Max Eyth
Der Invalide
Max Eyth

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III.

Ein Wunder war's nicht, daß die Luft im Oberamtmannshause heute etwas schwüler war als sonst. Auf dem Tisch lag das neueste Tagblättchen. Der Oberamtmann ging mit schweren Schritten im Zimmer auf und ab und warf hie und da einen unruhigen Blick nach der Türe. In der Küche hörte man das Verhör, das die Frau Oberamtmännin mit der Magd vornahm, um aus der sichersten Quelle die Ereignisse auf dem Markte zu erfahren. Im Hintergrunde des Zimmers bewegte sich kaum hörbar eine schlanke, weibliche Gestalt, die in der weißen Porzellanschüssel die saure Milch für das Abendessen anrührte.

»Meine Hausschuhe, Agnes!« brummte der Oberamtmann mit einem schwermütigen Seufzer.

Agnes brachte sie. In ihrem blauen, sinnigen Auge lag eine eigentümliche Bewegung, als sie den Onkel ansah. Sie schien etwas sagen zu wollen; doch erstarb ihr das Wort auf den Lippen; sie wandte sich wieder an ihre Arbeit.

»Meine Tabakspfeife, Agnes!« sagte der Beamte nach einem fünf Minuten langen Schweigen.

Der Tisch war gedeckt, die Milch angerührt. Agnes setzte sich neben den Onkel und fing an, mit ihren schneeweißen Fingern die Tabakspfeife zu füllen. »Ich war heute auch drüben in den Gefängnissen«, sagte sie etwas schüchtern.

»Wie oft soll ich dir noch sagen, daß das nicht angeht?« murrte Sterner – so hieß der Oberamtmann. »Es schickt sich nicht für dich, und du verdirbst mir alle Gefangenen. Man muß mit diesen Leuten nicht so sanft umgehen!«

»Das ist nicht Ihr Ernst, Onkel!« sagte das Mädchen, mit einem bittenden Blick, den Sterner seit einem halben Jahre nicht mehr recht aushielt.

»Ich muß es wohl besser verstehen als du, Agnes! Und was hast du drüben zu schaffen gehabt?«

»Der Brenner, der Wilddieb ist krank. Bitte, lassen Sie ihn in eine bessere Zelle bringen! Nicht wahr, Onkel?«

»Nicht gefährlich. Das ist bloße Verstellung. Ich sagt's ja: du richtest nur Unheil an. Weiber sind nichts für solche Geschäfte. Eine andere Zelle? Ich will doch nachsehen.«

»Und dann hab' ich den Invaliden gesprochen.«

»Den Marionettenmann?« rief Sterner auffahrend. Dann zündete er seine Pfeife an und blies furchtbare Wolken an die Decke.

»Der Mann ist unschuldig«, sagte Agnes bestimmt.

»Aber er muß den Schuldigen kennen!«

»Er kennt ihn nicht. Und ich glaube, der Schuldige ist auch unschuldig!«

»O Weiber! Weiber!« jammerte der Oberamtmann; »wenn ihr nur bei eurem Leisten bliebet!«

»Aber er muß eine bessere Kost haben«, fuhr Agnes mit ruhiger, freundlicher Sicherheit fort. »Er war ohnmächtig, als man ihn arretierte. Er sagte: ›das mache der Hunger‹.«

»Er soll's haben – meinethalb.«

»Ich hab' ihm schon das übrige Mittagessen hinübergeschickt.«

»Agnes, ich habe dir das aufs strengste untersagt; ich werde dir noch selbst ein Schloß vor die Tür legen lassen – ich, ich –«

»Onkel!« schmeichelte das Mädchen.

»Nichts Onkel! – Donner und Panduren! – Verzeih, Agnes! – Aber so mit den bösartigsten Vagabunden umgehen! so unverzeihlich – so –«

»Er ist aber unschuldig!«

»Und der Schuldige auch?«

»Ja; denn er spielte nur, um dem armen, halbverhungerten, Mann, der kaum noch sprechen konnte, ein wenig Geld zu verdienen. Der Alte sagte: wenn er zehnmal den Namen des Fremden wüßte, er würde ihn nicht verraten, und wenn man ihn zehn Jahre sitzen ließe.«

»Da haben wir's! Das ist der rechte Ton! Solchen Starrköpfen muß man das Mittagessen schicken, um sie zur Reue anzuleiten. Wenn doch nur keine Gänslein mit oberamten wollten!«

»Onkel, – ich habe eine Bitte!«

Der Onkel machte ein verwundertes Gesicht; eine derartige Einleitung wurde selten von seiner Mündel gemacht.

»Nun?« sagte er, und hielt die Pfeifenmundspitze einen Schuh vom Gesicht, das Zeichen gespanntester Erwartung.

