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Der letzte Tag Ludwig Feuerbachs
Beschrieben von dem gewissenhaftesten Augenzeugen, vom Lieben Gott

Am Morgen versuchte er noch ein letztes Mal sich geistig zu beschäftigen. Seine Tochter mußte ihm Schopenhauers »Parerga und Paralipomena« reichen, die sein Tiroler Freund Konrad Deubler bei seinem letzten Besuch auf dem Rechenberg bei Nürnberg ihm dagelassen hatte. Ein halbes Stündchen vergrub er sich in die Abhandlung Schopenhauers »Zur Lehre von der Unzerstörbarkeit unseres wahren Wesens durch den Tod«. Bei der kleinen dialogischen Schlußbelustigung, die jener Weltweise seiner Schrift angehängt hat, entsank das Buch seiner Hand. Ein leichtes Lächeln, das letzte, das der meist ernste Mann zu verspenden hatte, glitt dabei über sein schon von der Kälte des nahenden Todes schneeweiß gewordenes Antlitz. Gegen Mittag reichte man ihm ein Stück Geflügel. Er fragte, ob es von einem jungen Hahn sei, was man, da man merkte, daß ihm etwas daran lag, gern bejahte. Anscheinend gedachte er der letzten Worte des Sokrates dabei, der seine Freunde bat, bei seinem Tode dem Äskulap, dem griechischen Gott der Heilkunde, einen Hahn zum Zeichen seiner Genesung darzubringen.

Nach dem Essen wurde er eine Weile unruhig und seine Frau, die neben ihm am Bette saß, hörte ihn mehrfach irrereden. Zwar verstand sie ihn nicht so genau wie ich, da er wie gewöhnlich sehr undeutlich sprach. Er unterhielt sich sonderbarerweise in seinen Fieberträumen ganz kameradschaftlich mit allen möglichen Göttern und Gottheiten, die ihm durch seine Theogonie, seine Göttergeschichte, geläufig geworden waren. Zum Glück für ihn hatte er nicht so viel Stoff aufsammeln können, wie in Frankreich Gustave Flaubert. Denn die Bücherei des germanischen Museums in Nürnberg, die ihm zur Verfügung stand, war recht klein und enthielt besonders für dies sein Lieblingsgebiet sehr weniges. Sonst hätte er sich vermutlich mit all den Göttern und Geistern herumschlagen müssen, die der besagte Denker-Dichter Flaubert seinem heiligen Antonius in der Wüste der Thebais erscheinen läßt. Wobei zu erwägen ist, daß den Antonius des Flaubert schließlich auch nur die Gottheiten weniger Weltteile, Europas und Asiens, und allenfalls noch Nordafrikas, und auch diese nur teilweise, umschwirren, während ihn die Götterwelt Mittel- und Südafrikas, Australiens und der beiden Amerika noch verschont ließ. Gott, ich soll mich schützen, wenn einmal die ganze Göttergeschichte in dem Hirn eines solchen kranken Geistes losgelassen wäre! Kein Stirnbein und Band würden hart und fest genug sein, um solch eine wahnsinnige Walpurgisnacht in dem Schädel eines einzigen Menschen zusammenzuhalten.

Mein Attentäter Feuerbach hatte sich vorwiegend nur mit der Götterlehre des klassischen, hebräischen und christlichen Altertums beschäftigt und schauderte, als ihn sein jüngerer Bruder Friedrich, der scheueste des menschenscheuen Geschlechtes der Feuerbache, als Orientalist noch auf die Mythologie Indiens aufmerksam machte.

»Genug! Übergenug von diesem Aberglauben! Laßt uns die Zukunft bilden und nicht ewig am starren Vergangenen kleben!« riet er diesem Bruder, der daraufhin mehrere volkstümliche religionsphilosophische Schriften zusammenstellte, die freilich ob ihrer trockenen Vernünftelei kaum Anklang gefunden haben.

Infolge solcher Beschränkung auf ein bestimmtes Gebiet der Theogonie war die Abschiedsvorstellung, die dem sterbenden Feuerbach die ihm bekannten Gottheiten des Morgen- und Abendlandes geben konnten, nicht allzu lang und reich. mir sei's gedankt um seinetwillen! Denn auf diese Weise ward er nicht böse von den Götterausgeburten menschlicher Gehirne gequält, so daß er am Spätnachmittag wieder ruhig einschlafen konnte. Vor der Nacht kam er kurz noch halbwegs zum Bewußtsein, als er beim Augenöffnen die Jodlampe gewahrte, die seine Tochter auf dem Tischchen neben seinem Bett angezündet hatte. Und zwar war dies auf Anordnung des Arztes geschehen, der noch irgend etwas tun und raten wollte und der Ansicht war, daß die Joddämpfe dem lungenleidenden Gelehrten beim Sterben wohl tun würden. »Ganz recht!« murmelte Feuerbach da, als er die veilchenblauen Wölkchen des Jods bemerkte, die er sich nicht mehr erklären konnte: »Die Menschheit will blauen Dunst vorgemacht haben. Sonst wird ihr diese Welt und ihr entgöttertes Leben zu grau. Das ist vielleicht der Grundirrtum meiner Lehre gewesen, daß ich wähnte, mein nackter Glauben könne sie zu ihrem Glück führen.

