, Bauer Dettmann.

Die alten sind fort, die alten sind alle im Gefängnis: Thiel und Padberg zuerst, dann Bandekow, dann Franz Reimers, dann Rohwer und Rehder.

Und drunten im Setzersaal warten die Linotypes auf Fressen, die Zeitung soll gesetzt werden. Das Land, durch die Morgenpresse benachrichtigt, wartet, was die Bauernschaft sagen wird.

Was sagt die Bauernschaft? Wer schreibt?

Wer schon schreibt, wer mit eilender Feder vor Papier hockt, Bogen für Bogen voll malt, das ist Georg Henning.

Mit dem Dusel der Abenteurer grade in dem Moment aus der Polizeihaft entlassen, da die andern alle verhaftet werden, fährt er mit dem ersten Morgenzug nach Stolpe, grade recht ins Schlamassel und nun sitzt er und schreibt.

Vater Benthin ist sehr bedrückt: »Was werden die Bauern sagen? Bomben werfen, das paßt sich nicht. Das durften die doch nicht. Die Leute werden sagen: nun haben Gareis und Frerksen doch recht gehabt.«

»Quatsch!« ruft Henning dazwischen. »Glaubt doch solchen Blödsinn nicht. Wer hat denn Bomben geschmissen? Thiel und Gruen! Sind das Bauern?«

»Aber der Padberg ...?«

»Red keinen Stuß, Vater Benthin. Davon verstehst du nichts. Erstens ist der Padberg auch kein Bauer, und zweitens ist er ganz unschuldig. Der weiß gar nichts. Dem haben sie hier ein stinkiges Ei in seinen Schreibtisch gelegt, die roten Brüder, die verdammten. Hört zu, was ich geschrieben habe. Feine Überschriften, die knallen nur so:

Riesenblamage der Polizei – Regierung will die unbequeme Bauernschaft abwürgen – Entlassener Finanzbeamter und geisteskranker Hilfswachtmeister als Bombenschmeißer – Der rote Gareis läuft um sein Leben – Aufruf von Franz Reimers an die Bauernschaft ...«

»Was, du hast einen Aufruf von Franz Reimers?«

»Natürlich habe ich einen – eben geschrieben.«

»Aber das geht doch nicht!«

»Warum geht das nicht? Ich weiß doch, was der Franz schreiben würde. Da ist es doch ebensogut, als wenn er es geschrieben hätte. Ich schreibe von den gemeinen Verdächtigungen. Daß unsere Bewegung rein ist, daß wir natürlich nichts dagegen machen können, wenn Außenseiter und Verrückte Bomben schmeißen.«

»Richtig«, sagen die Bauern.

»So ist das auch«, sagen sie.

»Wir verurteilen jede Gewalttat. Wir sind gegen jede Gewalttat. Wir beschmutzen unsere gute Sache nicht.«

»Das ist gut.«

»Da hat der Franz recht.«

»Und je mehr uns die Regierung verfolgt, um so fester stehen wir zusammen. Die Bluttat von Altholm bleibt unvergessen. Der Boykott dauert fort.«

»Gut. Richtig.«

»Ganz, als ob es der Franz gesagt hätte.«

»Laß das nur so drucken, das macht Ruhe im Lande.«

»Ja, die Bauern sind böse. Was kommen da ewig andere und mengen sich mit ihrem Dreck in unsere Sache?«

»Alles müßten wir Bauern allein machen. Keinen müßten wir brauchen.«

Der Büttner, ein kleiner Dicker, fast weiß so blond, mit kugligem Kopf, sagt: »Ja, mit dem Boykott ... Das wird nun auch schwer halten. Das bröckelt schon ab. Da sind manche ...«

Alle sehen ihn an.

Er wird verlegen: »Ich will ja nicht den Verräter machen. Aber bei uns hat Bartels eine Standuhr aus Altholm bekommen.«

»Bei uns hat auch einer Eier nach Altholm geliefert, an die Frau Manzow. Ins Haus hat er sie ihr gebracht.«

»Bei uns der Langewiesche hat seinen Kali in Altholm gekauft.«

»Halt!« schreit Henning. »Ich schreibe, daß die Acht gegen die Verräter mit zehnfacher Strenge durchgeführt wird. Und ihr Bauern, ihr sorgt mir dafür, daß sie durchgeführt wird!«

»Was können wir denn machen?«

»Wie sollen wir das denn anfangen?«

»Das will ich euch sagen. Sagt euern Söhnen und den Knechten, daß die sich was ausdenken, wie man die Boykottbrecher klein kriegt. Das macht denen Spaß, den andern das Leben zur Last zu machen.«

»Keine Knechte. Das Rackertügs wird immer frecher.«

»Gut, keine Knechte. Aber die Jungen müßt ihr nehmen. Und vor allem eure Frauen müßt ihr fragen. Die wissen bestimmt was.«

»Das kann angehen.«

»Und scharf müßt ihr sein, wie die Rasiermesser. Ihr sollt mal sehen, in jedem dritten Dorf ein geächteter Bauer, und immer feste davon geredet, immerzu allen erzählt, was ihr angefangen habt mit ihm – und der ganze Bombenquatsch ist vergessen. Alles backt wieder zusammen!«

»Da haben Sie recht.«

»Das kann angehen.«

»Ich weiß schon was, wie man dem Kantor mitspielt.«

»Also los an die Arbeit! Ich muß jetzt in die Setzerei.«

Auf dem Gang hält ihn noch einmal Vater Benthin an.

»Na, was ist denn noch, Vadder Benthin?«

Kummervoll betrachtet ihn der Alte: »Und du? Wie ist es denn mit dir? Du hast doch auch die Hände dreckig?«

Henning lacht. »Ich, Vadder Benthin? – Solchen wie mir passiert nie was, das siehst du ja.«

»Aber wenn der Thiel redet?«

»Alle verrät der Thiel vielleicht, mich nicht. Damals, ehe es losging, habe ich ihm geschworen, wenn er mich verrät, bring ich ihn um, Stück für Stück. In keinem Zuchthaus ist der vor mir sicher. – Und er weiß das, Vadder Benthin, er weiß das!«

»Aber die Polizei? Die muß doch darauf kommen?«

»Och, Vadder Benthin! Die kommt doch auf nichts. Und außerdem bin ich doch seit der Fahnensache ein Held. An mich gehen sie nicht ran. Die sind doch alle eigentlich rechts, die von der Kripo. Die haben noch was für Helden übrig.«

»Henning, Henning, wenn man dich so anhört, hast du immer recht. Aber ich weiß, du hast nicht recht, da hilft kein Reden. Seit ich dich kenne, schlafe ich schlecht. Und die rechte Freude am Leben ist auch weg. – Henning, Georg, versprich mir in die Hand, daß du ein anständiger Mensch bist.«

»Vadder Benthin, so wahr ich mal selig werden will, ich bin anständig.«

»Dann is ja gut, Jung. Geh, mach, an deine Arbeit, Jung.«

2

Die gemeinsame Sitzung von Stadtverordnetenkollegium und Magistrat ist vorbei. Oberbürgermeister Niederdahl hat sie eben geschlossen.

Als erster, fast während der letzten Worte des Oberbürgermeisters noch, ist Blöcker von den Nachrichten aus dem Saal geeilt. Er muß in seinen Gesangverein.

Sonst folgt ihm Stuff auf dem Fuße.

Diesmal bleibt er sitzen, noch benommen von dem Gehörten. Vergeblich versucht er, sich das Geschehene zu einem Bericht für morgen zu formen. Die Vehemenz des Angriffs von Gareis, die unglaubliche Blamage der Rechtsparteien, die nicht wegzuleugnende Schande aller bürgerlichen Fraktionsvertreter haben ihn ganz wirr gemacht.

Der kleine Pinkus von der Volkszeitung, dieser Kläffer der SPD, lächelt ihn schleimig an: »Sauer – was, Stuff?«

Stuff brüllt los, mit der Faust auf den Tisch schlagend: »Ob du stille bist, Abschreibling, verdammter!«

Der Kleine duckt sich.

Gareis tritt dazwischen: »Ich bitte Sie, meine Herren. – Pinkus, Sie sind still. – Bitte, Herr Stuff, kann ich Sie noch einen Augenblick sprechen ...?«

Und als Stuff auch ihn wütend anstarrt: »Wackerer Stuff ...«

Stuff geht schweigend mit ihm, durch das Gedränge der Stadtverordneten und Magistratsmitglieder. Dann über Gänge, mehrere Treppen zu Gareis' Zimmer.

