Max Eyth
Der Invalide
Max Eyth

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IV

Albrecht trat in das Weidendickicht. Er schien dm Weg zu kennen; denn er schlug trotz des unsicheren Mondlichts mit fester Hand die Zweige zurück, die sich über den selten betretenen Pfad zusammenfalteten. Dort spiegelten zwischen dem Gestrüppe schon einzelne Lichtfunken aus dem tiefdunkeln, stillen Wasser, das lautlos um die Wurzeln spielte. Ein alter morscher Nachen lag schlaftrunken unter einer Erle. Noch einmal sah sich der Jüngling um; dann löste er den Strick, trat in den Kahn und stieß vom Ufer ab. – Es war, als ob heute auf der ganzen, weiten Welt italienische Nacht wäre. Kein Wölkchen fand das Auge an dem sternbesäten Himmel; über den Wiesen wob sich fast unmerkbar ein duftiger Nebelschleier; die grünen Berge und Halden schauten hell, wie am Tage, dem Mond ins volle Gesicht. Kein Laut regte sich auf dem schönen, freundlichen Fluß, wenn nicht manchmal ein Wasservogel, der im Schatten der Weiden schlummerte, durch den vorüberziehenden Nachen erschreckt auffuhr oder aus dem Städtchen dann und wann ein verlorner Laut sich bis hierher verirrte.

Albrecht saß halbliegend in seinem Kahn und trieb flußabwärts. Es war in ihm nicht so ganz still. Sein Herz klopfte etwas lauter als sonst. Die Strömung trug den Nachen. Er schien wenig darauf zu achten. Nur! eine leise Bewegung des Ruders gab dem Fahrzeug hie und da einen kleinen Stoß. Bald hörten die Weiden an dem linken Ufer auf. Es stiegen hier Gartenmauern in die Höhe, auf deren Rand da und dort ein verlassenes, freundliches Hüttchen stand. Rasch lenkte der nächtliche Schiffer auf die andere Seite des Flusses und fuhr im tiefen Schatten der Bäume unbemerkbar weiter. Plötzlich hielt er an, schlang den Strick um eine hervorstehende Wurzel, drückte den Nachen vollends unter das überhängende Gezweige und legte das Ruder leise nieder.

Im vollen Mondlicht stand auf der andern Seite des kleinen Flusses ein Gartenhaus, das mit Reben umrankt, kaum mehr eine Fensteröffnung sehen ließ, aus welcher der schwache Schimmer eines Lichtes drang. Dorthin richtete sich Albrechts durchdringender Blick; regungslos saß er da. Kein Laut konnte ihm entgehen.

Er schien zu wissen, daß er zu warten habe, und sich darauf einzurichten. Die ganze stille, träumerische Natur zog an ihm vorüber und er ihr nach. Schon drei Abende hatte er an diesem Platze verträumt. Unwiderstehlich zog es ihn hierher. Unwiderstehlich bannte, wenn er sich hier befand, jenes matte Licht sein Auge auf einen Punkt. Jetzt zitterten die leisen Töne einer Gitarre über den Fluß. Jeder Nerv zitterte in ihm nach. Eine Stimme begann ein einfaches, wehmütiges Lied. Er verstand fast jedes Wort.

Es war nicht der Text des Liedes, der ihn bewegte. Es war die Stimme. Altstimmen haben diese Eigentümlichkeit. Es ist, als ob sie tiefer aus dem Herzen kamen, tiefer ins Gemüt griffen als die hellen, leichten Töne eines Soprans. Sie sind wehmütiger, träumerischer, deutscher als diese. Eine unbeschreibliche Harmonie lag in dem ganzen, nächtlichen Bilde, als die klaren, tiefen Töne über den Fluß hinauf und hinunter zogen. Albrecht war nicht das, was man »musikalisch sein« nennt. Wenn er es gewesen wäre, hätte er vielleicht mit weniger Bewegung dem einfachen Gesang zugehört. Kinder genießen unbewußt, und darum vollständiger. Heute abend war er ein Kind.

