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Schillers Leidenschaften

Jedesmal, wenn ich irgendwo Bürger und Bürgerinnen zum Andenken unseres gewaltigen Schillers festlich verfroren beisammensitzen sehe, bekomme ich Lust, diese Geschichte bekanntzugeben. Ich hab' sie von einem alten Kantor aus Rudolstadt, der mir einmal die Sehenswürdigkeiten des behaglichen Saalestädtchens zeigte. »Kommen Sie«, sagte er zu mir, als wir den Besuch der Stadtkirche und des Residenzschlosses hinter uns hatten, »nun will ich Ihnen noch eine ergreifende Erinnerungsstätte an unseren Schiller zeigen.« Er blinzelte mich mit seinen schelmischen Augen an, als er von »unserem« Schiller sprach. Wir hatten uns nämlich schon vorher darüber verständigt, daß »unser« Schiller nicht der verblasene Ölgötze war, als der er in den deutschen Familien wie eine klassisch kalte, gipserne Ofenfigur verehrt wird, sondern ein zweibeiniges menschliches Wesen wie wir, das unter seinem Körper und seinem Charakter zu leiden hatte, so schwer wie ein jedes Mitglied der höchsten Säugetierklasse.

»Wo ist denn das Schiller-Heiligtum?« frage ich, als wir an der Saale vor einer schmalen Brücke stehen, einem kleinen hölzernen Steg, der über das graue Flüßchen führt. Und blicke zu den Häusern der oberen Stadt empor, aus deren Schornsteinen der weißliche Rauch wirbelt und über dem alten Nest seine Pirouetten dreht, als wollte er ihm und allen Biedermeiern und -meierinnen, die darin hausen, lange Nasen machen und Fratzen schneiden. »Hier!« sagt mein Geleiter trocken. »Sie brauchen nicht ins Blaue hinauf zustarren! Diese winzige Brücke da – nur mit einer Schiebkarre kann man darüber fahren! – hat eine höchst wichtige Bedeutung in Schillers Leben gehabt.« Und nun packt er die folgende Geschichte aus:

Es war in der kurzen Rudolstädter »Periode« des Dichters, um sein eigenes zopfiges Wort für diese Zeitspanne zu gebrauchen, die er später oft als die ihn beglückendste seines Lebens bezeichnet hat. Ein einziges Quälendes lag zuweilen auf diesem schönheitsvollen Sommer. Das war die Frage, für wen der Dichter sich in seiner Doppelliebe zu den beiden Schwestern von Lengefeld entscheiden sollte, für Karoline oder für Charlotte. Jeden Abend, wenn er vom Besuch der Schwestern aus Rudolstadt in das naheliegende Dörfchen Volkstedt heimkehrte, wo ihn die beiden einquartiert hatten, überlegte er, welche er lieber hätte, die ältere Karoline oder die jüngere Charlotte. Wie ein rechter Verliebter teilte er dann den ganzen Himmel für sich in zwei Tafeln ein. Auf die linke Himmelsseite schrieb er mit goldenem Griffel wie der Blitz die Eigenschaften Karolines, die ihn besonders anzogen: Leidenschaftlichkeit, starke Geistigkeit, glühende Zärtlichkeit, ewige Schwärmerei, Hochflug der Gefühle und Gedanken. Auf der rechten Himmelsseite zeichnete er mit Silberstift wie der Mond die Vorzüge Charlottes, die ihn still für sie entflammten: Zartsinnigkeit, Weltklugheit, edles Liebesbedürfnis, Sittsamkeit, stetige wohltuende Wärme und Treue. Wenn er dann die beiden Aufstellungen der Tafeln wie Wagschalen gegeneinander abwog, so schwebten beide in gleichem Wert und Gewicht vor ihm. Es erschien dem Dichter ganz unmöglich, für die eine mehr und wärmer zu empfinden als für die andere. Seine Phantasie warf ihn bald in Karolines weiche Arme, um an ihrer üppigen Brust, an ihrem vollen, stets kußbereiten Mund die Freuden der irdischen Lust, der himmlischen Schwarmseligkeit zu genießen. Bald preßte sie ihn an Charlottes kleinen Mädchenbusen, und er schlürfte im Geist die stillen unschuldigen Küsse, die sie ihm bot, von ihren Lippen, deren obere, was ihn stets wieder neu erfreute, ein wenig vorstand.