Schon während der ersten zehn Schritte hat er den Mann neben sich, den Wortwechsel vergessen. Wieder ist er mit seinen Gedanken bei der deutschnationalen Interpellation, dieser Idee von ihm, die er durchgesetzt hatte, als ihn Gebhardt zum Schweigen verdammte.

Die Fraktion der Deutschnationalen ist in Altholms Parlament nur schwach vertreten: ein Dutzend Kriegervereine, das honette Bürgertum, der Stahlhelm, alle wackeren Hausfrauen zusammen haben nicht mehr als drei Vertreter entsenden können.

Aber drei Vertreter sind genug, eine Anfrage einzubringen, das ist es, was Stuff immer wieder Medizinalrat Dr. Lienau gepredigt hat. »Sämtliche Bürgerliche, Volkspartei, Demokraten, Zentrum, aber auch die KPD warten nur darauf. Gehen Sie vor.«

Nun, Lienau hat sich breitschlagen lassen. Stuff siegte, eine kurze Anfrage wurde gebaut: »Was gedenkt die Stadtverwaltung zu tun, um wieder normale Beziehungen zwischen Stadt und Land anzubahnen?«

In der Nacht vor dem Interpellationstage kamen die Verhaftungen. Die ganze Lage war verändert. Stuff selbst hatte berichten müssen von dem Angriff auf Gareis, der auf einer Wiese explodierten Bombe, von dem vorläufig unaufgeklärten Überfall auf einen Setzer in der Redaktion der Bauernschaft, von den Bauernverhaftungen.

Er hat Lienau beschworen, die Anfrage zurückzuziehen.

Der Stahlhelmmann hat abgelehnt: »Zurückziehen? So sehen wir aus! Wenn zum Angriff geblasen ist, wird angegriffen, ganz gleich, wie stark der Feind ist. Piepe ist mir das, wenn der Gareis jetzt plötzlich Sympathien hat!«

Aber der Held ist dann nicht erschienen: eine unaufschiebbare Operation hat ihm in letzter Stunde die Teilnahme an der Sitzung unmöglich gemacht.

Zwei Deutschnationale bleiben zur Begründung der Anfrage: der Notar Pepper und der Viehhändler und Schlachtermeister Storm, Mitglied vieler Kriegervereine.

Die Begründung war dem Schlachtermeister übertragen worden.

Er las sie ab, stotternd und stockend, von einem Bogen Papier, der wahrscheinlich mit der Arztklaue Lienaus bedeckt war. Er zerpflückte jeden Satz, holte bei den Kommas Luft und verachtete die Punkte.

Man hatte, je nach Parteirichtung, in stiller Freude, in einem peinlichen Verlegenheitsgefühl dieses Gestammel angehört.

Alle aber atmeten auf, als es vorbei war.

Bürgermeister Gareis hatte sich sofort zur Beantwortung der Anfrage erhoben. Er verteidigt sich nicht. Er verliest einen eben veröffentlichten Satz aus den Nachrichten: »Wenn, wie es den Anschein hat, tatsächlich die Bauernschaft den Bombenattentaten nicht fernstehen sollte, so erscheint der 26. Juli und das Vorgehen der Polizei in einem ganz anderen Lichte.

Ja, meine Herren, da haben Sie's. Wem die Ereignisse recht geben, der hat recht. Heute haben sie mir recht gegeben. Sie alle, die Sie hier sitzen, selbst der so behinderte Sprecher der Interpellanten, heute sind Sie zu innerst davon überzeugt, daß ich recht habe.

Aber warum? Nicht weil ich richtig gehandelt habe, sondern weil zufällig wieder mal eine Bombe geworfen werden sollte. Und heute habe ich doppelt recht, zehnfach recht, weil die Bombe auf mich fallen sollte.

Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, morgen kann eine neue Nachricht kommen. Morgen kann es sich herausstellen, daß es ein paar Abenteurer waren, die die Bomben warfen. Morgen kommt ein armer Verwirrter aus mir politisch nahestehenden Kreisen auf die Idee, eine Bombe in das Haus des Bauernführers Reimers zu werfen – gleich habe ich wieder unrecht.

Nein, meine Herren, ich danke! Ich soll Ihnen erzählen, warum ich das getan habe und jenes gelassen? Ich soll Ihnen begründen?

Aber Sie sehen ja, daß Gründe nichts sind, daß meine Motive wertlos sind, daß es hier um ganz andere Dinge geht.«

Er steht da, prachtvoll anzusehen, ein bösartiger Elefant, ein zürnender Lehrer, der über einer Schar verwirrter Lausbuben hockt.

»Ich danke! Ich danke!

Ich verzichte darauf, meine Rechtfertigung aus dem mißglückten Wurf eines Geisteskranken herzuleiten.

Sie, Herr Schlachtermeister Storm, haben mich gefragt, haben die Stadtverwaltung gefragt, was wir für die Anbahnung normaler Beziehungen tun wollen.

Ich, für meine Person, antworte Ihnen: ich gedenke zu warten. Das ist wenig, sagen Sie. Ich finde, es ist genug. Es ist alles, was man von einem Manne, der etwas beschicken möchte, verlangen kann. Ich werde warten.

Es wird sich noch mancherlei ereignen, bis der Friede zwischen Stadt und Land da ist. Ich werde noch zehnmal unrecht bekommen. Ich werde warten.

Was ich Ihnen empfehlen kann, ist das, was ich selber tun werde: schweigen und warten.«

Er setzt sich ganz plötzlich.

Schon sitzt er stille da, in seinem großen steifen Lederstuhl, die Hände über den Bauch gefaltet, immer weiß man nicht, lächelt das fette Gesicht.

Er hat ihnen die Zähne gezeigt.

»Ich danke, meine Herren ... Ich danke ...«

Sie sitzen atemlos. Dann kommt eine leichte Bewegung in den Raum. Auf der Tribüne lacht jemand.

Der Oberbürgermeister erhebt sich. Er fragt flüsternd, ob eine Aussprache gewünscht wird über die Interpellation. Falls ja, muß der Antrag von drei Stimmen unterstützt werden.

Der Oberbürgermeister setzt sich wieder.

Nun stehen zuerst einmal die beiden Deutschnationalen auf: sie wünschen also die Aussprache. Na ja, natürlich.

Sie halten Ausschau nach der dritten Stimme, alle halten Ausschau. Werden sich nicht alle Bürgerlichen erheben wie ein Mann? Ein dritter Mann wird gesucht!

Auch Stuff starrt fieberhaft. Das ist ja unmöglich. Ein Mann, nur ein Mann fehlt! Alle die Bürgerlichen ...

Ach, da wäre wohl so mancher, der gerne aufstünde. Aber der da im Ledersessel schon wieder pennt, das ist kein Gegner, mit dem man fechten kann, das ist ein wildgewordener Bulle, der keine Spielregeln kennt.

Der Oberbürgermeister wartet sehr lange. Eine sehr lange Weile stehen da: Notar Pepper und der Schlächtermeister Storm.

Dann erhebt sich der Oberbürgermeister Niederdahl und erklärt den Antrag für abgelehnt. Die heutige Stadtverordnetensitzung ist geschlossen.

3

Stuff steht, den Tod im Herzen, im Zimmer von Gareis. Der läßt ihm Zeit. Er packt sich Akten auf den Tisch, sieht einmal hoch nach dem Mann, der vom Fenster in den Septemberabend schaut, ohne etwas zu sehen. Gareis fängt an zu lesen.

Stuff seufzt schwer.

Und Gareis: »Warum seufzen Sie, Herr Stuff? Es sind eben Menschen.«

»Ja«, sagt Stuff bitter. »Das sind Menschen.«

»Lieber Herr Stuff, überschätzen Sie diese Stunde nicht. Ich bin im Augenblick oben. Wie lange noch, und auch ich werde wieder unten sein.«

Stuff sagt grob: »Das glauben Sie selbst nicht. Sie haben gesiegt.«

»Noch lange nicht«, sagt der Bürgermeister.

»Es war schändlich!« stöhnt Stuff.

»Es war schlechte Regie«, tröstete Gareis. »Wer betraut einen Fleischermeister mit so was? Und wer sichert sich nicht wenigstens eine Stimme im befreundeten Lager?«

»Ihre Regie klappte um so besser.«

»Sie irren. Auf niemanden ist ein Druck ausgeübt worden.«

Stille. Lange Stille.

