Max Eyth
Der Invalide
Max Eyth

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VI.

Albrecht kam zum letztenmal von seinem Bureau. Seine Geschäfte in Nußweiler waren beendigt. Die Eingabe wegen Hirschfeld war gemacht. Er konnte zu jeder Stunde bis auf weitere Verfügung Urlaub haben. Noch vor wenigen Tagen hätte er keinen Augenblick gezaudert und Ware fröhlich in die weite Welt hinausgewandert. Heute hielt ihn etwas zurück, das er niemand erklären konnte.

Er trat in das Gärtchen hinter dem Haus seiner Mutter. Ein drückendes Gefühl hatte ihn beschlichen, das um so peinlicher war, je weniger er sich Rechenschaft davon geben konnte. Sein Schritt war langsamer als sonst. Die Mutter kam ihm nicht entgegen. Dafür hörte er eine fremde Stimme in der Laube. Einen Augenblick überflog sein Gesicht ein brennendes Rot, sein Atem stockte. »Phantasie! Unsinn!« murmelte er dann vor sich hin und trat rasch auf die Hütte zu.

Neben seiner Mutter saß, über eine Stickerei gebeugt, ein Mädchen mit einem üppigen, blonden Lockenkopf. Es konnte niemand anders als Agnes sein. Wieder stieg der Trotz in ihm auf wie bei jenem Besuch bei Oberamtmanns. Die Mutter begrüßte ihn. Das Mädchen fuhr unmerklich zusammen und nickte, kaum aufsehend.

Er trat ein.

»Setz' dich«, sagte die Mutter. »Da steht Butterbrot. Wir sprachen von Rußland, Albrecht.«

»Ein düsteres Gespräch«, sagte der Jüngling, »wenn du den Feldzug meinst. Mein Vater hat dort manches seiner Lebensjahre gelassen.«

»Und der meine das Leben!« sagte Agnes kaum hörbar.

Sie sagte etwas, was Albrecht seit seinem vierten Jahre wußte. Heute zum erstenmal berührte ihn ein Unglück, das viele Tausende teilten, mehr als sonst.

»Ich habe Agnes versprochen, ihr einen Brief zu zeigen, den ich vom Vater von Breslau aus erhielt«, sagte Frau Wolfbach. »Ich fand ihn vor einigen Tagen wieder. Er wird auch dich interessieren, denk' ich.«

Sie stand auf. Albrecht hatte von diesem Briefe noch nie gehört. Entweder war er lange verlegt gewesen, oder die Mutter hatte andere Gründe gehabt, ihn zurückzubehalten. Er war gespannt auf diese unerwartete Mitteilung. Agnes schien unruhig.

»Ich habe eigentlich nie bestimmte Nachrichten erhalten, wie mein Vater starb«, sagte sie, als Frau Wolfbach sich entfernt hatte; »ihn selbst habe ich nie gekannt.«

»Mein Vater«, versetzte Albrecht, »sprach selten von dem Ihrigen. Aber wenn er es tat, mit tiefer Wehmut.«

»Sie waren bei demselben Regiment. Ihr Vater war auf dem Rückzüge Oberst, der meinige Hauptmann. Sie mögen manches Elend geteilt haben.«

»Davon erzählte mein Vater manchmal.«

»Ich erinnere mich dessen wohl; da ich als Kind öfter bei Ihnen auf Besuch war, hörte ich die traurigen Geschichten für mein Leben gern. Einmal nahm mich Ihr Vater auf den Schoß und sah mir lange in die Augen. Da sieht dein Vater heraus, Kleine, sagte er nach langem Schweigen, und ich glaube, er weinte. Ach! wie ich da stolz war!«

Die Augen des Mädchens glänzten bei dieser Erinnerung. Albrecht versank fast in den blauen Tiefen, in die er zum erstenmal seit langer Zeit hinunterblickte. Wie schön diese Begeisterung dem blonden Kinde stand! Es war gut, daß die Mutter mit dem Briefe kam.

»Er ist ein wenig vergilbt«, sagte sie, »aber lies nur!« und sie bot die fast zerriebenen Blätter Agnes an.

»Aber –« sagte diese zögernd.

»Kein Aber; ich bitte, lies nur!«

Das Mädchen suchte lange nach dem Anfang. Albrecht beobachtete sie. Ein unbeschreiblicher Zauber lag in jeder Bewegung; er suchte vergebens seine Aufmerksamkeit auf das Butterbrot zu konzentrieren, mit dem er gerade beschäftigt war. Sie begann, erst schüchtern, dann mit ruhigem, bestimmtem Ton folgendes zu lesen:

Breslau, den 4. Januar 1813.