Schließlich gedachte Schiller, von der nämlichen Leidenschaft für die beiden Schwestern beseelt, eine Zeitlang an ein Zusammenleben in einem gemeinsamen Haushalt. Wie sie beide auf ihn zuflogen, jedesmal, wenn er den Garten von Rudolstadt betrat, erst die ältere Karoline und dann etwas scheuer Charlotte, und man in gegenseitigen Umschlingungen einander die Freude des Wiedersehens beteuerte, so sollten sie auch bis zuletzt zueinander gehören und sich gegenseitig dies irdische Dasein verschönern. »Wie herrlich wird es erst sein!« malte er den beiden in Briefen aus, die er zwischendurch an sie richtete: »wenn ich nur von einem Zimmer ins andere zu gehen brauche, um bei Euch zu sein, wenn ich jedes aufglimmende Gefühl meiner Seele sogleich in die Eure überströmen kann und Euer schlagendes Herz glücklich an dem meinen fühle.«

Was diesen Plan des Dichters erleichterte, ja von vornherein möglich machte, war die innige Freundschaft und Einigkeit, die von Kindheit an die beiden Schwestern verband. Gerade weil sie so verschieden geartet waren, paßten sie vielleicht so vortrefflich zusammen. Schon einmal hatte ein ähnliches Geschick die beiden berührt. In der Liebesenttäuschung. Karoline war tief unglücklich in ihrer Versorgungsehe mit einem Geheimrat, von dem sie sich ehestens scheiden ließ. Und die gute Charlotte hatte ein kleines schmerzliches Liebesabenteuer mit einem englischen Hauptmann hinter sich, der sie noch vor der öffentlichen Verlobung verließ, als ihn seine Regierung nach Indien versetzte. Nun schien die Neigung für den einzigen großen Mann, der sich in gleicher Weise an ihnen entzündete, die beiden Schwestern wieder in einem diesmal freilich glücklichen Schicksal anzuähneln.

Aber die Verbindung dreier Menschen zu einer seligen Gemeinschaft, die so selten auf Erden möglich ist, war auch hier, wo die Vorbedingungen höchst günstig lagen, nicht durchzuführen. Charlotte war die erste, die unter diesem Verhältnis zu dreien litt. Sie wurde nicht eifersüchtig auf die Schwester. Aber sie fürchtete, neben ihr, der Anziehenderen, Lebhafteren und Begabteren, nicht bestehen zu können. Sie fragte sich im stillen besorgt, ob sie, die Sanfte, Aufopferungsfähige, deren höchster Wert nur ihre rührende, gleichbleibende Liebe für Schiller war, diesem rastlosen, feuertrunkenen Geist genügen würde. Ob nicht die großartigere, kluge und ins Weite schwärmende Karoline ihn eher verdiente und zu einem höheren Schaffen und Leben anregen könnte?

Durch diese Beunruhigung in der Seele Charlottes kam die früheste Trübung in die Dreieinigkeit dieser Menschen. Schiller versuchte vergebens, der jüngeren der beiden Schwestern eine solche Beängstigung auszureden. Mündlich und noch mehr in Briefen, in denen man in jener Zeit der empfindsamen Seelenbündnisse vor dem Freund oder der Freundin sein Innerstes widerspiegelte. Umsonst versicherte er ihr, daß er sie mit dem nämlichen glühenden Gefühl wie die Schwester Karoline umfasse. Im Herzen der guten Lotte, des »lieben Lolochen«, wie Goethe und Frau von Stein sie später mit Kosenamen nannten, blieb ein Schatten zurück, der sich langsam mehr und mehr auch dem gern reflektierenden Dichter mitteilte. So hart und schwer es ihm wurde, er mußte sich sagen, daß beide Schwestern ihm nicht zuteil werden könnten, daß die jüngere fester und eigenwilliger als die schwankende, geniale Schwester Karoline ihm seelisch entrinnen würde, wenn er diese Liebesgemeinschaft zu dritt länger aufrechterhalten sollte. War er dann endlich so weit, daß er sich dies klar ins Bewußtsein brachte, so zauberte ihm seine Verliebtheit, so wie eine entzündete Kerze die Zeichnungen in den damals beliebten chinesischen Lampenschirmen aufglühen ließ, das Bild der flammenden, empfänglichen und schöpferischen Karoline so verlockend vor, daß er die Entscheidung zwischen den beiden wieder hinausschob. Auch Karoline, die ältere, liebte ihren Dichter auf ihre sinnliche, brennende Weise nicht minder als die jüngere Charlotte. Und die Briefe, die sie als Antworten auf die seinen an Schiller zurückstrahlte, sind von solcher Leidenschaft erfüllt, daß die Tochter des Dichters sie aus frommer Rücksicht später vernichten zu müssen glaubte.