Als lese der Bürgermeister die Gedanken von Stuff, sagt er: »Auch ich habe in den letzten Wochen viel daran gedacht, von Altholm wegzugehen. Nicht nur von Altholm, aus jeder kommunalen Tätigkeit überhaupt. Wer wirkliche Arbeit leisten will, bekommt den hemmenden Mist so über.«

»Ich möchte Ihnen etwas zeigen«, sagt Stuff plötzlich. »Lesen Sie einmal das.«

Es ist ein Brief, mit der Schreibmaschine geschrieben, ein anonymes Schreiben mit der Ortsangabe Stettin. Der sehr verehrte Herr Stuff wird darin von einer Freundin darauf aufmerksam gemacht, daß man Kenntnis hat von seinen Verfehlungen. Sie sind in Klammern gesetzt, diese Verfehlungen, und heißen: Verführung zum Meineid, Verleitung zur Abtreibung, Mithilfe bei Abtreibung. Es wird dem sehr geehrten Herrn Stuff geraten, das Feld seiner Tätigkeit von Altholm fortzuverlegen. Eine Frist von vier Wochen wird ihm zugestanden, andernfalls ... undsoweiter, undsoweiter.

»Wer?« fragt Gareis. »Wirklich eine Frau?«

»Es ist möglich, trotzdem ich es nicht glaube. Aber das würde nichts ändern.«

»Ja«, sagt der Bürgermeister und gibt den Brief zurück. »Ja.« Und plötzlich: »Warum gehen Sie nicht zur Bauernschaft? Dort ist Ihr Platz. Und dort sind jetzt freie Stellen nach den Verhaftungen.«

»Soll ich feige das Feld räumen?«

»Manchmal ist es sehr richtig, feige das Feld zu räumen.«

»Das tu ich nicht«, sagt Stuff. »Wenigstens bis zum Prozeß möchte ich noch hierbleiben. – Außerdem ließe mich Gebhardt nicht gehen.«

»Was nun das betrifft«, sagt der Bürgermeister langsam und spricht nicht weiter.

Stuff sieht ihn lange an. Ihre Blicke liegen fest ineinander.

Schließlich sagt Stuff: »Ach so. Na ja, dann freilich. Nun, ich habe das Gefühl, als wäre ich eben furchtbar naiv gewesen. Sie kennen vielleicht besser die Hand, die dies schrieb. Sie haben vielleicht ...«

»Halt!« sagt der Bürgermeister. »Halt!«

Stuff verstummt.

»Nicht für dies alles«, fängt der Bürgermeister in einem andern Tone an, »habe ich Sie heraufgebeten. Ich habe gestern in einer Sekunde äußerster Lebensgefahr Ihre Hilfe angerufen. Und ich habe dies mit Worten getan, die heute, nun, etwas ungewöhnlich klingen. Nicht wahr, Sie erinnern sich. – Ich habe den Wunsch, mit dem Mann, der mir zu Hilfe kam, nicht weiter in einem häßlichen Kleinkrieg zu leben.

Aber Ihre Stellung und meine, beide hier in Altholm, sind unverträglich. Ich bin bereit, aus Altholm fortzugehen. Wollen Sie lieber fort, so will ich Ihnen gerne behilflich sein. Es braucht ja nicht Stolpe zu sein, es gibt anderes wie die Bauernschaft. Über Berlin habe ich Beziehungen im Reich. Es würde keine SPD-Zeitung sein müssen, Herr Stuff. Sie blieben in Ihrem Anschauungskreis.

Was meinen Sie?«

Es ist fast dunkel im Zimmer.

Stuff sagt langsam: »Was ich letzte Nacht für Sie tat, Herr Bürgermeister, hat nichts mit Ihnen zu tun. Auch ohne jene ungewöhnlichen Worte wäre ich gekommen. Für jeden.

Aber Wahrheit um Wahrheit. Ich habe Sie einmal belogen. Hier in diesem Zimmer haben Sie mich eines Tages gefragt, ob ich etwas persönlich gegen Sie hätte. Ich habe das verneint.

Ich habe gelogen. Herr Gareis, ich muß Ihnen sagen, ganz deutsch und deutlich: ich kann Sie nicht ausstehen. Sie sind mir zuwider. Sie sind mir zuwider als ein Vertreter jener Schicht, die ich für den Verderb Deutschlands halte. Sie mögen noch so ernstliche Arbeit leisten wollen, Sie mögen es ehrlich meinen: Sie können das alles nicht.

Sie sind ein Bonze und Sie bleiben ein Bonze. Ihre Pläne, Ihre ehrlichsten Absichten werden stets von der Partei mitbestimmt und verfälscht, von einer Partei, die den Kampf gegen alle andern Schichten auf ihr Panier geschrieben hat.

Ich habe vor einer Stunde gesehen, wie Sie Ihren Gegnern ins Gesicht gespuckt haben, Sie waren hochmütig. Sie haben den armen vertatterten Schlächtermeister nicht geschont und Sie haben alle, alle verachtet.

Sind Sie wirklich besser als die?

Ich kann nichts für Sie tun. Ich kann Ihnen auch nicht aus dem Wege gehen.

Aber das sind alles keine Gründe. Ich will Ihnen sagen, ich bin hier in Altholm groß geworden. Damals lag noch Infanterie hier, ein ganzes Regiment. Wenn dann die Musik durch die Straßen zog, lief ich als Junge barfüßig daneben her. Ich versäumte jede Schule und das beste Essen, um dabei sein zu können. Später habe ich hier gedient.

Sie haben das zerschlagen. Ihre Partei hat Deutschland klein gemacht. Sie haben die Leute in den Schützengräben aufgeputscht.

Das sitzt im Blut. Das sitzt im Gefühl. Immer wenn ich Sie sehe, immer wenn ich Ihre Stimme höre, fühle ich es: der Bonze. Der dicke, fette, vollgefressene Bonze.

Ich hab's auch gestern nacht gefühlt, gestern nacht, als Sie auf der Erde lagen, zuerst habe ich gedacht: der Bonze.

Es ist nicht anders, Bürgermeister, ich kann Sie nicht ausstehen.«

Bürgermeister Gareis hat ihn ein paarmal unterbrechen wollen. Dann hat er geschwiegen.

Jetzt steht er auf und dreht am Schalter. Das Licht bricht ein in den dunklen Raum.

Er bietet dem andern die Hand: »Also, leben Sie wohl, Stuff.«

»Na ja, Bürgermeister, also dann! – Vielleicht bekehren Sie sich doch einmal zu uns?«

»Ich fürchte, es wird sich nicht machen lassen. – Guten Abend, Herr Stuff.«

»Guten Abend, Herr Bürgermeister.«

4

Der Bauer Bartels in Poseritz ist ganz ein üblicher Bauer. Er ist genau wie die andern Bauern in Poseritz, ist, wie seine und aller Bauern Väter und Großväter waren, und es steht anzunehmen, daß auch Söhne und Enkel und Urenkel nicht anders ausfallen werden.

Für die im Dorf aber ist er etwas sehr anderes, nämlich ein Verräter.

Eine sehr bäuerliche Eigenschaft ist ihm zum Verhängnis geworden: er ist ein bißchen genau. Genau, wenn es sich um das Ausgeben von Geld handelt, das ihm nicht direkt zugute kommt.

Die Sache, die ihn zu Fall brachte, war die:

Seine Frau ist eine geborene Merkel und die Merkels wohnen in Altholm. Zwei Brüder der Frau betreiben am Marktplatz in Altholm ein Uhrengeschäft.

Es war ausgemacht seit langem, daß Bartels seiner Frau zum Geburtstage eine Standuhr schenken sollte. Sie wünschte sich seit langem ein dunkles Eichending mit hellem Messingzifferblatt und Gewichten und einem Gongschlagwerk. Die Schwäger wollten ihm die Uhr zum Fabrikpreis lassen, das war sechzig Mark weniger, als solche Uhr in jedem Laden kostete.

Der Geburtstag kam heran und Bartels überlegte, was zu tun sei. Es war nicht so, daß er ohne Sinn und Verstand in sein Unglück taperte, er überlegte es sich gründlich vorher, er lag wach darum. Er wußte ja, der Boykott war erklärt, er war selber auf der Heide in Lohstedt dabei gewesen, aber sechzig Mark auf und ab ...

