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Das Rätsel
oder:
Ein poetischer Wettstreit

Es war zu der Zeit, da bei uns in vornehmen und gezüchteten Kreisen, durch eine Reihe von Künstlern und Denkern veranlaßt, die Mode entstanden war, sich für die Kunst und die Art der Renaissance, wie sie vornehmlich in Italien geblüht und gewirkt hatte, zu begeistern, als ein junger österreichischer Offizier beim Manöver im Herbst für eine Nacht auf einem herrschaftlichen Landsitz Quartier bezog. Die beiden Herrinnen des Hauses, zwei anmutige Frauen im schönsten Alter dieses Geschlechtes, das heißt: zwischen dreißig und vierzig Jahren lebend, empfingen den ihnen plötzlich angekündigten Gast in Abwesenheit ihrer beiden Männer, zweier Brüder, die in einer Familienangelegenheit nach Wien gereist waren. Man nachtmahlte unter wechselnden Gesprächen zu dreien auf der Gartenterrasse des Herrenhauses beim Schein der Kerzenleuchter, die in der Stille eines Oktoberabends auf dem weißgedeckten Tisch brannten. Die Unterhaltung kam zum Schluß der Mahlzeit bei den Trauben und Nüssen auf die damals allgemein verbreitete Schwärmerei für die Renaissance. Die ältere der beiden Damen holte, während die jüngere den Kaffee reichte, Bücher und Abbildungen von Werken aus jener verehrungswürdigen Zeit herbei, und man tauschte, über diese Zeugnisse einer großen Wende der Menschengeschichte gebeugt, in der anregendsten Weise Ansicht gegen Meinung und Meinung gegen Überzeugung. Der junge Offizier war bei dem notwendigen Vergleich jener und unserer Zeit, der sich ihnen immer wieder aufdrängte und der ihr ganzes Gespräch recht eigentlich belebte, des Glaubens, daß wir Heutigen, einzeln wie auch als Glieder und Bildner einer Gesellschaft, weit hinter den Menschen der Renaissance und ihrer Lebensführung zurückständen. Er hielt dafür, daß wir weder die Freiheit der Persönlichkeit hätten und schätzten, die damals gepflegt und gefeiert wurde, noch auch die ungezwungene und selbstverständliche Gleichberechtigung der Geschlechter, wie sie aus den Stücken Shakespeares, den Werken Michelangelos zu uns redete, noch auch schließlich die schöne Unbefangenheit zwischen Mann und Frau, die zu jener Zeit das Nebeneinanderleben der beiden ebenso leicht wie edel gemacht habe. Heutzutage seien diese zwei Parteien gegeneinander aufgestört oder gar aufgehetzt, und wenn nicht einander gleichgültig, so doch voreinander gezwungen, scheu und befangen. Dies zu beweisen, ging er auf unsere Literatur ein, in der fast nur die sinnlichen und fast nie die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Geschlechtern geschildert und gefeiert würden, sowie auf die gewaltsame Trennung der Geschlechter im bürgerlichen Leben, in der Erziehung und in der Moral, und auf die falsche Schamhaftigkeit, die auf jeder Seite dadurch entstanden sei. Die jungen Frauen verteidigten mit dem Liebreiz ihrer Jahre und ihrer verschiedenen Gemütsart ihr Geschlecht, das ihrer Meinung nach nicht die Schuld an einer Entfremdung zwischen Mann und Frau trage, und das heute noch ebenso großartig und frei wie im Cinquecento dem Mann und seinem Wesen gegenüberstehen könne.

Der Offizier, der von den vereinigten Redekünsten seiner schönen Gegnerinnen, die treu gegen ihn zusammenhielten, sich immer mehr in die Enge getrieben fühlte, erklärte schließlich, angefeuert durch einige bei der Mahlzeit getrunkene Gläser Weins, die jetzt in der Nachtluft seine braunen Wangen erglühen ließen, einen offensichtlichen Beweis für seine Ansichten erbringen zu wollen. Er gestand unter Lachen, was die Frauen längst erraten hatten, daß er neben seinem ihm sehr wohl anstehenden Offiziersberuf noch die Gelegenheitkunst des Dichtens betreibe. So habe er, fuhr er immer röter werdend fort, heute mittag in dem Gehölz, in dem mit seinem Fähnlein Rast gehalten wurde, auf eine Seite seines Kommandobuches ein Sonett niedergeschrieben, eine Art Rätsel, dessen Reiz nicht so sehr in der Auflösung wie in den Antworten und Gegenstücken liegen würde, die es hervorrufen könnte. Er habe eine Weile daran gedacht, das Blatt mit seinem Gedicht wie zur Zeit von Shakespeares Komödie »Leid und Lust« an einen Baum zu heften, als ihn die Nachgedanken an unsere rohen und gefühllosen Tage diesen hübschen Plan hätten gänzlich sinnlos und widrig erscheinen lassen. Wenn er es jetzt wagen würde, dieses mit seinem Sonett beschriebene Blatt auf dem Platz, auf dem er sich so gut wie noch nie in seinem ganzen Leben unterhalten hätte, zurückzulassen, so möchten die beiden Damen ihm wenigstens zugute halten, daß sie selbst es gewesen seien, die ihn zu einer solchen handgreiflichen Widerlegung ihrer schönen, freien, aber leider falschen Meinungen von dem Geist unserer Zeit und ihres Geschlechtes geradezu getrieben hätten. Er sei sich seiner Kühnheit wohl bewußt, aber er könne als Soldat, der sich nicht besiegen lassen dürfe, nicht anders handeln, indem er gegen einen solchen ihm zwiefach überlegenen Gegner seine Stellung nur durch einen verzweifelten Angriff, der ihm vielleicht alles kosten und nehmen würde, zu behaupten versuchen müsse. So seinen einen Beruf mit seinem andern entschuldigend, verabschiedete er sich von den beiden Frauen, da es während ihres Gespräches schon spät geworden war, und da er zudem am anderen Morgen leidlich früh wieder aufbrechen mußte. Er war froh, als er die Nacht um sich fühlte und den klugen Augen seiner gastlichen Schönen nicht mehr zu begegnen brauchte. Das Sonett, das jetzt gleichsam seinen leeren Platz gegenüber den beiden Frauen einnahm, war überschrieben: »Das Rätsel« und lautete also:

In einem Wald, geheimnisvoll verschwiegen,
quillt eine Quelle zwischen weichem Moos,
verborgen wie in einem tiefen Schoß,
zu der ein jeder gern hinabgestiegen.

Der Stärkste mag vor ihr sich willig biegen,
der Schwächste fühlt an ihr sich stolz und groß.
Doch wer sich ihr auch naht, gewaffnet bloß
darf er in ihren warmen Fluten liegen.

Sie ist der Menschheit schönstes Heiligtum,
das meiste, was geschieht, geschieht um sie.
Sie bringt ein jedes Blut zur Harmonie,
sie stillt den Kummer und sie tränkt den Ruhm.

Ein jeder Mann dankt ihr sein ganzes Leben,
um sich im höchsten Glück ihr ganz zu geben.

Am nächsten Morgen, als der junge Offizier von einem Diener zum Frühstück geleitet wurde, das man wieder draußen auf der Terrasse angerichtet hatte, war er durchaus nicht überrascht, ja, eher erleichtert, als er seine beiden lieblichen Gastgeberinnen nicht an der Tafel vorfand. Er setzte sich an seinen Platz vom gestrigen Abend und sog mit Wonne die frische, kühle Morgenluft, die Blume des Tages, ein. Er versuchte in Ermanglung der beiden Damen sich mit dem Strauß offenbar eben gepflückter roter Herbstrosen, an denen noch die hellen Tautropfen hingen, zu trösten, als er auf einmal zu seiner höchsten Verwunderung unter der Vase, in der sie dufteten, gerade vor sich, zwei beschriebene Blätter fand. Sie waren anscheinend von den beiden jungen Frauen, ihn völlig von seinem falschen Urteil über unsere Zeit und den heutigen Geist ihres Geschlechtes zu bekehren, dort hingelegt worden. Er nahm sie und las leise für sich erst dieses eine Gegenrätsel als Antwort auf das seine:

Ihr Frauen, die ihr fröhlich seid am Lichte,
erratet, was ich euch zu raten bitte:
Ein stolzer Pfeil ist's, der es niemals litte,
daß diese schöne Welt je werd' zunichte.

Aus Gottes Bogen schnellt er in die Richte
auf euer Herz, daß er es bald zerschnitte.
Kein Pflug, der lieber auf dem Acker ritte,
kein Durstiger, der süß're Quelle sichte.

's ist ein Tyrann, der kindlich weiß zu schmeicheln,
ein Nimmersatt, den ihr doch leicht gestillt,
ein Untier auch, zu schonen nie gewillt
und hitz'ger nur durch Sänftigen und Streicheln.

Doch tut nicht ängstlich, liebe kluge Frauen;
ihn zu bezwingen, kann man euch vertrauen.

Und dann lauschte und sagte er sich dieses zweite vor:

Den heuchlerisch die keuschen Schönen schelten,
nach dem doch heimlich jede noch entbrannt,
den aus Verachtung nie ein Christ genannt,
und ohne den kein Mann doch möchte gelten,

so undankbar wie dir zeigt man sich selten,
bist anmutvoll dem Auge, zart der Hand,
voll Duft wie reife Ähren sonnverbrannt,
zu deinem Ungestüm die Grazien sich gesellten.

Zärtlicher Spiele lieblicher Gefährte,
der echten Tugend warst du niemals Feind.
Glückliches Volk, das göttlich dich verehrte,
da reiner Trieb nur Liebende vereint.

Dein Blütenschaft tropft ewiger Freuden Tau
und schenkt allein Unsterblichkeit der Frau.

Der junge Offizier, der sich ebenso anmutig wie vollkommen widerlegt und überwunden fühlte, blickte jetzt auf und sah die beiden schönen Frauen in einer leichten, farbigen Morgentracht herannahen. Er erhob sich, sie als ihr Besiegter zu begrüßen. Man blickte und lächelte einander frei und heiter an, und die Frauen gestatteten ihm fröhlich, die Urheberschaft der zwei Sonette zwischen ihnen beiden zu erraten, ohne daß sie ihm freilich versprachen, zu sagen, ob er es richtig getroffen habe. Die beiden jungen Gatten der Damen, die mit dem Nachtzug von Wien heimgereist waren, kamen, vom Bade erfrischt, bald darauf herzu. Man erzählte ihnen, indes der junge Offizier seinen Leuten den Befehl zum Aufbruch ins Manöver gab, was vorgefallen war. Und unter allseitigem Scherzen und Lachen endete dieses Frühstück im Freien, die Einquartierung des jungen Offiziers und eines der entzückendsten und artigsten Abenteuer unserer Zeit.


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