Rudolf Eucken
Mensch und Welt
Rudolf Eucken

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2. Festlegung der Hauptrichtung

Daß der geschilderte Befund des Lebens dieses nicht ganz erschöpft, das verraten jene Lebensordnungen selbst, indem sie hinter sich etwas liegen lassen, das sie weder entbehren, noch auch erklären können. Die Gestaltung, dieser Leitbegriff der antiken Lebensordnung, setzt ein Leben voraus, das sich in der Gestaltung sucht und findet, das ihr allererst eine Seele einhaucht, dessen Verdunklung oder Schwächung daher das Wirken und Streben seelenlos zu machen droht; das zeigt der Verlauf des antiken Lebens deutlich genug: mit aller Überlegenheit seines Wissens und seiner logischen Energie bleibt Aristoteles doch hinter Plato an Geistestiefe zurück, weil ihm jenes begründende Leben zurückweicht; auch verschuldet nichts mehr die Verzerrung der Antike zu einer glatten und kalten »akademischen« Form als das Verkennen des sie durchwaltenden Lebens mit seinen aufregenden Problemen. Ähnlich steht es mit der religiösen Lebensordnung. Auch sie gewinnt ihre volle Tiefe erst aus der Kraft und dem Gehalt des Lebens, das aus der Verbindung der Menschenseele mit dem Gottesgeist hervorgeht; die noch so eindringliche Gegenwärtighaltung einer höheren Macht und das noch so willige Sichbeugen vor ihrer Autorität schützt nicht vor einem krassen Aberglauben, ja nicht vor einer argen Verkehrung des Lebens; wissen wir doch, daß selbst zu schweren Verbrechen in ungeheuchelter Andacht der Name Gottes angerufen ward. Am greifbarsten aber ist die Notwendigkeit einer Ergänzung der modernen Systeme der Kraftentfaltung, denn steht hinter der Kraft kein Leben, das in ihrer Aufbietung wirkt und wächst, so behütet höchster Eifer und größte Leistung nicht vor schmählicher innerer Leere, wie uns manche Erfahrung der Neuzeit mit voller Anschaulichkeit zeigt.

Auch im inneren Gewebe treibt das Leben selbst, nicht bloß menschlicher Wunsch, über die geschichtlichen Ordnungen hinaus. Sie alle erheben sich auf einen dem menschlichen Getriebe überlegenen Standort, auf dem sie sich eines Zusammenhanges mit dem Ganzen der Wirklichkeit sicher fühlten, aber diesen Standort selbst vermochten sie nicht genügend gegen alle Zweifel zu sichern. Die alte Denkart ergriff den Kosmos und sah von ihm aus das menschliche Leben, aber wie viel Recht der Gedanke eines künstlerischen Weltgefüges haben mag, seine beherrschende Stellung konnte er nicht behaupten; im besonderen geriet der unmittelbare Zusammenhang des Menschen mit dem All in Zweifel, und es setzte die Neuzeit der Bewegung vom Weltgefüge zum Menschen die umgekehrte als besser begründet entgegen. Der religiösen Ordnung wurde der Gottesgedanke zum tragenden Grunde des Lebens, denn bei ihm liegt der beherrschende Mittelpunkt der Religion, nicht beim Menschen und seinen Bedürfnissen. Wieviel Zweifeln aber der Gottesgedanke und seine Herrscherstellung ausgesetzt ist, steht uns heute deutlich vor Augen; er ist für den Menschen der Gegenwart nicht mehr ein selbstverständliches Axiom und ein sicherer Ausgangspunkt, er ist zu einem schweren Problem geworden, dessen Bejahung eine Begründung fordert; wie aber könnte sie begründet werden ohne ein Zurückgehen auf etwas Ursprünglicheres, das notwendig zu jenem führt oder in dem es sich uns zu erkennen gibt? Nicht anders steht es mit der Vernunft, dem Leitgedanken des modernen Lebens. Denn daß der Vernunftgedanke dem Zweifel mindestens ebenso offensteht wie der Gottesgedanke, das konnte sich nur deshalb verdunkeln, weil ein psychologischer und ein kosmischer Sinn des Begriffes vielfach ineinander überflossen. Daß eine höhere Stufe der Intelligenz, überhaupt ein der Sinnlichkeit überlegenes Vermögen in der menschlichen Seele erscheint, das ist nicht wohl zu bestreiten; das erweist aber nicht im mindesten, daß ein entsprechendes Vermögen das ganze All durchwaltet, daß die Vernunft eine Weltmacht, ja die höchste Weltmacht bildet. Um das getrost zu bejahen, dazu stehen dem modernen Menschen die Mängel, Schäden, Widersprüche der Welt, auch die starre Tatsächlichkeit ihres Befundes, viel zu deutlich vor Augen. So treibt es auch hier über den besonderen Begriff hinaus und will begründet haben, was sich als grundlegend gab. Damit gilt es sich eines Standorts zu versichern, der noch weiter zurückliegt, noch untrennbarer mit dem Ganzen unserer geistigen Existenz verknüpft ist als die geschilderten Lebensordnungen. Die unmittelbare Lage bietet einen solchen keinenfalls, nur in Erhebung über sie könnte er zu erreichen sein.