Eines Nachts im Bett fängt er an, mit der Frau darüber zu sprechen: »Ich liege hier und überlege, ob ich die Uhr nicht besser in Stolpe kaufe –?«

»In Stolpe?« fragt sie ganz verblüfft. »Die haben doch nicht solche Uhren.«

»Oder in Stettin.«

»Solche wie in Altholm der Hans und der Gerhard haben, gibt es nicht in Stettin.«

»Das ist doch eine Fabrik, die arbeitet doch nicht nur für deine Brüder.«

Sie verlegt die Sache auf ein anderes Gebiet: »Und du willst achtzig Mark mehr ausgeben?«

»Sechzig Mark. Das ist es ja, was mich quält.«

»Nach Stettin ist auch viel weiter zu fahren.«

»Vielleicht schicken die die Uhr?«

»Dann bezahlst du auch der Eisenbahn was. Und Verpackung. Sonst schlägst du sie in ein paar Pferdedecken ein.«

»Ich kann nicht mit den Pferden nach Altholm.«

»Es steht doch kein Aufpasser auf der Landstraße.«

»Wenn du nun warten würdest mit der Uhr? Nur einen oder zwei Monate?«

»Und was bekomme ich zu meinem Geburtstag statt dem?«

»Warten sage ich.«

»Und zu meinem Geburtstag soll ich gar nichts haben?«

»Du sollst ja die Uhr haben. Nur später.«

»Also zum Geburtstag gar nichts?«

»Du hörst doch!«

»Die Brüder können sie mit Gelegenheit doch irgendwohin schicken?«

Schließlich ist die Uhr am Geburtstag da. Der Bauer hat sie nicht aus Altholm geholt, sondern aus Stolpe. Die Uhrmacher hatten sie in ihrem Auto mitgenommen und in Stolpe abgegeben. Die Uhr war in Stolpe gekauft.

Es sollte nicht viel geredet werden um die Uhr. Sie steht da im Zimmer. Jetzt im Sommer zur Ernte kommt niemand zu Besuch. Die Frauen, die rasch einmal vorsprechen, bleiben in Küche oder Milchkammer oder im Garten. Stehen beim Schwatz, es ist hilde Zeit.

Aber die Uhr schlägt und die Besucherinnen horchen auf.

»Hast du eine neue Uhr? Die schlägt einmal lieblich.«

»Mein Mann hat sie in Stolpe gekauft. Zu meinem Geburtstag.«

»In Stolpe? Bist du schlecht mit deinen Brüdern?«

»Das nun nicht. Aber wegen dem Boykott.«

»So etwas hätte ich nicht getan. Was sollen deine Brüder denken? Verwandtschaft geht vor Feindschaft. Bei wem habt ihr sie denn gekauft?«

»Das könnte ich nun nicht sagen. Das hat mein Mann gemacht.«

»Hat er dir denn keinen Schein gegeben? Auf solche Uhren gibt es Scheine, daß man Reparaturen drei Jahre umsonst bekommt.«

»Den wird mein Mann in seiner Lade haben.«

»Ja so. Du kannst nicht einmal nachsehen?«

»Jetzt habe ich grade die Hände voll Erde.«

»Nein, natürlich. Es ist nur, weil wir uns auch eine kaufen wollen. Aber wenn du nicht kannst ...«

»Jetzt nicht.«

Es wird einmal gefragt, dreimal, zehnmal. Die Uhr hat einen so schönen Schlag, rein wie eine Orgel so sanft. Man will auch so eine haben.

Dann fragt man nicht mehr, man weiß Bescheid.

Nicht nur aus der kurzen Antwort der Bartelschen, nein, man weiß plötzlich, daß die Merkels im Auto nach Stolpe gefahren sind, im Posthorn haben sie die Uhr abgestellt.

Nun weiß man es und doch ereignet sich nichts. Bartels atmet auf.

Dann ereignet sich etwas: Die Uhr bleibt stehen.

Die Gewichte sind oben, aber die Uhr steht. Sie schlägt nicht, sie geht nicht.

Am Sonntag macht der Bauer den Uhrenkasten auf, es sieht alles ordentlich und blank aus. An einem großen Zahnrad ist ein Öltropfen ausgetreten, er zerwischt ihn gedankenlos zwischen den Fingern. Das Öl ist körnig, am liebsten möchte es knirschen, so viel Sand ist darin.

Der Bauer weiß Bescheid. Es wird ihm ein bißchen kalt. Die Uhr wird stehenbleiben müssen, an Reparatur ist jetzt nicht zu denken.

Aber der Bartels ist so, daß er am liebsten doppelte Gewißheit haben möchte oder zehnfache: am Abend geht er in den Krug. Es sitzen nicht viel Bauern in der Gaststube, drinnen im Saal wird getanzt. Das Gewusel von den jungen Leuten lieben die Bauern nicht. Aber sechs oder acht sind immerhin da.

Sie erwidern nichts auf seinen Gruß, sie stehen auf, lassen ihr Bier stehen und gehen fort.

Am Schanktisch steht eine Aushilfe, sie gibt ihm ein Glas Bier. Der Krüger kommt dazu, sieht wütend auf den Bauern und schmeißt das Glas zum Fenster hinaus auf die Steine im Hof.

Auch der Bauer schaut böse. Aber er hält das Maul und geht in den Tanzsaal.

Die Musik ist im Gange. Es ist noch früh, hauptsächlich sind Knechte und Mägde da. Die Bauernkinder kommen erst später. Die jetzt da sind, kennen ihn nicht so, ihnen ist es auch egal, sie sehen ihn an, sie sehen ihn nicht an, sie tanzen an ihm vorbei.

Er weiß bestimmt, der Krüger ist nicht in den Saal gekommen, auch der Aushilfskellner nicht. Doch schweigt plötzlich die Musik. Es wird ein leerer Kreis um ihn und der Kreis wird größer und größer. Die gehen hinaus zu den Saaltüren, zu den Saalfenstern, es ist leer um ihn, er steht allein.

Dann plötzlich geht auch das elektrische Licht aus, er tastet sich auf die Dorfstraße, sieht zurück: der ganze Krug liegt im Finstern.

»Es ist der erste Anfang«, denkt er. »Die machen es mit Gewalt. In einer Woche gibt es sich.«

Aber am Morgen weckt ihn die Frau: »Geh mal zu den Knechten. Da ist wieder kein Schwein aufgestanden. Die Kühe brüllen.«

Die Knechte sind in ihrer Kammer. Aber sie lassen sich nicht wecken, weil sie schon wach sind, sie verlangen ihre Papiere.

Er weigert sich und besorgt das Vieh selbst.

Um neun, er ist grade mit dem Melken durch, kommen die Knechte mit dem Landjäger. Er wird belehrt, er darf ihnen die Papiere nicht vorenthalten. Wenn sie ihm fortlaufen, kann er gegen sie klagen beim Arbeitsgericht, aber jetzt muß er sie gehen lassen.

Als er ihnen die Papiere gibt, stehen die beiden Mägde unten an. Keine halbe Stunde und er und seine Frau sind allein auf dem Hof.

Es ist kein ganz kleiner Hof: er hat vier Pferde, zweiundzwanzig Kühe, von dem Jungvieh, den Schweinen und dem Federvieh zu schweigen. Dazu die Ernte draußen auf dem Felde.

Das läßt sich nicht mit zweien beschicken.

Er schirrt schweigend an und fährt erst einmal die Milch in die Molkerei.

»Nimm deine Milch nur wieder mit. Die brauchen wir hier nicht.«

»Aber ich bin Genosse und dies ist eine Genossenschaftsmolkerei.«

»Sieh in den Vertrag. Bis acht hast du die Milch zu liefern. Jetzt ist es gleich zwölf. Fahr nach Haus mit deiner Milch.«

Er tut's. Er schüttet die Milch den Schweinen in die Tröge, so spart er das Futterrichten.

Die Frau geht verheult herum, einmal sagt sie leise: »Geh zum Büttner. Der hat's aus Stolpe mitgebracht.«

»Zu dem Hund? Nie!«

Am Nachmittag geht er.

Die Bedingungen, die ihm gestellt werden, sind grauenhaft: tausend Mark Geldbuße an die Bauernschaft, öffentliches Verbrennen der Uhr, und, was das Schlimmste ist, öffentlich hat er vor dem Dorf Verzeihung zu erbitten.

Öffentlich, alles soll dabei sein: Frauen, Kinder, Knechte, Mägde.

Nicht weit genug kann bekannt werden, wie einem geschieht, der mit Altholm paktiert.

»Es ist ja nur um eine Uhr. Und ich habe sie wirklich vor dem Boykott gekauft.«

»Eben, sonst hätte es dreitausend gekostet.«

»Die Bauern will ich bitten, aber vor allem Weibervolk ...«

»Vor allem Weibervolk.«

Er geht, er wird das nie tun.

In seinem Hof daheim ist Unruhe im Stall, das Vieh reißt an den Ketten, hat schon gespürt, daß nicht alles im Lote ist.

Die Pumpe, die Wasser geben soll zur Tränke fürs Vieh, zieht nicht. Er schraubt sie auf. Das Pumpenleder fehlt, am Morgen war es noch da. Die Pumpe zieht nicht.