»Denn ist mein Glück auch wirklich das Glück der Menge? Und läuft der Glückseligkeitstrieb mancher Menschen vielleicht nicht geradezu darauf hinaus, irdische Leiden aufzusuchen, wie mir meine Schwägerin Henriette Feuerbach beteuert hat? Am Ende ist meine Sittlichkeitslehre falsch fundamentiert, wie meine Gottlosigkeit zu kahl ist für die Menschheit?

»›Ach! Wir armen Feuerbachs, wir haben kein Talent für Kolorit!‹ hat mir mein Malerneffe einmal vorgeseufzt. Das ist es: Die Menschen wollen bunte Tünche und Schminke über dies kurze kalte Dasein gestrichen haben. Mundus vult decipi! Gott ist ein unaussprechlicher Seufzer, im Grunde der Seelen gelegen.«

Niemand verstand ihn mehr in dem, was er flüsterte, außer mir, der ich diese letzteren Gründe für meine Daseinsberechtigung unter Menschen nun schon seit Jahrtausenden von ihren Lippen lese. Aber dieser mein Leugner wurde nun nicht etwa schwach im Tode. Noch weniger als es Voltaire und Heine geworden sind, und mein Antipode, der Teufel mag wissen, wie meine Renegaten sonst noch alle heißen mögen.

Nein! Feuerbach schlief ganz sanft nach solchen ihn nicht einmal quälenden Gedanken ins ewige Schweigen hinüber, das er, der Wortkarge, zeitlebens schon geliebt hatte.

Der Gedanke, einen protestantischen Geistlichen an sein Sterbebett zu bitten, wäre ihm so wenig gekommen wie der Wunsch, den Dalai Lama aus Tibet heranzuholen. Wenn er nach jemandem verlangt hätte, so wär' es höchstens nach dem Bartschneider gewesen.

Ganz kurz vor seinem letzten Aufzucken fuhr er noch einmal hoch und hauchte phantasierend: »Sie wollen drüben in Amerika einen creek nach mir ›Feuerbach‹ nennen, hat mir ein Verehrer geschrieben.« Das war sein letzter Gedanke, wie es auch im Leben stets sein letzter Trumpf, seine letzte Hoffnung gewesen war, wenn die Vernachlässigung seiner Mitwelt ihn niederdrückte und herunterstimmte.

»Gebt acht!« sprach er dann wohl zu seinen Nächsten: »Amerika wird meine Lehre aufnehmen! Amerika, das die Fahne der staatlichen Freiheit entrollt hat, wird auch die der geistigen Freiheit schwingen und die Heimat des Freidenkertums werden.«

Die Vernichtung, die sich ihm sacht auf schwarzen Mäusepfötchen nahte, sollte ihn vor einer späteren Enttäuschung in diesem Punkte bewahren. Ohne die leiseste Bewegung seines Körpers lag er noch ein paar Stunden auf seinem Sterbelager. Wenn die Menschen Seismographen für seelische Erschütterungen erfunden hätten, sie hätten nicht das kleinste Zeichen von Furcht vor dem Grauen oder dem Nichts bei ihm aufnehmen können. Ein kurzes krampfhaftes Aufzucken zeigte seiner Frau, die bei ihm wachte, in der Frühe das Ende seines Lebens an. Nie ist ein frommer gottesfürchtiger Mann sanfter, schmerz- und angstloser entschlafen als dieser Freigeist, das muß ich zum Besten der Wahrheit feststellen. Seine Gesichtszüge, völlig unverstellt, erhielten im Tode einen Ausdruck, den seine Frau und Tochter, die ihn vor dem Einsargen noch einmal bestarrten, wunderbar, ja »göttlich« fanden. Unwillkürlich stahl sich dies »billigste Wort«, wie es der Tote bei Lebzeiten immer gescholten hatte, auf ihre zitternden Lippen. Sein letztes Gesicht war ganz der Spiegel seines innersten edelsten Wesens. Der Ernst in seinem Antlitz, der die Seinen so oft mit Wehmut erfüllte, blieb ihm eigen, bis der Sarg ihn verschlang. Die beiden Frauen, Frau und Tochter, konnten sich wie die Weiber um den toten Christus nicht von ihm trennen und mußten es doch. Und auch ich überließ ihn nun der ewigen Metamorphose, die ich bin, froh einmal dem anständigen Tod eines aufrechten wahrheitsuchenden Mannes beigewohnt zu haben. Diese stille Andachtstunde war mir lieber als der übliche abgedroschene und gedankenlose kirchliche Gottesdienst, mit dem kurz nach seinem Sterben in der Sonntagmorgenfrühe des sogenannten 13. September 1872 die Masse Mensch den neuen Tag begann.


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