Hier nun setzt die Behauptung einer Lebensordnung ein, die der von uns vertretene Gedanke eines schaffenden Beisichselbstseins mit seiner Wesenserzeugung und seiner Inhaltsbildung enthält. – Auf einen solchen Gedanken führt schon der allgemeinste Begriff des Lebens. Wenn sich Leben dadurch von allem was außer ihm ist unterscheidet, daß in ihm etwas Eignes vorgeht, sich ein eigner, wenn auch noch so kleiner Daseinskreis bildet, so liegt in ihm eine Aufgabe und ein Problem, so kann unmöglich ein Leben, das ganz und gar in die Beziehungen nach außen aufgeht, seinen tiefsten Grund und seinen letzten Abschluß bilden. Jenes geschieht aber auf der Stufe der Natur, die weit auch in den menschlichen Kreis hineinreicht; denn es ist ein Widerspruch, daß eine Innerlichkeit besteht, die nichts für sich selber ist, die sich ganz und gar in die Selbsterhaltung im Nebeneinander der Wesen erschöpft; ein volles und echtes Leben ist nur als ein Beisichselbstsein möglich, und daß ein solches Beisichselbstsein innerhalb des Bereiches der Menschen zur Wirklichkeit wird, darüber waltet kein Zweifel. Von einem Beisichselbstsein des Lebens läßt sich aber nur reden, wenn in ihm eine Scheidung von Konzentration und Expansion und damit eine Abstufung erfolgt, eine umfassende Einheit sich von einer umfaßten Mannigfaltigkeit abhebt und die einzelne Stelle dieser zu ihrem Ausdruck gestaltet. So nur kann sich ein Ganzes im gesamten Umkreis erleben. Um das leisten zu können, darf aber die Einheit kein bloßer Punkt verbleiben, an dem die Mannigfaltigkeit lediglich sich begegnet, ohne eine Weiterbildung zu erfahren, es muß die Einheit eigentümliche Wirkungen üben und darin selbst einen eigentümlichen Charakter erweisen. Es müssen bei der Wendung zu ihr neue Kräfte hervorbrechen und erhebliche Wandlungen vorgehen, es muß von hier aus ein Messen und Schätzen erfolgen, es kann erst von hier die Frage nach einem Gehalt und nach einem Sinn entstehen.

Diesem Gedankengange begegnet nun eine durchgehende Erfahrung des menschlichen Kreises. Er zeigt oft, ja meist ein Verbleiben des Lebens bei der Vereinzelung, vieles wird ohne Einsetzung eines Ganzen unserer Seele verrichtet. Aber Größen wie Überzeugung, Gesinnung, Denkart hätten keinen Sinn, wäre mit jener Vereinzelung abzuschließen; sie sind ja keineswegs ein müßiger Hintergrund, vor dem sich etwas abspielt, sondern richtig verstanden sind sie Mächte, von denen ein erhöhendes und zusammenhaltendes Wirken ausgeht, erst durch sie wird ein Handeln voll unser eigen und steigert sich die Tätigkeit zur Selbsttätigkeit. Wir erreichen damit ein Selbst, das sich in dem Geschehen erlebt, sich entfaltet und weiterbildet. Es kommt hier namentlich zur Geltung, was unsere Untersuchung durchgängig verfocht, daß das Leben auf seiner höheren Stufe ein Scheiden und Wiederverbinden ist; es geht, die Verworrenheit der niederen Stufe überwindend, zunächst in Kraft und Gegenstand auseinander und bildet damit zwei gegeneinander relativ selbständige Reihen, aber es endet nicht mit dem Gegensatz, auch begnügt es sich nicht damit, die eine Seite der anderen unterzuordnen, entweder die Kraft dem Gegenstand, was das Leben objektivistisch gestaltet, oder den Gegenstand der Kraft, was zum Subjektivismus führt. Vielmehr bringt es mit der Wendung zu einer überlegenen und umfassenden Volltätigkeit beide Seiten wieder zusammen, was nicht ohne eine gegenseitige Erhöhung, nicht ohne die Bildung eines sie umfassenden Werkes, einer Teilwirklichkeit geschehen kann. Erst solche Wendung läßt ein echtes Selbst entstehen und sich entfalten, aus ursprünglichem Schaffen entsteht eine Welt, die wohl besser Inhaltswelt als Innenwelt hieße, um die Vorstellung eines gegenüberliegenden Äußern fernzuhalten, da wir hier ganz in eine Eigenwelt des Lebens versetzt sind, die auch den Begriff eines Gegenstandes erst von sich aus hervorbringt. So vollzieht hier das Leben als Ganzes eine durchgreifende Bewegung, es wird keineswegs bloß nach einer besonderen Richtung betätigt, sondern es vollzieht seinem ganzen Umfang nach einen Aufstieg bei sich selbst, so daß man von einer Lebenstat gegenüber besonderen Taten sprechen könnte. Damit erst wird es ursprüngliches, wird es schaffendes Leben, und gewinnt es zugleich in sich selber Festigkeit und Sicherheit. Auch wird im Grunde so erst möglich, was Inhalt genannt wird, denn ohne ein begründendes und auf sich zurückbeziehendes Selbst schwebt dieser Begriff in der Luft; auch der Begriff des Wesens erhält damit erst einen rechten Sinn, er bedeutet dann nicht etwas, das hinter den einzelnen Vorgängen, sondern was über ihnen liegt und sie zusammenfassend erhöht. Wesen ist nicht Grundlage und Ausgangspunkt, sondern Aufgabe und höchstes Ziel, es befindet sich nicht hinter, sondern vor uns, wir besitzen es nicht, wir suchen es, und wir erreichen es nur durch erhöhende Lebenstat; demgemäß bedeutet, wenn wir von Wesensbildung sprechen, das nicht eine bloße Ausbildung eines schon vorhandenen Wesens, sondern die Erzeugung eines Wesens aus vordringender Schöpfertat.