Er könnte ein Leder schneiden, er hat eine gegerbte Rindshaut noch oben für Schuhsohlen, das mag gehen für einen Tag oder zwei. Er holt die Haut, schneidet los.

Dann wirft er das Ledermesser und die Haut hin. Geht ins Haus, legt die Uhr auf einen Karren und karrt sie durchs Dorf vor das Haus von Büttner.

Die Leute stehen vor den Häusern und starren ihm nach. Die Kinder hören mit Spielen auf und starren ihn an.

Am Abend auf dem Dorfplatz spricht er vor dem Kriegerdenkmal die Formel nach, die ihm Büttner vorspricht:

»Ich habe schlecht getan gegen die Bauern in Poseritz, schlecht habe ich getan gegen alle Bauern im Lande.

Das ist mir herzlich leid.

Ich bereue meine Schlechtigkeit, ich sehe meine Sünde an und will sie wiedergutmachen, ohne Zwang und ohne Bosheit.

Wer meines Nachbarn Feind ist, ist mein Feind. Ich kann nicht mit ihm an einem Tische sitzen, nicht handeln kann ich mit ihm, nicht Worte tauschen.

Daß ich so getan habe, das ist mir herzlich leid.

Ich bitte um Verzeihung alle Bauern von Poseritz, mit ihren Frauen, mit den Altenteilern, mit Kindern, Knechten und Mägden. Herzlich bitte ich alle um Verzeihung ...«

Der Wind geht in dem Pappelgeäst über dem Denkmal. Die Flammen von dem Feuer, in dem die verhängnisvolle Standuhr verbrennt, werfen ihren Flackerschein auf die Versammlung, auf das Rund, gebildet aus der Gemeinschaft eines kleinen Dorfes mit dreihundert Einwohnern, einer Zelle im großen Körper der Bauernschaft.

Der Bauer Bartels steht blaß da, eine Hand hält er auf dem Rücken, die andere vorgestreckt, hingehalten dem Gemeindevorsteher Büttner, der sie noch nicht nimmt.

Hinter Büttner steht Henning. Er denkt: »Dies wird es tun. Dies würde den Franz freuen. Es ist ganz seine Art. Und es wird ungeheuer wirken im Lande.«

In seiner Brusttasche knittert der Fünfzig-Markschein, erste Wochenrate des Bestraften.

Dann gibt Büttner dem Bartels die Hand: »Und angesichts der versammelten Gemeinde versicherst du, daß du ohne Haß bist, ohne Mißgunst, ohne Bosheit?«

»Ich versichere es.«

»Daß du freiwillig und ungezwungen zu uns gekommen bist, daß du deine Bosheit erkannt hast?«

»Ja.«

»So verzeihe ich dir namens der gesamten Bauernschaft. Was war, ist nicht mehr. Niemand soll dich daran erinnern, noch darum kränken.«

Als Bauer Bartels nach Hause kommt, sind die Knechte schon wieder im Stall, Licht brennt, sie streuen dem Vieh zur Nacht.

Er legt sich hin zum Schlafen. Ihm ist, als habe er eben böse geträumt.

5

Stuff und Tredup sitzen in der Redaktion einander gegenüber.

Stuff hat eben sein letztes Manuskript dem Setzerjungen gegeben und kramt in seinem Schreibtisch.

Tredup trägt in die Inseratenkartothek imaginäre Besuche bei den Kunden ein, mit dem immer gleichen Vermerk: »Abgelehnt.«

Seit einiger Zeit spricht Stuff nicht mehr mit Tredup, tut ganz, als ob der nicht da wäre.

Grade im Augenblick läßt er einen Gewaltigen streichen, murrt behaglich: »Bums büst buten!« und raschelt weiter mit seinem Papier.

Es ist blödsinnig heiß im Zimmer, ein paar Fliegen summen herum, und nun stinkt es auch noch. Tredup überlegt, ob er pro forma auf Annoncen los soll. Er könnte sich am Jugendspielplatz in die Büsche setzen und was lesen.

Stuff sagt laut und vernehmlich: »Scheißer!« und so herausfordernd tut er das, daß Tredup wider Willen hochsieht.

Stuff schaut ihn voll an, dann zu einem Brief, den er vor sich ausgebreitet hat. Tredup braucht nur flüchtig hinzusehen, er weiß schon, was das für ein Brief ist.

Er bezwingt sich und schreibt weiter in den Karten.

Aber den Stuff muß heute der Teufel reiten. Er ist unglaublich frech, mit schallender Stimme fängt er an, den anonymen Brief vorzulesen:

»Stettin, am 6. September.

Sehr geehrter Herr Stuff, wie ich in Erfahrung gebracht habe, sind meine beiden bisherigen gutgemeinten Warnungen erfolglos gewesen. Sie haben noch keine Schritte unternommen, um Altholm zu verlassen. Damit Sie wissen, daß mir alles bekannt ist: die Frau heißt Timm und wohnt in Stettin auf der Kleinen Lastadie, Hinterhaus, eine Treppe. Das Mädchen heißt Henni Engel und war damals Dienstmädchen bei Dr. Falk. Wenn Sie am 15. Oktober Altholm nicht verlassen haben, geht das Material an die Staatsanwaltschaft.

Eine wohlmeinende Freundin, die zum letztenmal warnt.»

Stuff hat ausgelesen und schnauft vernehmlich. »Scheißer!« sagt er wieder.

Tredup will nicht hochsehen und tut es doch. Stuff schaut ihn an und grunzt ihm voll ins Gesicht.

»Scheißer«, sagt er zum drittenmal. »Ja, dich meine ich, Tredup, glotz bloß nicht so blöde.«

Tredup hat das Gefühl, als müsse er sich irgendwie aufregen, empören, aber er bringt es nicht über ein schwächliches »Lächerlich« hinaus.

Stuff fährt ungerührt fort: »Glaubst du eigentlich, Jungchen, das geht dir alles so hin? Erst die Bilder und dann der Verrat hier und dann der Verrat dort? Glaubst du, ich weiß nicht, wie oft du aufs Rathaus läufst?

Denkst, du kannst dir alles erlauben?«

Stuff spuckt aus, lehnt sich weiter zurück und hält Tredup fest in der Zange.

»Sag mal, Jungchen, fühlst du nicht manchmal die berühmte Stelle am Hinterkopf, über die du schon vor netto einem Vierteljahr eins haben wolltest? Nee, nicht? Na, ich würde sie fühlen, würde sie verdammt fühlen.«

Stuff faltet den Brief gemächlich zusammen und steckt ihn wieder ein. Plötzlich fängt er an zu lachen, lauthals: »So ein dämliches Aas! Denkt, weil er vierzehn Tage im Kittchen war, er ist ein großer Ganove und kann erpressen. Der Arsch gehört dir versohlt, nach Noten, du Junge, du!«

Er steht schwerfällig auf und ist unvermittelt wütend: »Und das sage ich dir, Tredup, wenn du noch einmal die Frechheit hast, und tippst diese Briefe auf meiner Schreibmaschine, dann schlage ich dir einen vor deinen Brägen ...«

Tredup stammelt verwirrt: »Ich weiß nicht, was du willst. Ich verstehe das alles nicht. Du denkst doch nicht ...«

Aber Stuff hört gar nicht hin. Er hat den Hut vom Haken geangelt und sieht sorgenvoll auf seine Füße in den ausgetretenen Schuhen.

»Stinken. Wie alter Käse. Muß sie wirklich mal waschen«, murmelt er.

Dann wacht er wieder auf: »Soll ich deine Frau von dir grüßen, Tredup? Gehe jetzt zu ihr.«

Und ist schon fort.

Tredup bleibt zurück, den ganzen Bauch voll ohnmächtigen Zorns.

Dieses Schwein, der Stuff, nimmt die Briefe einfach nicht ernst. Liest sie offen vor, tut so, als wüßte er bestimmt, daß Tredup sie geschrieben. Und grade von diesem Briefe hatte Tredup sich soviel Wirkung versprochen. Welche Mühe hatte es gekostet (und auch Geld), die Adressen und Namen rauszukriegen. Stuff lacht einfach darüber.

Nun, wenn er dachte, es wäre nicht ernst, sollte er sich gewaltig täuschen. Wenn alle Stricke rissen, ging das Material einfach an die Staatsanwaltschaft. Dann sollte er schon sehen, was danach kam, dann war er wirklich erledigt.

Es quält ihn, ob Stuff wirklich zu Elise gegangen ist. Nach ein paar Minuten steht er auf und geht nach Haus.

Wenn nun Stuff der Frau alles erzählt!