Er wußte nicht, woher es kam: als die Stimme schwieg, stiegen plötzlich Bilder aus seiner tiefsten, glücklichen Kindheit in ihm aus, leis und schüchtern. Jeder laute Gedanke schreckte sie wieder zurück. Ein blondes Lockenköpfchen winkte ihm aus dem tiefen Waldesdunkel, in welchem all seine Kinderträume webten. Aber er erschrak davor und fuhr unmutig mit den Händen an die heiße Stirne.

Und als drüben ein munteres Jägerliedchen erklungen war, sank er plötzlich mit einer raschen Bewegung im Nachen auf die Kniee, hob die Hand wie zu einem Gelöbnis; kam aber nicht dazu, etwas zu geloben. Der Nachen schaukelte. Das Ruder fiel klatschend in das Wasser.

»Bomben und Granaten!« rief von hinten eine rauhe und verwunderte Stimme. »Obacht geben, Herr! Obacht geben! Ich Hab' schon geglaubt, es sei ein Kind ins Wasser gefallen!«

Albrecht fuhr in die Höhe und sah sich um. Hinter dem Erlenbaume schaute ihm der glänzende, kahle Schädel des Marionettenmanns entgegen, der Wohl einen Abendspaziergang gemacht hatte. Nenn jetzt erst bemerkte Albrecht, daß hinter dem Baume ein viel betretener Fußweg vorbeiführte. Er sprang aus dem Kahn; der Stelzfuß schien ihn jetzt erst zu erkennen. »Sie sind's?« rief er, die Hände zusammenschlagend.

»Ihr seid's?« sagte der Jäger nicht besonders freundlich. »Aber kommt, kommt! – Seit wann hat man Euch denn laufen lassen? Mir ist ein Stein vom Herzen, Mann! Man hat Euch doch gut behandelt? Zieht Ihr bald weiter?«

»Ich? Nein, Herr! Aber wenn Ihnen mein Theater gefällt, ich verkauf' es billig. Zwar hat's ein wenig gelitten, Schwerenot, es ist auch kein Wunder!«

»Und was fangt Ihr an?«

»Hier bleiben. Kutscher geworden.«

»Kutscher? Ihr?«

»Meinen Sie mein Bein, Herr? Ich habe mehr Pferde zugeritten, als Sie glauben. Und des Oberamtmanns Schimmel haben nicht mehr Feuer als ich!«

Albrecht hatte den Alten von dem verhängnisvollen Erlenbaum weggezogen. In dem Pavillon war das Licht verschwunden. Er blieb staunend stehen und sah den neuen Kutscher an.

»Ja, ja! Ich hab' mich auch verwundert. Aber Bomben und Granaten! Da ist Ihnen ein Mädchen bei's Oberamtmanns, heißt Tschernizky oder kurzweg Fräulein Agnes und bei der Frau Oberamtmännin »das Ding«. Ihr Vater war bei dem Regiment von Ihrem – ja so! Nun – die kam zu mir, fragte mich aus. Ich sagte ihr, so viel sie zu wissen brauchte; seien Sie ruhig! ich hätte um keine Pfeife voll Tabak verraten, wer für mich auf der Klosterwiese gespielt hat; ich weiß es ja selbst nicht. Und zwei Tage darauf war ich Kutscher beim Herrn Oberamtmann mit sechsunddreißig Gulden Lohn jährlich. Und was den Marionettenkasten betrifft –«

»Werft ihn ins Feuer!« sagte Albrecht freundlich. »Was ist er wert?« Er griff in die Tasche, um dem Alten zu geben, was er verlangen würde. Der Stelzfuß beobachtete die Bewegung kopfschüttelnd.

»Bomben und Granaten! Ein Blitzmädel, die Fräulein Agnes! Und wenn Sie wieder einmal Marionetten spielen wollen: ich will den Kasten herrichten. Mein Weg geht da hinüber; 's ist spät, Herr! B'hüt's Gott!«

Der Alte humpelte weiter. Albrecht sah ihm eine Weile schweigend nach. »Ein echter Kerl, aus Blei oder Stahl, je nachdem man's nimmt!« murmelte er vor sich hin. »Aber hat sich denn die ganze Welt verschworen? Agnes morgens und abends, Agnes hinten und vorn! Nein! nein! und wenn sie mich knebeln, meine Freiheit lass' ich nicht!« Und leise schlich er der Erle zu, um den Nachen wieder hinauszuschaffen.


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