So die Wendung zu einem Beisichselbstsein oder vielmehr einem Sichselbstschaffen des Lebens. Es wäre aber eine solche Wendung recht bedenklicher, ja entstellender Art, wenn dabei das Selbst die Besonderheit des bloßen Punktes bedeutete, die in Wahrheit ein bloß vorgetäuschtes Selbst ist; denn damit würde eine zufällige Art sich dem ganzen Bereiche aufdrängen und ihn unvermeidlich verzerren. So muß das erstrebte Selbst vielmehr dem Leben selbst innewohnen, es darf die Wandlung nicht von außen her, es muß sie von innen heraus vollziehen, damit aber entwächst sie der Enge und Zufälligkeit des bloßen Subjekts, das Leben erweist darin eine Selbständigkeit nicht bloß gegenüber dem einzelnen Menschen, sondern gegen den Menschen überhaupt; so verstanden kann es nicht wohl ein Erzeugnis der besonderen Stelle sein, es wird etwas, woran diese teilgewinnt, das sie aber zugleich als überlegen anerkennen und wie eine Gabe empfangen muß. Alles echte Schaffen ist zugleich eine Offenbarung, ein Gehobenwerden in einen überlegenen Lebensstrom.

Soweit kann dies alles als ein bloßer Schattenriß erscheinen; daß es in Wahrheit der Umriß eines eigentümlichen Lebens- und Wirklichkeitsbildes ist, das zeigt jeder Blick auf die Höhen deutschen Schaffens, auf Männer wie Luther, Kant, Goethe. So verschieden sie untereinander sind, schließlich teilen sie einen gemeinsamen Boden. Ihnen allen ist das Leben kein bloßes Verkehren mit der Umgebung, weder ein bloßes Empfangen von daher noch ein bloßes Wirken dahin, sondern der gesamte Umkreis des Geschehens samt dem, was zunächst draußen zu liegen schien, wird auf den eignen Boden der Seele versetzt, die sich damit vom bloßen Punkte zu einem Lebenskreise, ja einer Welt, einer bei sich selbstbefindlichen Welt erweitert; dieser Lebensbereich strebt nicht über sich hinaus, sondern er findet sein Ziel und Glück ganz in der eignen Vollendung. Das Leben wird damit zu einer geistigen Selbsterschließung oder vielmehr Selbstbildung und Wesenserzeugung, es läßt kein dunkles Sein hinter sich liegen, sondern es erreicht ein echtes, ein durchleuchtetes Sein, indem es bei sich selbst zu voller Einheit aufstrebt und zugleich sich einen Gehalt gibt. Die Welt aber, die damit aufsteigt, weiß und fühlt sich als volle Wirklichkeit; wie sie ihr Ziel in sich selber findet, nichts über sich hinaus zu leisten braucht, so bedarf auch ihre Wahrheit keiner Rechtfertigung von außen her, sie tragt sie in ihrem eigenen volltätigen und ursprünglichen Schaffen. Was war es denn, das Luther in Bewegung setzte und ihn getrosten Mutes den gewaltigen Kampf aufnehmen ließ? Es war eine innere Notwendigkeit des in ihm durchbrechenden Lebens, eine Notwendigkeit, die aber zugleich, weil sie ihm zu eigner Tat und Entscheidung wurde, die höchste innere Freiheit und Weltüberlegenheit gab. Das Leben, das daraus erwuchs, war im höchsten Sinne sein eigen und doch auch nicht sein eigen, es war jedenfalls mehr als sein eigen, es gehörte keineswegs ihm allein. Für Luther war der Gottesgedanke nicht bloß eine jenseitige, aus überlegener Höhe gebietende Macht, ihm gewann er die unmittelbarste seelische Nähe und wirkte aus solcher zunächst niederdrückend, ja erschütternd, dann aber erhöhend und beseligend. Die Bewegung verlief hier ganz und gar im eigenen Lebenskreise, der damit alle Enge eines individuellen Daseins durchbrach und eine innere Unendlichkeit gewann. Da hier das Verhältnis der Seele zu Gott, bei deutlicher Auseinanderhaltung von Mensch und Gott – das im Unterschied von der Mystik –, so innerlich wurde, daß es ein einziges, eignes Leben bildete, so verlor der Gedanke an Lohn und Strafe alle Macht, so lag alles an der Herstellung einer Gemeinschaft und eines Friedens der Seele, wenn auch durch Schmerz, Not und Tod hindurch. So konnte es heißen »einen Gott haben heißt etwas haben, worauf das Herz gänzlich traut«, auch gesagt werden, »daß nichts Gegenwärtigeres und Innerlicheres sein kann in allen Kreaturen denn Gott selbst«. Von sich selbst aber konnte Luther sagen: »Ich aber, Doktor Martinus, bin dazu berufen und gezwungen, ich mußte Doktor werden ohne meinen Dank aus lauter Gehorsam«. Aus solcher Unabweisbarkeit geistiger Selbsterhaltung quoll eine felsenfeste Gewißheit; die volle Nähe, die unmittelbare Gegenwart, ja das volle Zueigenwerden der Quelle alles Lebens ließ die Gebundenheit nicht als einen Druck empfinden, sondern eben aus ihr das Bewußtsein einer weltüberlegenen inneren Freiheit schöpfen. Indem so das Leben sich fest in sich selbst verankerte und die besondere Stelle in der Erweiterung zu einer Welt zugleich das Bewußtsein eines Getragenwerdens von höchster Macht erhielt, gewann jenes eine innere Größe, eine männliche Selbständigkeit; die Frömmigkeit aber entwand sich damit aller blinden und knechtischen Devotion und gewann einen durchaus mannhaften Charakter, sowie eine innere Freudigkeit; eine eingreifende Weiterbildung des Lebens ist in dem allen nicht zu verkennen.