»Teures Weib! Auf der Brust hab' ich eine handbreite Wunde, meine linke Hand ist erfroren, und meine rechte zittert noch. Der Typhus ist kein Kinderspiel. Aber danke Gott, wenn du mich lieb hast. Wir sehen uns wieder.

»Daß ich kurz nach Antritt des Feldzugs Oberst des dritten Kavallerieregiments geworden bin, hab' ich dir von Moskau, in der einzigen Nacht, die wir dort zubrachten, geschrieben. Ob du die Zettelchen, die ich nachher durch Freunde und Kameraden an dich schickte, erhalten hast, glaube ich kaum. Sie liegen mit ihren Trägern im Schnee begraben.

»Du wirst von dem Elend genug gehört haben, das wir ausgestanden. Ich bin noch matt und will dir kein Bild von dem zu machen suchen, was ich mit trüben Augen kaum selbst mehr sah. So schrecklich, wie die furchtbare Natur, malt kein menschlicher Pinsel. Und wenn ich dir hundertmal erzähle, wie viele Nächte ich auf erstarrten Leichen schlafen mußte, – du wirst doch nicht wissen, wie ein Morgengebet lautet, wenn man die liebsten Kameraden im Schnee liegen läßt und weiterzieht, um endlich auch sein kaltes Grab zu finden.

»Ich tat mein Möglichstes, als die allgemeine Unordnung einriß. Unser Regiment hielt sich musterhaft. Die Offiziere, namentlich mein teurer Tschernizky, unterstützten mich auf jede Weise. Bis Smolensk kämpften wir wacker mit Hunger und Frost. Zwei Stunden davon traf mich ein Kartätschensplitter in die Brust. Er streifte nur, aber scharf genug. Ich ritt gerade zwischen Tschernizky und einem alten, treuen Litauer – dem Förik, der mir fünf Jahre lang das Pferd gesattelt hat wie keiner –, als ich ohnmächtig vom Pferde sank. Nach einer Stunde kam ich wieder zu mir. Ein Wundarzt hatte im Vorbeiziehen mich verbunden. Um uns war es still. Tschernizky und der Litauer hatten bei mir ausgehalten. Das Regiment war weitergezogen; wir waren zurückgeblieben.

»Ich fühlte nur, daß es schneite und daß wir allein waren. Ich bat meine zwei Kameraden, sie sollten mich liegen lassen; mit mir sei's ohnedies aus. ›Man verläßt den Oberst nicht‹, sagte der Litauer trocken. Tschernizky wandte sich ab. In seinem Auge glänzte eine Träne. Ich wußte, an wen er dachte.« – Agnes hielt an.

»Herr, Gott! ja!« sagte Frau Wolfbach. »Er hatte drei Wochen vor dem Marschbefehl deine Mutter geheiratet, Agnes.«

»Ich wußte, an wen er dachte«, fuhr das Mädchen fort, »aber ich konnte nicht weitersprechen. Eine neue Ohnmacht raubte mir die Besinnung. Als ich wieder erwachte, lag ich in einer elenden Hütte auf ein paar Pferdeteppichen. Tschernizky saß still zu meinen Füßen. Durch einen, halboffenen Fensterladen bemerkte ich Förik, der mit einer Lanze und einer Kosakenmütze auf dem Kopf Wache hielt. ›Wir sind gefangen‹, sagte Tschernizky dumpf. Er hatte den halbverkleideten Förik nicht erkannt. Ich antwortete nichts. Wir lagen schweigend nebeneinander bis es Dämmerung wurde. Da trat Förik leise herein. Er brachte Speck und eine Flasche Branntwein. ›Eßt‹, sagte er zu Tschernizky, ›und dann steigt auf! Die Pferde stehen hinten im Schuppen.‹ – ›Und du?‹ fragte ich hastig. ›Ich bleibe auf meinem Posten, als Kosack. Ihr bekommt dadurch einen Vorsprung von vier Stunden. Man wird Euch nicht verfolgen!‹ Der listige Litauer sprach gut russisch und hatte die Kosaken vollständig getäuscht, indem er vorgab: uns gefangen zu haben. ›Und du?‹ wiederholte Tschernizky. Eine düstere Glut leuchtete aus den grauen Augen des treuen Burschen. ›Ich bürge mit meinem Kopf für Euch!‹ sagte er abgewendet, ›Reitet scharf! Morgen um zwei Uhr könnt ihr ein Vaterunser für mich beten. Auf, Herr Oberst!‹ Tschernizky faßte mich unter dem Arm. Mein Sträuben half nichts. Wir saßen zu Pferd. Der Branntwein und die Nachtluft belebten mich. Förik hatte uns die russische Losung mitgeteilt. Unangefochten kamen wir durch die zwei Vorposten. Ich sah noch einmal zurück. Der Mond schien einen Augenblick durch das Schneegewölk. Mit gelassenem Schritt ging der starre Kerl vor unsrer Hütte auf und ab, als sei nichts geschehen. Tschernizky faßte mein Pferd. Er sagte nachher: er hätte nicht zurücksehen können. Wir flogen über das Blachfeld.