Lottes Herzensnot wurde indes immer qualvoller. Sie gab dem Freunde die »Stella«, Goethes Jugenddrama in der ersten Schlußfassung, nach der Fernando sich der Liebe zweier Frauen erfreuen darf, mit Tränen in den Augen zurück. Und er fand deren Spuren noch auf den letzten Seiten des Buches, die er infolgedessen mit Küssen bedeckte. »So kann es nicht weitergehen!« Diese wenigen Worte, die sich der Liebende in ähnlicher Lage dann häufig wie einen Entschluß vorhält, um ihm ebensohäufig wieder auszuweichen, standen in der letzten Zeit seines Aufenthalts in Rudolstadt fast beständig wie eine Mahnung im Gemüt des Dichters.

Sie begleiteten ihn auch auf dem Abschiedsgang, den er an einem Spätherbstmorgen von seinem Dörfchen zu den beiden Schwestern unternahm. Mit nicht mehr wegzuleugnender Deutlichkeit ward es ihm klar, daß er Lotte verlieren würde, wenn er noch länger zwischen beiden pendeln sollte. Sie wollte zugunsten der Schwester entsagen und verzichten, dies war nun auf ihrer offenen edlen Stirn für den Freund, wenn er Augen für sie hatte, zu lesen. »Sie liebt mich also mehr als Karoline. – Oder weniger?« Schon war der Dichter wieder mitten im Grübeln und Klügeln. Von Natur, so gern er sich auch sittlich gefestigt gab, war er keineswegs entschieden und bestimmt. Und er mußte sich, um dezidiert zu erscheinen, meist erst einen Ruck und eine Haltung geben. Wenn ihm das Schicksal doch in diesem schwierigsten Zwiespalt seines Lebens ein äußeres Zeichen weisen wollte, so dachte er auf dem Weg zu den beiden, von denen eine vorzuziehen ein Unrecht gegen die andere war. Und gegen sich selber, sinnierte er weiter. Nie würde er aus eigener Entschließung sich nur auf eine der lieblichen Gestalten beschränken können. Keine von ihnen war zu entbehren.

Wenn er sich nur das zunächst Zurückliegende vormalte, die Trennung am gestrigen Nachmittag, so sank ihm der Mut und die Kraft, mit der Bevorzugung einer der Schwestern die andere zu verletzen und zu verstoßen: Beide hatten sie ihn gestern noch ein Stück heimgeleitet, nachdem er sich von der »chère mère«, der alten adelsstolzen Mutter von Lengefeld, in deren Haus die Schwestern lebten, förmlich empfohlen hatte. Bis über die Saale waren sie mit ihm gegangen. Es war schon recht herbstkalt gewesen. Da hatte Lotte auf einmal, von zärtlicher Besorgnis für den Freund ergriffen, ihren Schal, der noch warm von ihr war, von ihrem Hals genommen und um die hohen Schultern des Freundes gelegt. Und das schönste dabei war der Blick ihrer blauen, milden Augen gewesen, mit dem sie voll Güte auf dem Antlitz des Dichters verweilt hatte. Am liebsten hätte sie wohl die Fülle ihres dunklen Lockenhaares, das sie lose hängend umrahmte, noch mit hinzugegeben. Gewiß! Das war wonnevoll gewesen. Und seine Lider feuchteten sich, als er sich dessen entsann, und daß sie lächelnd auf seine Vorstellung, sie würde selber nun frieren müssen, erklärt hatte, sie könne mit ihren einundzwanzig Jahren ja bis nach Hause zurücklaufen, wenn es ihr zu kühl werden sollte.

Aber auch der Abschied von Karoline war reizvoll gewesen, wie ihm nur zu gut einfiel: Lachend hatte sie sich an dem Liebesspiel zwischen der ihr seelenverwandten jüngeren Schwester und dem angebeteten Freund gefreut. Und schon hatte sie mit Charlotte den Rückweg angetreten. Da war Karoline plötzlich noch einmal auf den sich nach ihnen umblickenden Dichter zurückgeeilt. Aus einem inneren Anstoß hatte sie ihn heiß umschlungen und an ihre volle, weiche Brust gedrückt und dabei die loderndsten Küsse mit den Wurzeln gleichsam von seinen Lippen gesogen. »Welch ein himmlisches, unerschöpfliches Glück für uns, daß wir dich haben!« hatte es aus ihr herausgejubelt. Und dann hatte sie ihm die beiden dunkelblauen Astern, die vorn zwischen ihren Brüsten beinahe bei ihren Liebkosungen zerdrückt waren, auf den Rückweg mitgegeben, auf daß die Blumen ihm, dem Freund der Gerüche, noch ein paar hohe Gedanken zuduften möchten.