Was Luther in der Richtung zur Religion, das vollzog Kant in der zur Moral: die Erhöhung zu einer selbständigen Welt auf dem eignen Boden der Seele. Moral ist ihm nicht eine Leistung für das subjektive Wohlbefinden, auch nicht eine für die menschliche Gesellschaft, auch nicht schuldige Ehrbezeugung für Gott, sondern ein volles Beleben eignen Wesens und volle Treue gegen dieses Wesen. Sie ist dabei so streng und so bindend wie nur möglich, aber, als aus eignem Wollen und eigner Entschließung entsprungen und fortwährend davon getragen, zugleich eine Erweisung höchster Freiheit. Auch ist sie so verstanden nicht eine bloße Summe einzelner Vorschriften, sie wird zur Schöpferin einer neuen Welt, einer Welt ursprünglichen Lebens. Als Miterbauer dieser Welt gewinnt der Mensch eine unaussprechliche Größe, sein Leben aber als freies einen unvergleichlichen Wert, neben dem kein anderer Wert selbständig bestehen kann. Das alles ist Eigenleben, aber ein Eigenleben, das sich aufs weiteste vor allem bloßen Individualsein unterscheidet, das für alle Geisteswesen gelten will und sich als den Kern aller Wirklichkeit weiß.

Wieder anders und doch im innersten Wesen verwandt, die Ursprünglichkeit mit ihrer Wesenserzeugung und Inhaltsbildung nur von einer anderen Seite ergreifend ist Goethe. Es hatte guten Grund, wenn er als den Hauptgewinn seines Wirkens und Wesens den an innerer Freiheit erklärte, »wer meine Schriften und überhaupt mein Wesen verstehen gelernt, wird doch bekennen müssen, daß er eine gewisse innere Freiheit gewonnen«. Worin aber bestand diese innere Freiheit, Freiheit zunächst des künstlerischen Schaffens, von da aus aber des ganzen Menschen? Darin vornehmlich, daß Goethe die draußen gelegene Welt ganz auf den Boden seiner Seele zog, sie hier erlebte, zugleich aber sie bei sich selbst belebte; dabei ward weder das Innere an das Äußere, noch das Äußere an Innere gebunden und ihm untergeordnet, vielmehr ward der Gegensatz überwunden, und es konnte heißen: »Nichts ist innen, nichts ist außen, denn was innen, das ist außen!« Das Selbst gewann hier die Welt nur, indem es sich zu einer Welt erweiterte; der Dichter fand die engste Verbindung mit den Dingen, ihre Sprache ward ihm vertraut, und indem er sein Eigenstes gab, enthüllte sich ihm zugleich ihr Eigenstes, ihre volle Gegenständlichkeit. So stand auch hier das Leben auf sich selbst und brauchte nicht von draußen her bestätigt zu werden, es fand seine Aufgabe in sick selbst, nicht in einer ihm von draußen auferlegten Forderung.

Das sind verschiedene Entwicklungen, aber unverkennbar sind sie alle nahe verwandt, und es wirkt durch sie alle dasselbe Ziel. Dieses Ziel aber läßt sich bezeichnen als der Gewinn einer vollen Selbständigkeit, einer inneren Freiheit des Lebens. Es ist aber dabei der Doppelsinn des Begriffs der Freiheit gegenwärtig zu halten. Freiheit hat sowohl eine negative als eine positive Bedeutung, dort ist sie Unabhängigkeit von Fremdem, hier Selbständigkeit im eignen Bereich; welche Bedeutung überwiegt, das entscheidet vornehmlich über die Gestaltung und auch den Wert der Freiheit an den verschiedenen Stellen; bei den schaffenden Geistern überwiegt die Selbständigkeit, hier führt sie die Unabhängigkeit als eine unabweisbare Folge mit sich. Die kleineren Geister hängen an der bloßen Unabhängigkeit und behandeln die Selbständigkeit als eine Nebensache, sie pochen auf Freiheit, ohne ihr einen Inhalt geben zu können. Aber auch die Selbständigkeit birgt in sich ein Problem: sie sei ja nicht als eine bloße Form des Lebens verstanden, sie erlangt eine volle Wirklichkeit nur in ursprünglichem Schaffen, im Erzeugen eines Lebenskreises, ja einer eigentümlichen Wirklichkeit. Nur im Schaffen steigt das Leben zu innerer Freiheit auf. Eben damit gewinnt es eine volle Wahrhaftigkeit, Wahrhaftigkeit nicht als bloße Vermeidung der Lüge, sondern als Verwandlung des Lebens in volles Eigenleben und als Einsetzen seines Ganzen an jeder besonderen Stelle. Die Lebenswelt aber, welche das Schaffen eröffnet, liegt zugleich im Menschen und über dem Menschen, es enthüllt sich in ihr eine Tiefe jenseit des bloßen Menschentums mit seiner Zerstreuung und seinen Gegensätzen. Ja, wie ursprüngliches Leben nicht auf unser Geheiß und durch unsere Anstrengung entsteht, sondern aus weiteren Zusammenhängen hervorgehen muß, so übt es eine zwingende Macht über die bloßen Individuen hinaus und verbindet die Menschen miteinander mit überwältigender Eindringlichkeit; schließlich bildet es die einzig mögliche Brücke zwischen dem Menschen und der Welt; denn das Reich des Beisichselbstseins, welches aus ihm hervorgeht, bedeutet nicht eine bloße Zutat zu einer vorhandenen Welt, sondern es ist überhaupt keine volle Wirklichkeit denkbar ohne ein solches Beisichselbstsein des Lebens; die Welt vollzieht in ihm eine Wendung zur Herausarbeitung eines Wesens, der Offenbarung einer Innerlichkeit. Die nähere Beschaffenheit dieser Offenbarung können nicht allgemeine Erwägungen lehren, das kann nur die Erfahrung schaffenden Lebens selbst enthüllen, wie sie in der Menschheit erfolgt. Solches Schaffen kennt keinen Gegensatz von Erscheinung und Sein; es kann aber ein Wesen den einzelnen Vorgängen entgegensetzen, sofern eine Gesamtbewegung den ganzen Bereich umfaßt, zusammenhält und eigentümlich gestaltet.