»Förik habe ich nicht mehr gesehen.

»Ehe der Morgen graute, ritten wir beide über die ersten Leichen, die jene Nacht gefordert hatte. Bald holten wir auch Nachzügler von unserem Regiment ein. Man machte mir eine Tragbahre, welche zwei Packpferde trugen. Tschernizky verließ mich keinen Augenblick. Wir kamen glücklich über die Beresina, und dann fing der wahre Jammer erst an. Zum Glück konnte ich wieder mühsam reiten. Acht schreckliche Tage hielten wir aus, abermals immer mehr zurückbleibend. Hundertmal beschwor ich meinen Hauptmann, mich zurückzulassen. Es half nichts. ›Man verläßt den Oberst nicht!‹ sagte er im Tone Föriks, von dem wir manchmal sprachen, und suchte zu lächeln. Aber die Verzweiflung macht das Lächeln sauer.«

Agnes schwieg wieder; eine Träne war ihr auf den Brief gefallen; vorsichtig wischte sie dieselbe ab. Auch Albrecht war tief bewegt. Er hatte den schweren Tropfen schon seit einer Minute auf der zart geröteten Wange zittern gesehen und hätte ihn in diesem Augenblicke brüderlich hinweggeküßt. Das Mädchen fuhr fort.

»Auch die Pferde konnten sich kaum mehr schleppen. Matt, lautlos zogen die ungeordneten Haufen durch den tiefen Schnee. Nur das Wimmern Sterbender am Wege, der matte Laut, wenn dort ein Fußgänger erschöpft zusammensank, hier ein Pferd unter dem Reiter niederstürzte, unterbrach die erstarrte Stille.

»Endlich – es war ein trüber nebelichter Morgen, wir waren kaum zwei Stunden geritten – traf auch mich das Los. Mein Pferd stürzte. Wie hungrige Raben fielen die nächsten Soldaten darüber her, um es zu zerreißen und mit dem rohen, saftlosen Fleische ihren Hunger zu stillen. Ohne mich zu rühren, sah ich zu. Tschernizky hatte angehalten. Wir hatten heute noch kein Wort gesprochen.

»›Oberst!‹ sagte er plötzlich, ›hilf mir herunter! Ich will auch was von deinem Pferde!‹ Er hatte wohl in der letzten Nacht die Füße erfroren, denn er drängte mich immer an den besten Platz des Wachtfeuers. Ich half ihm. Er sank auf mein Pferd hin, ohne, wie die andern, mit dem Säbel Stücke davon abzulösen. ›Auf, Tschernizky!‹ sagte ich; ›sei ein Mann! reite weiter in Gottes Namen!‹ – ›Reite du! das hier ist mein Pferd, Oberst!‹ Wir hatten allerdings die Pferde getauscht, weil das seine einen sanfteren Tritt hatte, was mir bei meiner Wunde sehr zu statten kam. ›Das Oberstsein hat ein Ende!‹ versetzte ich. ›Nun, so reit' weiter, Bruder!‹ sagte er. Jetzt erst merkte ich, wo er hinaus wollte. Sein Blick war starr, wild. Der Edelmut hatte in jenen Tagen ein furchtbares Kleid. Ich konnte kaum mehr sprechen. ›Und wenn du einmal nach Deutschland kommst, Bruder‹, fuhr er fort, mir die Hand reichend, ›und du findest mein Weib und vielleicht – vielleicht mein Kind –‹«

Agnes konnte nicht weiter lesen. Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen. Die Mutter schluchzte. Auch Albrechts Augen wurden naß. Frau Wolfbach nahm den Brief.

»Zwei Stunden«, las sie, sich sammelnd, weiter, »lag ich neben ihm; Karren, Reiter, Fußgänger zogen an uns vorbei, ohne einen Blick des Mitleids. Wir waren fast die Letzten geworden; nur da und dort schleppte sich noch ein Halbohnmächtiger der mit Leichen bedeckten Straße nach. Tschernizky war nicht mehr zu bewegen, sich zu erheben. Sein Auge war halb geschlossen. Ich flößte ihm ein wenig Branntwein ein. Er rührte sich nicht. – Da, in der Ferne sah man schon einzelne Kosaken, drückte ich ihm einen Kuß auf den Mund. ›Nicht wahr‹, fuhr er plötzlich auf, ›wenn du nach Deutschland kommst –‹ Ich verstand ihn, bestieg sein Pferd und sprengte den andern nach.