»Aber Sie müssen mich anhören.«

»Nun ja! Drück los!«

»Der Invalide war in Rußland, und hat im Dienste unseres Fürsten seine Füße erfroren. Dafür läßt man ihn jetzt Marionetten dirigieren und verhungern.«

»Donner und Panduren! Woher hast du die demagogischen Phrasen?«

»Aus dem Herzen, Onkel; an der Geschichte auf dem Markte ist der Mann unschuldig.«

»Und ich sollte ihn deshalb laufen lassen? –«

»Damit er wieder halbverhungert an der nächsten, besten Straße liegen bleibt? Nein, Onkel!«

Der Onkel fing an entsetzlich zu dampfen und sein Gesicht in immer ernstere Falten zu legen. Agnes schlang ihren Arm um den rauhen Schlafrockkragen. »Sie sollten mehr tun, Onkel!« sagte sie. »Wollen Sie? Sie müssen mich erraten. Ich will es ihnen leis sagen, ganz leis! Aber nicht wahr? Wir suchen ja seit drei Tagen –«

Die Türe flog auf.

»Nein, das ist entsetzlich! das ist empörend!« schrie die gelle Stimme der Frau Oberamtmännin. »Und ich sage dir. Mann, wenn du diesen impertinenten Landstreicher nicht exemplarisch behandelst, so bist du das Gespött der ganzen Stadt. Ein Galgen wäre nicht zu wenig für einen solchen Halunken, einen solchen Strick. Aber du weißt's am Ende noch gar nicht, wie dieses Individuum uns kompromittiert hat. Gerade hab' ich's aus der Hanne herausgepreßt mit Not und Mühe. Ach Gott! daß man solche Menschen nicht mehr hängen darf!«

Agnes hatte sich in dem Augenblick, als die Tante eingetreten war, schnell in eine Fensternische zurückgezogen und sah auf den Marktplatz hinab. Der Onkel glich einem Vulkan vor dem Ausbruch.

»Was sag' ich, hängen?« fuhr seine Frau heftig fort, sichtlich mit dem Eindruck nicht ganz zufrieden, den sie hervorgebracht hätte, »spießen, rädern, vierteilen sollte man solche Schandmenschen, solche Strauchdiebe, solche – solche –«

Agnes war bleich geworden. Sie drehte sich plötzlich um, und sagte fest: »Ich wollte eben den Onkel bitten, den Strauchdieb als Kutscher anzunehmen.«

Der Eindruck, den diese Worte machten, war durchschlagend. Starr, mehr mit einem gewissen Entsetzen als mit Entrüstung, sah die Tante das Mädchen an. Eine schwüle Stille herrschte in dem dämmerlichen Gemach. Der Oberamtmann legte seine Pfeife weg und stand auf. Die letzte Spur einer Amtsmiene war aus seinen Zügen verschwunden. »O Weiber! Weiber!« stöhnte er; »jetzt fängt die Kleine auch an! Was soll aus mir werden?« Und er trippelte ängstlich zwischen den beiden streitenden Parteien hin und her, ohne den Blick aufzuschlagen.

»Ich sehe schon, Onkel, meine erste Bitte findet kein Gehör. Ich wollte Sie nicht betrüben. Ich werde um nichts mehr bitten!« fügte Agnes mit einer verwirrenden Mischung von Stolz, Trotz und Wehmut.

»Um des Himmels willen, Agnes«, bat der Oberamtmann, »es ist aber auch gar zu phantastisch.«

»Was, phantastisch!« rief Madame Sterner, die endlich zu Atem kam. »Wahnsinn ist's. Nur so eine Romanheldin, so eine blondköpfige Närrin, die bei den Vagabunden drüben ihre Unterhaltung sucht, – nur so – willst du anders hinstehn, freches Ding!« –

»Es wäre vielleicht so wahnsinnig nicht,« versetzte das Mädchen, und Tränen erstickten allmählich ihre Stimme, »wenn wir gerade dadurch der Stadt zeigten, was wir von der Marionettensache halten!« – Und die Träne im Auge zerdrückend, ging sie still durch die Türe.

»Agnes! Agnes!« rief der Oberamtmann, und lief ihr nach.

»Du bleibst da, Mann!« rief Madame wütend, doch schon zu spät. Der mutige Ehemann hatte im Drang des Augenblicks zu gehorchen vergessen. Der Frau schien heute die Bestimmung geworden, von einem Erstaunen in das andere zu fallen.

»Das ginge mir vollends ab!« sagte sie zitternd.

»Unerhört! Aber aus dem Hause soll mir das Persönchen, ehe ein halbes Jahr um, ist. Madame Wolfbach weiß vielleicht Rat. Ja, ja!« lachte sie boshaft. »Ich ahne dort schon längst etwas. Gut! Das Wohin ist im ganzen gleichgültig. Meiner Autorität im eigenen Hause trotzen! – unerhört! – Ich weiß nicht – mir kommt's heute vor: ich sei nicht mehr Frau Oberamtmännin!– Mann! – Karl! – Karl! – Mein Gott, jetzt tut er, als höre er schlecht! – Karl


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