Was aber von solchem schaffenden Leben die führenden Geister nach besonderen Richtungen bekundeten, das gilt es nur zusammenzufassen und als ein Ganzes anzuerkennen, um in ihm den Keim einer eigentümlichen Lebensordnung gegenüber der Formbildung, Seelenhaltung, Kraftentfaltung zu erkennen. Es als einen solchen aufzuweisen, das muß uns jetzt zur Hauptaufgabe werden. Auch hier erscheint eine Ablösung vom bloßen Menschen und der Gewinn eines überlegenen Bodens, aber diesen Boden bildet hier nicht eine besondere Gestaltung oder Richtung des Lebens, sondern die Grundtatsache eines ursprünglichen Lebens selbst, dieses, daß es im Menschen unmittelbar als überlegene Macht ins Wirken tritt, starke Bewegung hervorruft, eigentümliche Kräfte erzeugt. So wird hier das Grundverhältnis des Lebens, das alle seine Entfaltung tragen muß, nicht das Verhältnis zum Kosmos, nicht das zur Gottheit, nicht das zur Weltvernunft, sondern das zum schaffenden Leben; innerhalb dieses Grundverhältnisses mögen jene eine große Bedeutung erlangen und sich als unentbehrlich für seine Entfaltung erweisen, aber sie müssen sich innerhalb jenes Bereiches dartun und von jener Grundtatsache aus gestalten. Das Urphänomen des Erscheinens und Wirkens eines Selbstlebens in uns steht freilich nicht als ein sichtbares Datum vor Augen und läßt sich nicht mit Händen greifen, aber es braucht auch nicht mühsam erschlossen zu werden, es bildet die Voraussetzung und die Grundlage alles die Natur überschreitenden Strebens, aller Bewegung zur Geistigkeit, alles Verlangens nach einer inneren Einheit des Lebens. Man kann diese Voraussetzung als selbstverständlich behandeln und sich damit der Anerkennung der großen Wendung entziehen, aber man kann das nur bei Verworrenheit des Denkens und bei mangelnder Lebensenergie; wo diese sich regt, da wird sie die Voraussetzung in eigne Tat verwandeln und zugleich die Gegenwart schaffenden Lebens als allesbeherrschendes Grundfaktum anerkennen. Vor der Frage nach der Richtung, welche das geistige Leben bei uns einschlägt, steht die, ob überhaupt geistiges Leben bei uns entsteht, ob wir Lebenszentren werden; ihre Bejahung aber hängt daran, ob ein überlegenes Leben bei uns in Wirkung tritt, und ob wir es als eigen ergreifen. In Frage steht dabei das Verhältnis von erweckendem Leben zu erwecktem oder vielmehr in Erweckung befindlichem Leben, in Frage, wie weit diese Weckung erreicht wird. Da schließlich alles auf das erweckende Leben hinauskommt, es auch in dem Erweckten sich selber wiederfindet, so ist das Leben letzthin ein Verkehren mit sich selbst, ein Verhältnis von Ganzem zu Ganzem; wir verstehen es von hier aus, wenn tiefere Denker in der Religion nicht sowohl ein Verhältnis des Menschen zu Gott als ein Verhältnis Gottes zu sich selbst erblickten, und wenn Goethe sagen konnte: »Gott begegnet sich immer selbst, Gott im Menschen sich selbst wieder im Menschen. Daher keiner Ursache hat, sich gegen die Größten gering zu achten.« Dieser Gedanke ist nur allgemeiner zu fassen und auf das schaffende Leben überhaupt auszudehnen. Nur sei dabei stets gegenwärtig, daß dies Wirken des Ganzen an der einzelnen Stelle oder vielmehr das Sichhineinlegen in die einzelne Stelle nicht mit mechanischem Zwange erfolgt, daß es ein Entgegenkommen fordert, das selbst freilich letzthin nur als ein Werk des Ganzen zu verstehen ist, aber als ein solches, das – das Wunder der Wunder – Selbsttätigkeit an der einzelnen Stelle weckt, sie eine Autonomie werden und selbständig mitwirken läßt. So bildet das Wirken jenes Selbstlebens in mir die unentbehrliche Grundlage und die Grundvoraussetzung meines geistigen Seins; ich kann, ohne alles geistige Leben bei mir preiszugeben, daran zweifeln, ob mich ein kunstvoll gefügtes Weltgerüst eines Kosmos umfängt, zweifeln auch, ob eine weltüberlegene Gottheit zu mir wirkt, zweifeln auch, ob die Welt der Erfahrung sich mir als ein Reich der Vernunft eröffnet, ich kann dabei auch in der Verneinung viel geistige Kraft entfalten. Aber ohne Selbstzerstörung kann ich nicht auf Teilnahme an jenem schaffenden Leben, auf eine Versetzung in dieses Leben verzichten. Weshalb von jenem Grundgeschehen aus die besonderen Lebensreiche entstehen mußten, wie die Durchwanderung der Geschichte sie ersehen ließ, das kann erst ein näheres Eingehen auf den tatsächlichen Stand der Menschheit und die daraus erwachsenden Aufgaben zeigen. Es verheißt aber für den ganzen Umkreis des Lebens bis in alle Verzweigung hinein einen Gewinn an Unmittelbarkeit, an Einfachheit und an Kraft, wenn alle nähere Entwicklung auf das Grundgeschehen aufgetragen und von ihm aus belebt wie durchleuchtet wird; auch wird sich nur von hier aus eine Verständigung der verschiedenen Lebensentfaltungen anbahnen lassen, die bald teilnahmlos nebeneinanderstehen, bald einander widerstreiten.