»Die nächste Nacht breitete wohl ein Leichentuch über seine Heldenglieder. Mich hatte er gerettet!«

Albrecht sah Agnes an. Er erwartete einen Tränensturz aus ihren schönen Augen. Ihm selbst schnürte es den Hals zu, daß er keinen Laut hervorbringen konnte. Das Mädchen ließ plötzlich ihre Hände vom Gesicht sinken, warf den Kopf zurück. Ihr Auge war feucht, aber flammte; ihre Brust hob und senkte sich rasch unter dem leichten Kleide; ihre Lippen zitterten.

»So hab' ich mir meinen Vater sterben gedacht!« sagte sie stolz und strahlend. Albrechts brennendes Auge traf sie; sie hatte in dem Augenblick an keinen Menschen gedacht und stand schnell, tief errötend, auf.

»Sie müsse jetzt eilen, daß sie heimkomme«, sagte sie verlegen lächelnd. Die Mutter begleitete sie durch den Garten. Albrecht war allein.

Auch er atmete stürmischer; auch in ihm klopfte das Herz rascher. »Und die Stimme!« sagte er halblaut vor sich hin. »Nein! nein! es ist nicht möglich! Und dir bleibe ich treu, es mag kommen, was da will! Dir, du Engelstimme – und meiner Freiheit!« –

Die Mutter kam zurück und setzte sich zu ihm.

»Ich habe nicht alles gelesen, was in dem Briefe stand«, fing sie an, ihren Arm um Albrecht schlingend. »Willst du selbst lesen?«

»Lies nur!«

Frau Wolfbach nahm den Brief.

»Zwei Menschen haben sich für mich geopfert, und ich bin gerettet. Ich habe in Breslau während meiner Krankheit Stunden gehabt, wo mich dieses Gefühl fast erdrückte. Förik, das gute, treue Blut, ist erschossen oder erstochen. Ich kann nichts mehr für ihn tun. Tschernizky, den mir der Jammer zu mehr als zum Bruder gemacht hat, liegt im Schnee begraben. Sein Weib, vielleicht sein Kind, war seine letzte Sorge. Wenn ich dich lebend wiedersehe, Lotte! so teilen wir unsere letzten Brosamen mit ihnen. Ich kenne dich.«

»Du weißt«, setzte Frau Wolfbach hinzu, »Agnes' Mutter starb an der Nachricht und an der Geburt ihres Kindes. Wir zogen die Kleine auf, bis ihr Onkel, der Oberamtmann, sie von uns verlangte und wir sie nicht mehr zurückhalten durften. Noch auf dem Sterbebett, Albrecht, höre wohl – noch auf dem Sterbebett sagte dein Vater zu mir: ›Wenn unser Albrecht groß genug und ein braver Junge geworden ist, wie er's verspricht, so – –‹«

»Halt, Mutter!« fuhr der Jüngling dazwischen, und sein Auge flammte auf; »alles kann man von mir verlangen; alles will ich für Agnes tun; aber das! das! – das ist etwas anderes!«

»Ich sagte nicht: du sollst!«

»Aber du denkst's. Und es ist mir unerträglich.«

»Die letzte Bitte deines Vaters!«

»O Mutter! ich kann nicht!«

Und fast hätte er gestanden, daß von seiner vielgerühmten Freiheit so viel als nichts mehr übrig war. Die Mutter sah ihn forschend an. Sie sagte nichts mehr; sie hielt nur seine unruhig sich bewegende Hand in der ihren und wartete.

Aber auch er sagte nichts. Mit einer heftigen Bewegung riß er sich los und trat aus der Laube. Nach einer Minute sah er wieder hinein. »Mutter, ich halte es hier nicht mehr aus!« sagte er leis. »Morgen nehme ich Urlaub.«

Die Mutter weinte. Albrecht verließ den Garten. Draußen begegnete ihm der Invalide.

»Das ist gut. Ich wollte gerade zu Ihnen«, sagte der Alte, ihm den Weg vertretend. »Die Frau Oberamtmann lassen sagen, der Fürst sei schon gestern abgereist, und sie wollen morgen in die türkischen Anlagen fahren. Um acht Uhr spann' ich ein.«

»Aber ich werde –«

»Schon gut«, sagte der Stelzfuß mit einem eigentümlichen Blick. »Was mein Marionettentheater betrifft, es ist ganz hergerichtet bis auf die Prinzessin. Die Prinzessin hat keinen Kopf mehr.«

»Ja! ja! die Prinzessin! Gute Nacht, Alter!«

Kopfschüttelnd sah ihm der Stelzfuß nach und trat, sein Pfeifchen stopfend, den Rückweg an.


 << zurück weiter >>