Er geht nicht in die Stube, er geht nicht einmal auf den Hof.

Jenseits des Hofes stellt er sich hinter einen Fliederbusch.

Das Fenster zur Stube steht offen und drinnen sitzt wirklich Stuff auf dem Bett und spricht mit Elise.

Die beiden reden ganz ruhig miteinander. In der Hauptsache ist es natürlich Stuff, der quatscht. Wird ihn schon schön schlechtmachen. Und Elise nickt beifällig mit dem Kopfe, ein paarmal redet auch sie rasch und lange.

Tredup paßt auf, ob Stuff den Brief zückt, aber es geschieht nicht, solange er dasteht. Vielleicht ist das schon geschehen, ehe er kam.

Dann scheint das Gespräch zu Ende zu gehen. Stuff steht auf und die beiden treten ans Fenster, sehen hinaus. Tredup fährt ganz hinter seinen Fliederbusch zurück.

Als er wieder vorspäht, ist die Luft rein. Stuff ist fort und Elise sprengt auf dem Tisch Wäsche ein.

Auf seinen Gruß antwortet Elise ganz ordentlich und munter »Guten Tag«.

»Gibt es bald Essen?« fragt er und läuft im Zimmer hin und her.

»In einer halben Stunde. Wenn die Kinder da sind.«

Sie fragt gar nicht, warum er so früh kommt.

Er läuft auf und ab und sieht einen zerlutschten Zigarrenstummel im Aschenbecher.

»Wer war denn hier?« fragt er und hebt den Stummel hoch.

»Aber Herr Stuff. Das weißt du doch.«

»Weiß ich das? Wieso weiß ich das? Kommt Herr Stuff sooft zu dir?« fragt Tredup gereizt.

»Weil du hinter dem Fliederbusch gestanden hast«, sagt sie.

»Ich? Wieso?« stammelt er und wird rot. Diese Frau ist vollkommen unverständlich. Was in aller Welt hat Stuff erzählt?

Und nun tut sie plötzlich etwas ganz Überraschendes: sie läßt ihre Arbeit liegen, geht zu ihm und lehnt Wange an Wange.

Das ist in Wochen und Wochen nicht geschehen.

Er hält still. Ihre Haare kitzeln an der Schläfe.

»Wir wollen wieder gut sein«, sagt sie leise. »Wollen wir wieder sein wie früher, Max?«

Er ist vollkommen verblüfft. (Was hat Stuff erzählt?) Aber seine Hand findet sich in ihre.

»Herr Stuff ist doch ein guter Mensch«, sagt sie plötzlich.

»Ja? Meinst du?« fragt er und findet sich immer weniger zurecht.

»Er hat mir alles erklärt. Daß du noch krank bist von der Haft. Und daß wir dich schonen müssen. Ich war ja so dumm. Verzeih mir bloß, Max.«

»Das ist alles Quatsch«, sagt er brummig und will los von ihr. »Ich bin ganz gesund.«

»Natürlich bist du das«, sagt sie sanft und sieht ihn an.

»War der Stuff hier, um dir diesen Quatsch zu versetzen?«

»Aber er hat mir doch gesagt, daß du zum ersten Oktober Redakteur wirst. Daß es sicher ist. Hattet ihr das denn nicht abgemacht?«

»Ja. Ja«, sagt Tredup gedankenlos. »Das hatten wir abgemacht.«

Und innerlich: »Also haben die Briefe doch gewirkt! Schweinerei von ihm, mich so zu erschrecken. Was der für eine Angst haben muß, wenn er zum ersten Oktober kampflos geht.«

Aber er kann sich nicht recht davon überzeugen, daß Stuff aus Angst geht. Es hat nicht so ausgesehen, vor einer halben Stunde.

Er fragt: »Hat er das wirklich gesagt? Ganz bestimmt?«

»Es ist bestimmt, sagt er, weil er die neue Stellung schon am ersten Oktober antreten muß. Wir dürfen nur noch mit keinem davon reden.«

»Nein, natürlich nicht«, sagt Tredup. Er möchte sich freuen, er hat ja nun gesiegt, aber wie hat Stuff doch gefragt: fühlst du gar nicht mehr die Stelle am Hinterkopf?

Er fühlt sie wieder.

Stuff will ihn in eine Falle locken.

»Hat er nicht gesagt, wohin er geht?«

»Nein. Dir hat er es also auch nicht gesagt?«

»Nein.«

»Und dann verdienst du sicher mindestens hundert Mark mehr. Siehst du, wie recht es war, daß ich den kleinen Butzer drinnen behalten habe?«

»Ja«, sagt er. »Ja.«

»Komm, gib mir einen Kuß, Max.«

Sie bietet ihm die Lippen.

Er küßt sie und denkt: »Falle. Falle. Ich muß viel vorsichtiger sein.«

6

An einem hellen sonnigen Septemberabend betritt Oberinspektor Frerksen zum ersten Male wieder das Büro seines Chefs.

Bürgermeister Gareis sitzt hinter dem Schreibpult, dick wie nur je. Er winkt lächelnd mit seiner fetten, kurzfingrigen Hand zum Gruße.

»Da sind Sie ja wieder, Frerksen. Entschuldigen Sie, daß ich Sie telegrafisch zurückrief. Ich dachte, Sie seien nun lange genug fort. War es schön im Schwarzwald?«

Frerksen verbeugt sich: »Jawohl, Herr Bürgermeister.«

»Mal raus aus dem ganzen Dreck, was? Ein ganz anderer Mensch geworden. Braun sind Sie und solch ein energischer Zug ums Kinn. Oder haben Sie den schon früher gehabt? Na, jedenfalls müssen Sie jetzt ran an die Arbeit. Ich will nun endlich auch ein bißchen in Urlaub.«

Frerksen lächelt höflich.

»Erinnern Sie sich, damals am sechsundzwanzigsten Juli wollte ich schon einmal in Urlaub. Packte die Koffer. Nun ist es September geworden. Der Sommer ist glücklich vorbei.«

»Wollen Herr Bürgermeister noch immer zum Nordkap?«

»Um Gottes willen! Bin ich Eisbärenjäger? Ich gehe lieber in meine Heimat, sehe mir die alten Dörfer wieder an, schwelge in Sentimentalitäten. – Nun, während Sie fort waren, hat es hier etwas Luft gegeben, es ist stiller geworden, reinlicher. Aber eine Nachricht kommt jetzt doch noch, die kann ich der Stadt nicht schenken. Morgen früh geht sie an die Presse. Bitte.«

Und Gareis reicht ihm ein Blatt.

»Polizeioberinspektor Frerksen hat mit dem heutigen Tage, von seinem Urlaub zurückgekehrt, die Dienstgeschäfte der Polizeiverwaltung wieder übernommen, und zwar in vollem Umfange, da er durch Verfügung des Herrn Ministers des Innern wieder in den Polizeiexekutivdienst eingesetzt worden ist. Das gegen ihn seinerzeit angestrengte Verfahren ist eingestellt.«

»Nun, Mann, was sagen Sie jetzt?«

»Das ist – angenehm«, murmelt der Oberinspektor.

»Unsinn. Mensch, Frerksen, freuen Sie sich gefälligst! Das ist unser Sieg, Ihr Sieg vor allem. Was denken Sie, was der Herr in Stolpe heute tobt? Vor ein paar Wochen stellt er Sie kalt. Nun, ich habe ein bißchen gearbeitet unterdes, und der Erfolg war, daß der Herr Minister den kalten Topf wieder aufs Feuer rückte. Sie haben alle Ursache, sich zu freuen.«

»Jawohl, Herr Bürgermeister.«

»Ich sehe«, sagt der Bürgermeister veränderten Tones, »daß Sie kindisch sein wollen, Herr Frerksen. Der Herr Oberinspektor belieben, mit mir zu schmollen.«

»Herr Bürgermeister, ich bitte ...«

»Bitten Sie nicht. Da Sie Altholmer Zeitungen gelesen haben werden, könnte es Ihnen ja mittlerweile klargeworden sein, daß ich Ihnen in jener Abschiedsstunde die Säbelgeschichte vorwarf, um Ihnen die sehr viel schärferen Mißbilligungsworte des Regierungspräsidenten zu ersparen. Es ist Ihnen also nicht klargeworden. Sie schmollen.