Somit erscheint die Eröffnung eines schaffenden Selbstlebens im Menschen als der Keim einer eigentümlichen Lebensordnung. Sie enthält die Grundtatsache einer Einwärtsbildung der Wirklichkeit, das Aufsteigen eines Beisichselbstseins der Welt, einer in ihr wirkenden Tiefe. Zugleich aber gewährt sie dem Leben einen neuen und festen Standort, sowie ein eigentümliches Maß alles Geschehens. Denn nunmehr tritt alles, was das Leben hervorbringt, unter den Gegensatz eines Wesenhaften und Wesenlosen, eines Innewohnens oder Mangels von wesenbildendem selbsthaften Leben. Schließlich spitzt sich alles zu der Frage zu, ob echtes oder bloß vorgespiegeltes Leben, ob Stehenbleiben bei hartem Widerspruch oder Überwindung seiner. Denn es ist ein harter, ein unerträglicher Widerspruch, zu leben und in Leben Wert zu setzen, ohne ihm irgendwelchen Inhalt geben zu können. Wirken auf Wirken zu häufen, dabei aber völlig leer zu bleiben. Der moderne Großstädter mag das in der Hast seines Daseins nicht empfinden, wir anderen aber empfinden es und wollen es geltend machen. Wir vergessen dabei keinen Augenblick, daß nicht der bloße Aufruf zum Handeln, nicht das bloße in Tätigkeit Versetzen uns einen Inhalt gewähren und uns damit dem Widerspruch entwinden kann. Denn alle bloße Zusprache oder auch Selbstermunterung des bloßen Subjekts verändert die Lage nicht wesentlich, allein auf sich selbst gestellt droht sie in ein hohles Pathos zu enden. Darauf vielmehr kommt es an, daß unter Versetzung in eine Welt der Tat erhöhendes Schaffen in uns durchbricht und an uns eine Erhöhung vollzieht, das sicherlich nicht ohne uns, aber doch nicht bloß als unser eigenes Werk. So erfahren wir es schon bei der Arbeit, die uns packt und ihren Forderungen unterwirft, uns über alle grübelnde Reflexion hinaus auf sichere Wege führt und dabei zugleich in höherem Sinne eignes Leben bildet; so erfahren wir es in gesteigertem Maße beim geistigen Schaffen, wo der Vorwurf sich nicht draußen befindet, sondern ganz und gar dem inneren Bereich angehört; so erfahren wir es als die Hauptsache darin, daß es nicht bei einzelnen Leistungen in dieser Richtung verbleibt, sondern daß auch im Ganzen unseres Bereiches eine Umkehrung erfolgt, daß wir aus gebundenen Naturwesen ein selbständiger Mittelpunkt, eine Lebensautonomie zu werden vermögen, als Persönlichkeiten zugleich weltumspannendes und ursprüngliches Leben bei uns aufbringen und damit den Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit überwinden können. Das alles aber unter deutlicher Abhebung einer inhaltbildenden Volltätigkeit von einer bloßsubjektiven Kraftanspannung.