Ach! Nie, nie, wiederholte er sich, würde es ihm möglich sein, eine von solchen zwei herrlichen Schwestern herzugeben! Das hieße sich und sein flüchtiges, irdisches Dasein seines Schmelzes berauben! Das wäre eine Verarmung, der er sich freiwillig niemals unterworfen hätte. Doch es mußte sein. Auch sein Verlangen nach Ruhe, sein Bedürfnis, dichterisch weiter zu schaffen und die seit der Beendigung des »Don Carlos« ruhende dramatische Arbeit neu aufzunehmen, drängte schließlich zum Handeln. In hin- und herflutenden Gedanken über die Notwendigkeit einer Entschließung in seinen Liebeshändeln war er bis vor diese schmale Saalebrücke gelangt. Von drüben winkten ihm die beiden Schwestern schon entgegen, vor Freude über sein Kommen gerötet. Jetzt, so betete er stumm zum Schicksal, möchte mir doch von außen ein Fingerzeig werden, nach dem sich die Stimme in meinem Innern richten könnte. Wie sein König Philipp und Wallenstein flehte er darum, mit dem stillen, feierlichen Gelöbnis, sich dem Zeichen, wie es ihm auch zuteil würde, und für wen es auch sprechen sollte, blind zu unterwerfen. Die beiden Schwestern schickten sich drüben an, ihm auf der Brücke zuzuschreiten. Der Steg ist so schmal, daß man nicht zu zweit nebeneinander darübergehen kann. Und wörtlich, wie er später seinen Wallenstein in der Traumerzählung vom Morgen nach der Schlacht bei Lützen sprechen läßt, redete jetzt der Dichter:

»Gib mir ein Zeichen, Schicksal! Die soll's sein,
Die an dem heut'gen Morgen mir zuerst
Entgegenkommt mit einem Liebeszeichen!«

Schon wollte auf der anderen Seite des Flüßchens Karoline als ältere zuerst hinübergehen. Und das Leben Schillers und seine Kunst wären damit ganz anders geworden. Da blieb Karoline im letzten Augenblick stehen. Und als hätte sie mit einemmal den höheren Wert der festeren, bescheidenen und milden Schwester innerlich voll erkannt, ließ sie zurücktretend die jüngere Schwester vor sich hergehen. In der Hand eine schwellende Aprikose, die sie, immer auf das Behagen des Geliebten bedacht, sich für ihn aufgespart hatte, kam Charlotte somit als erste dem Dichter entgegen, der ihren Schal ihr wie eine Freudenfahne zuschwenkte. Das Schicksal hatte für sie entschieden. Und mit der ihm eigenen Kraft, sich selbst zu überreden, wenn er es als notwendig erkannt hatte, lenkte Schiller fortan sein Herz ihr allein zu, um fünfviertel Jahre später seine Charlotte, »die einzige, die dauernd für ihn paßte«, wie er stets aus seiner glücklichen Ehe beichtete, als seine liebe Frau heimzuführen.

»Diese schmale Saalebrücke«, so schloß mein Kantor von Rudolstadt seine Erzählung, »hat demnach in Schillers Leben eine ähnliche Rolle wie der berühmte Scheideweg im Dasein des Herkules gespielt. Als ich noch jünger war und glaubte, ein Dichter werden zu können«, fügte der Erzähler der Geschichte noch schalkhaft hinzu, »da hab' ich aus diesem Erlebnis Schillers ein Poem von soundso viel Strophen verfertigt. Eine Art von Ballade oder Fabel, glaub' ich. Ich will Sie nicht damit langweilen und Ihnen, was ich Ihnen soeben in ungebundener Rede berichtet habe, nun in gebundener wiederholen. Nur die moralische Nutzanwendung, die ich dem Gedicht als tugendhaften Schwanz angehängt hatte, darf ich Ihnen wohl noch mitteilen. Sie ist ganz kurz und lautet:

Ihr Liebenden, die euch der Zweifel quält,
Wen ihr euch dauernd wohl zur Frau erwählt,
Und lange zwischen zwei gleich werten schwankt,
Bis euer Herz vor Ungewißheit krankt,
Und könnt' euch immer noch nicht fest entscheiden,
Und bliebt am liebsten ewig zwischen beiden,
Schick' euch das Schicksal, eh' ihr gänzlich matt,
Dann eine Brücke wie in Rudolstadt!«


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