Sie dürfen mit mir böse sein, so lange und soviel Sie wollen. Das ist gleichgültig. Ich warne Sie nur, in einer Stimmung der Verärgerung Schritte zu tun, Verhandlungen anzuknüpfen – wir verstehen uns schon.«

»Ich bitte Herrn Bürgermeister versichern zu dürfen, daß ich nicht schmolle.«

»Erzählen Sie keine Märchen. Jetzt tut es Ihnen natürlich schon wieder leid. Der Zug von Energie ums Kinn war Täuschung. – Mit mir haben Sie zu arbeiten, Frerksen, lange noch, und ich bin hier der einzige Mensch, der Sie hält. Der ein Interesse daran hat, Sie zu halten. Wenn Sie andern mehr glauben wollen als mir, bitte. Sie sollten eigentlich was aus Ihren Erfahrungen gelernt haben.«

Des Oberinspektors Gesicht ist gerötet. Er flüstert: »Ich bin wirklich nicht böse. War es auch nicht.«

»Reden Sie nicht. Sie haben mir nicht die Hand gegeben. Sie haben sich nicht gesetzt wie früher. Sie haben nicht piep gesagt. Sie waren steif wie ein Plättbrett. Mit einem Wort: Sie haben gemuckscht. Aber lassen wir das jetzt. Sie werden ungestört durch mich bis Anfang Oktober Zeit haben, sich über unser Verhältnis klarzuwerden. Ich komme erst zu Beginn des Prozesses wieder. Guten Abend, Herr Oberinspektor.«

»Guten Abend, Herr Bürgermeister.«

7

»Piekbusch«, sagt Gareis zu seinem Sekretär, »wenn ich jetzt weg bin, nehmen Sie mein Zimmer unter Verschluß. Reingemacht wird nur, wenn Sie dabeistehen, verstanden?«

»Jawohl.«

»Sie drehen alles um. Räumen den Schreibtisch aus, manchmal klemmt sich so ein Blatt auch fest. Sie sehen jeden Akt durch, der in den letzten Monaten in meinem Zimmer gewesen ist, bis Sie den Geheimbefehl haben.«

»Das habe ich alles schon getan.«

»Dann tun Sie es eben noch mal und gründlicher. Hier werden doch keine Akten geklaut, nicht wahr?«

»Diese Bauern ...«

»Quatsch. Bauern klauen keine Akten. Kein Bauer wird in seinem Leben begreifen, daß beschmiertes Papier wertvoller sein kann als weißes. Also Sie finden den Befehl.«

Piekbusch bewegt die Schultern.

»Sie finden ihn! Sie finden ihn!! – So, und jetzt Adieu.«

»Zum Ober?«

»Dem«, flüstert der dicke Bürgermeister augenrollend, »gebe ich was zu husten.«

Vorläufig ist er aber wie Öl zu ihm, dem Oberbürgermeister Niederdahl.

Niederdahl ist ein sanfter, leisetrittiger Mann, etwas sehr gelb in jedem Sinne, mit Nerven. Er lächelt leise, er flüstert nur, sein Ideal ist, die Geschicke der Stadt zu leiten, ohne daß man ihn überhaupt merkt.

Er hat, neben dem aktiven lauten Gareis, bisher nur erreicht, daß man ihn überhaupt nicht merkt, die Leitung selbst ist ihm noch nicht gelungen.

Gareis macht kurze Meldungen über den Stand der einzelnen Geschäfte. Der Ober hört schweigend zu, beschränkt sich auf die Zwischenfragen: »Es gibt einen Akt darüber, nicht wahr?«

»Darüber ist doch ein Vermerk gemacht, nicht wahr?«

– Was Gareis mit einem gleichgültigen »Ich denke doch« erledigt.

»Was nun die Geschäfte der Polizeiverwaltung angeht«, fährt Gareis fort, »so führt sie in meiner Abwesenheit wie immer Stadtrat Röstel. Neues liegt nicht vor. Oberinspektor Frerksen weiß über alles Bescheid.«

»Frerksen ist nicht mehr in Urlaub?« flüstert Niederdahl.

»Er nimmt morgen früh seine Geschäfte wieder auf«, lächelt unbekümmert Gareis.

»Wäre es nicht mehr im Interesse der allgemeinen Beruhigung gewesen, ihn bis nach dem Prozeß in Urlaub zu lassen?«

»Im Interesse des Ansehens der Polizeiverwaltung lag es, ihn wieder auftauchen zu lassen.«

»Aber er kann keinen Exekutivdienst machen.«

»Er kann es. Eine Verfügung des Ministers des Innern hat die Verordnung des Regierungspräsidenten aufgehoben.«

Der Oberbürgermeister sieht seinen Bürgermeister an. Selbst das Weiß in den Augen von Niederdahl ist gelb.

Plötzlich kreischt Niederdahl auf. Seine weißen Händchen mit dicken blauen Adern, aus untadeligen Manschetten kommend, trommeln auf den Tisch.

»Der Akt! Der Akt!« schreit er. »Der Geschäftsgang! Der Instanzenweg! Warum hat mir der Akt nicht vorgelegen?«

»Es ist noch gar kein Akt da«, sagt Gareis faul. »Ich hab heut telefonisch vom Ministerium des Innern Bescheid bekommen. Die Verfügung kommt morgen früh mit der Post.«

»Telefonisch! Das ist kein Geschäftsgang. Alle Verfügungen gehen erst an den Bürodirektor. Dann an mich. Dann an Sie. – Dann an Sie, Herr Gareis. – Dann an Sie!»

»Aber ich war telefonisch verlangt, nicht der Bürodirektor.«

»Telefonisch ist nicht. Telefonisch gilt nicht. Ein Spaßvogel kann Sie anrufen. Und Sie haben's dem Frerksen schon eröffnet?«

»Habe ich.«

»Das geht nicht. Das ist unmöglich. Was ist das? Wo kommen wir hin mit diesen Methoden? Und der Präsident?«

»Wird husten, nehme ich an«, sagt Gareis kühl und betrachtet sein Opfer.

»Ihre Politik isoliert uns. Altholm ist allein. Was ist ein Minister? Ein Dreitagegewächs. Wollen Sie auf Minister Kommunalpolitik machen? Stolpe, Stolpe, da liegt unser Gewicht.«

Grausam sagt Gareis zu dem Erregten: »Soll ich Ihre Eröffnungen dem Minister mitteilen?«

Der Oberbürgermeister ist plötzlich still. Er entfaltet ein weißes Taschentuch, trocknet sein Gesicht. Als er wieder auftaucht: »Verzeihen Sie, Herr Kollege! Sie wissen, meine Nerven, meine Galle. Ich bin ein kranker Mann. Die Sorgen ...«

»Die Sorgen überlassen Sie nur mir. Mein Buckel ist breit.«

»Ja. Ja. Sie sind gesund. Beneidenswert. – Und Sie meinen, der Bescheid des Ministers kommt morgen?«

»Bestimmt.«

»Wie das wieder in Stolpe anstoßen wird! Wir hätten Herrn Frerksen im Innendienst beschäftigen können. Wir hätten ihn zum Bürodirektor gemacht.«

»Er ist ganz gut als Polizeimensch.«

»Aber der Anstoß. Man muß Opfer bringen.«

»Diesmal nicht. – Ich gebe eine kurze Notiz über seine Einsetzung an die Presse.«

»Geht es nicht so? Wenn die Leute ihn in Uniform sehen, wissen sie doch auch so Bescheid.«

»Seine Entsetzung war in der Presse, also auch seine Einsetzung.«

»Aber nicht, ehe der Bescheid da ist.«

»Na schön, ich werde den Zeitungsleuten sagen, daß sie es nicht vor übermorgen veröffentlichen dürfen.«

»Ich würde vorziehen, daß ich selbst der Presse die Notiz gebe, wenn es soweit ist.«

»Sofort, wenn es soweit ist, Herr Kollege.«

»Selbstverständlich. Sofort, wenn es soweit ist.«

8

Der Bürgermeister sagt zu seinem Sekretär: »Hören Sie mal, Piekbusch, haben Sie nicht einen Vetter oder so was, der jeden Abend nach Stolpe fährt?«

»Jawohl. Den Dreher Maaks.«

»Lassen Sie den heute abend mal drei Briefe einstecken in Stolpe.«

»Gut.«

»Wissen Sie noch die Notiz, die Sie wegen Frerksen für die Zeitungen getippt haben?«

»Ja, natürlich.«

»Der Ober hat darüber gehustet, will sie selber an die Zeitungen geben. Da können wir lange warten, wenn ich erst fort bin.«

»Denke ich auch.«

»Tippen Sie mal so 'ne Notiz, dreimal, auf neutralem Papier. So ein bißchen andersrum, verstehen Sie: wie wir von bestunterrichteter Seite erfahren und so weiter. In drei neutralen Kuverts an unsere drei Blätter. Kein Absender.«

»Schön. Wird gemacht.« Pause. »Woher aber das Porto nehmen? Das ist doch nichts Dienstliches.«

»Wollen Sie nicht, muß ich. Wieviel?«

»Fünfundvierzig Pfennige.«

»Da. – Nach den nächsten Wahlen laß ich mir nun aber wirklich einen schwarzen Fonds bewilligen. Ich seh immer mehr, daß die Minister, und nicht nur die, wirklich einen brauchen.«

 

Am nächsten Morgen ruft Herr Oberbürgermeister Niederdahl erst einmal den Herrn Regierungspräsidenten an.