Neben solcher Grundlegung hat aber eine Lebensordnung sich auch der Aufgabe gewachsen zu zeigen, eine Durchgliederung der Welt zu vollziehen und eine zusammenhängende Wirklichkeit aufzubauen; die Wesensbildung müßte dabei weiter zurückgehen und ihrer Welt mehr Selbständigkeit verleihen als die anderen Lebensordnungen tun. Daß dieses in Wahrheit der Fall ist, zeigt alle nähere Betrachtung des Gestaltens der Dinge; nur muß dabei gegenwärtig sein, daß hier die Gebilde sich nicht als fertige Daten darbieten können, sondern daß hier alles Gelingen ursprünglicher Tat bedarf; so zeigt hier der erste Anblick bloße Möglichkeiten, Fähigkeiten, die nur ein Ergreifen und Umwandeln in volle Wirklichkeiten verwandelt. Eine solche reale Möglichkeit bildet zunächst das Vermögen des Einzelnen, eine selbständige Autonomie, eine ursprüngliche Persönlichkeit zu werden und damit das eigene Leben aus der Kraft schaffenden Lebens zu führen. Eine derartige Möglichkeit liegt aber überall vor, wo sich im menschlichen Bereich feste Zusammenhänge bilden; so bei den Staaten, den Völkern, den Kulturen, schließlich der gesamten Menschheit –; überall entsteht das Entweder – Oder, ob sie bei dem bloßen Dasein beharren, oder ob sie eine Umkehrung zu einem wesenbildenden Selbstsein vollziehen, damit einen geistigen Charakter erlangen und diesen ihrer gesamten Betätigung mitteilen können; ersterenfalls sind sie nur vorübergehende Anhäufungen, die über sich selbst hinaus keine Bedeutung besitzen und schließlich ganz und gar der auflösenden Macht der Zeit verfallen; anderenfalls können innere Einheiten in ihnen erwachen, ein Weiterbilden des gesamten Lebensstandes vollziehen, ein Reich zeitüberlegenen Lebens eröffnen. Es genügt aber nicht eine derartige Bewegung zu besonderen Lebenseinheiten, auch eine innere Gestaltung eigentümlicher Art muß möglich sein, und dies ist in Wahrheit der Fall. Das aber in der Weise, daß wo ein Ganzes eine Mannigfaltigkeit umfaßt, es sich in die einzelnen Stellen hineinlegen und ihnen eine Selbständigkeit verleihen kann; so werden sie fähig innerhalb des Ganzen eine eigene Art zu entwickeln und mit dieser auf das Ganze zurückzuwirken. So ein Gewebe innerer Beziehungen, ein Austausch von Erfahrungen, eine Weiterbildung des Gesamtstands. So zunächst in der Seele des Einzelnen, wie wir im Selbständigwerden und Aufeinanderwirken einzelner Gedankenmassen und Interessengruppen fortwährend erfahren, so aber auch im Staatsleben mit dem Selbständigwerden einzelner Individuen und Gruppen, ohne damit aus dem Ganzen herauszutreten, so auch im Kulturaufbau, indem die einzelnen Lebensgebiete nicht bloße Ausführungen einer Gesamtbewegung bleiben, sondern innerhalb des Ganzen eine Emanzipation vollziehen und eine eigne Art erweisen, so in letztem Abschluß auch beim Ganzen der Wirklichkeit. Überall dabei eine durchgehende Belebung des ganzen Gebietes, überall ein Gewinn an Selbständigkeit und zugleich ein unermeßliches Wachstum des Gehalts. Dabei steht hier das Leben ganz auf sich selbst, es findet seine Aufgabe in sich selbst und gibt sich selbst eine Tiefe; es steht damit vor aller bloßen Formgebung, aller Kraftentfaltung, auch einer an ein Jenseitiges gebundenen Sinneswandlung. Alle diese Ordnungen haben sich von jenem Grundleben aus zu begründen und für dieses zu erweisen. Durchgehende Voraussetzung für das alles ist aber, daß das schaffende Leben an jeder Stelle zugegen ist oder doch es werden kann.

Eine Lebensordnung, welche diese Bahn verfolgt, darf hoffen, den Gefahren gewachsen zu werden, welche die Lage der Gegenwart einem inneren Zusammenschluß des Lebens und zugleich einer Verbindung von Mensch und Welt bereitet. Es geschah das von drei Seiten her: von der Natur, von der bloßen Zeitlichkeit, vom bloßen Menschentum. Nun drängt, wie uns eingehende Erörterung zeigte, das Leben beim Menschen durchgängig über diese Grenzen hinaus, aber was es an bewegender und erhöhender Kraft in dieser Richtung enthält, das gelangt zu vollem Wirken erst, wenn es sich in ein Ganzes zusammenfaßt; daß das aber die Lebensordnung der Wesenserzeugung und Inhaltsbildung in besonderem Maße tut, das bekunden alle Hauptpunkte deutlich. Die Natur gibt ihre Welt als vorhanden und auch, wo sie voller Bewegung ist, in gegebenen Bahnen verlaufend, die Wesensbildung stellt die Tat voran und verlangt eine Umkehrung des Lebens, sie wird durch Zusammenstoß und Kampf zu eingreifender Wandlung auch der Hauptrichtung getrieben, so daß die Geschichte bei ihr eine andere Stellung erhält und stark an Bedeutung wächst. Die Natur gibt die Welt als ein bloßes Nebeneinander einzelner Elemente und versteht daher allen Zusammenhang als eine Zusammensetzung, die Wesensbildung stellt ein Ganzes voran und zwar ein Ganzes, das die Vielheit nicht als ein bloßer Rahmen umfaßt, sondern das sie trägt und beseelt; das gestaltet auch den Charakter des Lebens grundverschieden, indem es dort in ein Verhältnis von Punkt zu Punkt aufgeht, hier dagegen das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen voranstellt und auf dieses alle Beziehung von Punkt zu Punkt aufträgt; das gibt auch der Selbsterhaltung einen grundverschiedenen Sinn: aus einer Behauptung im Zusammensein und Zusammenstoß der Elemente wird sie eine Behauptung und Wertgewinnung innerhalb des Ganzen, was nicht nur sie weit von allem Egoismus abhebt, sondern die wirksamste Überwindung alles Egoismus vollzieht. Denn nur ein echtes Selbst kann einem erschlichenen die Kraft entwinden, die es ungebührlich an sich gerafft hat. Auch der Begriff des Wirklichen bekommt mit solchen Wendungen einen neuen Sinn. In der Natur, bezeichnet er die Aufweisbarkeit in der Verkettung des zeiträumlichen Daseins, in der Wesensbildung dagegen die Zugehörigkeit zu ihrer Tatwelt; so wird hier nichts eine größere Gewißheit besitzen als was den tragenden Grund dieser Tatwelt bildet. So ist z. B. zur Gottesidee von der Natur nur durch einen Sprung zu gelangen, und wenn hier, inkonsequent genug, die Idee des Absoluten überhaupt zugelassen wird, so kann sie nur am äußersten Saum des Gedankenreiches auftauchen; für die Wesensbildung ist dagegen die Idee eines absoluten Lebens das Allererste und Allergewisseste, die Grundvoraussetzung aller besonderen Wahrheit, der Quell der Möglichkeit aller Wahrheit. Freilich kann diese Grundvoraussetzung dem Einzelnen zur Lebensmacht und zur eignen Überzeugung nur werden bei einer Versetzung in jenes Selbstleben, und eine solche ist niemandem mechanisch aufzuzwingen. So wird es begreiflich, daß, was dem einen selbstverständlich, dem andern unverständlich ist.