...

»Ja, die Bestätigung des Ministeriums ist heute wirklich eingegangen.«

»Wir haben hier noch nichts. Ich finde das ... Ja, Herr Niederdahl, das sind unsere Freuden, das ist die Pflege der Staatsautorität heutzutage.«

»Herr Präsident hätten sehen sollen, wie der Gareis Befriedigung schwitzte.«

»Nun, am Ende bedeutet auch die Entscheidung des Herrn Ministers nichts. Das Gerichtsurteil im Prozeß, das entscheidet.«

»Aber wenn es gegen die Polizei ist, ist es für die Bauern!«

»Das denkt man. Aber es kann gegen die Bauern sein und doch gegen die Polizei.«

»Gewiß. Gewiß. Es wird sich ein Weg finden lassen. – Und die Pressenotiz?«

»Welche Pressenotiz? Ach so, wegen Frerksen? Natürlich Papierkorb. Wir werden das den Leuten doch nicht noch erzählen!«

»Immerhin gebe ich zu bedenken, Herr Präsident, daß man auf der andern Seite vielleicht vorgesorgt hat ...«

»Wieso vorgesorgt?«

»Die Presse inoffiziell benachrichtigt.«

»So rufen Sie eben die paar Blätter mal an. Den Gefallen werden die Ihnen doch noch tun, Herr Niederdahl.«

»Gewiß. Natürlich. Unzweifelhaft.«

 

»Hier das Sekretariat von Oberbürgermeister Niederdahl. Herr Oberbürgermeister möchte Herrn Redakteur Stuff sprechen. –

Selbst? Einen Augenblick, ich verbinde.«

»Ja, mein lieber Herr Stuff. Guten Morgen. Sie werden ja als gewitzter Pressemann längst raushaben, daß unser viel befehdeter Oberinspektor seit heute früh wieder in Uniform herumläuft. Nicht wahr? Dacht ich mir doch. – Richtig, eine Entscheidung des Herrn Ministers, aber eine noch nicht endgültige Entscheidung, das letzte Wort spricht ja das Gericht im Oktober. – Nein, gewiß. Eine bestimmte Seite, ich brauche Ihnen ja nichts Näheres zu sagen, hat natürlich Interesse daran, daß diese Entscheidung des Herrn Ministers möglichst aufgebauscht wird. – Nein, wir, vor allem Sie haben doch kein Interesse. – Ja, es muß jetzt mal Ruhe sein. – Also, ich verlasse mich darauf, Sie bringen nichts. Ihr Kollege von den Nachrichten hat auch bereits zugesagt. Danke verbindlichst. Guten Morgen, Herr Stuff!«

Stuff lauscht noch einen Augenblick, den Hörer in der Hand. Dann legt er ihn hin, freundlich lächelnd.

»Hast du zugesagt, Freund Heinsius? Wedelst mal wieder Schweif? Nu ja ja, nu nee nee. Niederdahl, du bist ein guter Mann, aber zu sutje, zu sutje.

Fritz«, brüllt er mit Donnerstimme.

Der Setzerlehrling erscheint.

»Fritz, die Notiz über den Frerksen fliegt raus aus dem Lokalen. Die Spitze über das Orgelkonzert rückt an zweite Stelle. Sag Bescheid, ich schreib über den Frerksen einen ganzen Riemen. In zehn Minuten holst du ihn.«

»Die Überschrift«, denkt Stuff, »die Überschrift muß es tun. Denn eigentlich weiß ich nichts. Wie wäre es:

Schwere Differenzen zwischen Innenministerium und Regierungspräsidium –?

Flau.

Oder?

Polizeioberinspektor Frerksen, vom Regierungspräsidenten entsetzt, vom Minister wieder eingesetzt –?

Viel zu lang. Drei Worte, Mensch, Stuff.

Ich werde einen Cognac trinken gehen.«

Im Cognac fand er den Titel:

»Minister billigt den Polizeiterror.«

Und den Untertitel:

»Bauern sind rechtlos.«

Stuff grinst.

»Hören Sie, Fräulein Heinze, wenn heute nachmittag nach mir angerufen wird: ich bin verreist. Ich bin in Urlaub. Mich kann man im nächsten Jahr nicht sprechen.«

 

Herr Gebhardt fragt streng: »Wie weit sind Sie nun, Herr Tredup?«

»Stuff geht bestimmt am ersten Oktober.«

»Sie sagen das. Mir hat er nicht gekündigt.«

»Bestimmt. Vielleicht will er erreichen, daß Sie ihn rauswerfen?«

»Den Gefallen tu ich ihm nicht. Daß ich ihm noch ein halbes Jahr Gehalt zahlen muß!«

»Der heutige Artikel«, bemerkt Herr Heinsius, »wäre Grund genug zu fristloser Entlassung.«

»Daß die ganze Stadt erfährt, meine Angestellten tun, was sie wollen. Danke nein. – Sind Sie aber auch sicher, Herr Tredup?«

»Ganz sicher.«

»Wieso eigentlich? Wollen Sie das nicht mal erläutern? Was haben Sie getan? Was haben Sie für einen Druck auf Stuff ausgeübt?«

»Ich möchte wirklich nicht ... er geht doch bestimmt.«

»Geheimnisse meiner Angestellten. Hübsch. Sehr hübsch. – Für heute wäre das alles, Herr Tredup.«

 

Stuff sitzt in seinem stillen Winkel im Tucher und trinkt.

Kommt ein Bürger, der Lokomotivführer Thienelt: »Das hättest du nicht tun müssen, Stuff.«

»Was denn?«

»Das mit dem Artikel heute. Nun war alles so schön ruhig.«

»Seit wann ist denn der Stahlhelm für Ruhe?«

»Man muß auch mal still sein können. Die Geschäfte gehen doch so schlecht, Stuff.«

»Na, das nächste Mal laß ich Ruhe.«

Kommt Textil-Braun: »Hier sitzen Sie also, Herr Stuff. Ich habe Ihnen die Mißbilligung des Einzelhandels von Altholm auszusprechen. Sie müssen jetzt Ruhe halten.«

»Ich trinke mein Bier in aller Ruhe.«

»Es war nun alles so schön still, Sie müssen auf die Geschäfte Rücksicht nehmen.«

»Tu ich. Tu ich. Ich laß mein ganzes Geld in der Kneipe.«

Braun giftig: »Mit Ihnen ist mal wieder nicht zu reden, Herr Stuff. Aber in den Abonnentenziffern, in den Abonnentenziffern wird es sich auswirken.«

Der Ober sagt zu Stuff:

»Die schimpfen alle über Ihren Artikel. Der Artikel ist doch fein.«

»Wieso fein? Mist ist er.«

»Er liest sich aber fein.«

»Franz, ich geb Ihnen doch keinen Pfennig Trinkgeld mehr. Mir brauchen Sie doch nicht in den Arsch zu kriechen.«

»Nee, nee, Herr Stuff. Tu ich auch nicht. Mir gefällt er wirklich ganz gut. Aber nun hatten die Leute schon wieder was anderes geredet wie vom Boykott. Und plötzlich geht es heute überall: die Bauern, die Bauern.«

»Na – und?«

»Wenn die Leute davon reden, ärgern sie sich, Herr Stuff.«

»Warum sollen die sich nicht auch mal ärgern? Ich muß mich jeden Tag ärgern.«

»Sie sind es gewohnt, Herr Stuff. Aber Sie sollten sehen, wieviel Schnaps heute getrunken wird. Immer wenn sich die Leute ärgern, trinken sie mehr Schnaps als Bier.«

»Ich trinke zu jedem Bier meinen Schnaps. Und oft zwei.«

»Das ist es, was ich sage. Sie sind es gewöhnt, Herr Stuff. Aber die Leute sind es nicht gewöhnt. Die wollen ihre Ruhe haben.«

»Na schön, Franz, ich will meine jetzt auch haben.«

»Jawohl, Herr Stuff. Noch einen Schnaps? Sofort!«

»Ich scheine«, sagt zufrieden Stuff, »die Psyche ganz Altholms schwer verletzt zu haben.«


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