In anderer Richtung bedroht die Gegenwart den Geistesgehalt des Lebens durch seine ausschließliche Unterwerfung unter die Macht der Zeit. Die Wesensbildung mag auf den ersten Anblick diese Macht noch zu steigern scheinen, indem sie die Veränderung auch auf die Hauptrichtungen des Lebens ausdehnt und recht verschiedene Lebensordnungen einander folgen läßt; näher betrachtet aber liefert eben sie gewichtige Waffen gegen die bloße Zeit. Denn indem sie auf ihrem Gebiet alle Veränderungen ein überlegenes Selbst entfalten und dieses Selbst in ihnen seine volle Durchbildung suchen läßt, wird stets etwas der Veränderung Überlegenes festgehalten, und kann die Geschichte sich aus einem bloßen Nacheinander in ein Neben- und Miteinander verwandeln. Das wird aber nur dadurch möglich, daß das Leben eine innere Abstufung, eine Scheidung verschiedener Schichten bei sich selbst zu vollziehen vermag; so kann es allem Wandel der Entfaltung ein beharrendes Hauptziel, ja mehr und mehr ein überlegenes Grundgefüge entgegenhalten, aus der Zeit ein Ewiges herausarbeiten und darin den Standort nehmen, damit die bloße Zeitgeschichte durch eine Geistesgeschichte überwinden, in der sich das Verschiedene zusammenfinden und miteinander ausgleichen kann. Schon einzelne große Persönlichkeiten machen das augenscheinlich. Nehmen wir z. B. einen Plato. Was seine Gedankenwelt an einzelnen Lehren und Forderungen enthält, das ist, wie es bei ihm vorliegt, wohl durchgängig veraltet. Wenn er trotzdem noch immer mit frischer Jugendkraft wirkt und noch immer leidenschaftlichen Streit hervorruft, so muß wohl noch etwas anderes in ihm stecken, was keinem Wandel der Zeit unterliegt. Dies aber kann nichts anderes sein als das Ganze seiner Denkart und Gesinnung, sein intellektuelles und geistiges Selbst, das den Keim einer eigentümlichen Welt- und Lebensordnung enthält und mit seinem Wahrheitsgehalt durch alle Zeiten fortwirken kann, weil es von Haus aus mit seinem ursprünglichen Leben aller bloßen Zeit überlegen war. So ging auch über die Begriffe und Lehren der Stoiker der Lauf der Zeit hinweg, die stoische Denkweise aber hat sich als eine Möglichkeit menschlichen Lebens durch die Zeiten erhalten und wird sich wohl weiter erhalten. Ähnlich steht es mit dem Schaffen der Völker, der Kulturen, der Religionen. Man muß nur durch die bunte Fülle der Erscheinungen hindurchblicken und zu dem sie belebenden Geiste vordringen können, um das Beharrende zu entdecken; auch hier ist ein empfängliches Auge die erste Bedingung des Sehens. Das gilt besonders für die Religionen, sie zerfallen nur demjenigen in lauter zerstreute Phasen, der ausschließlich an den zeitlichen Gestaltungen haftet. – Frühere Abschnitte ließen uns eine alles Geistesleben durchdringende Bewegung gegen das Aufgehen in die bloße Zeit, ein starkes Verlangen nach Ewigkeit erkennen; seine Befriedigung scheitert aber leicht an der Schwierigkeit, dem Ewigen einen Inhalt zu geben, denn ohne einen solchen verhütet alles sich Berauschen an dem Allgemeingedanken der Ewigkeit nicht ein Zurücksinken unter die Macht der Zeit. Dem Ewigen aber durch jene Befreiung der Geistesgeschichte von der bloßen Menschengeschichte einen näheren Inhalt zu geben, das wird eben der Wesensbildung mit ihrem Beisichselbstsein des Lebens zu einer Hauptaufgabe und auch einer Möglichkeit.

Endlich erfolgte in der Neuzeit eine arge Gefährdung des Lebensbestandes und der Lebenshöhe durch das unaufhaltsam vordringende, sich von allen Zusammenhängen ablösende, sich in flacher Selbstgefälligkeit gefallende Menschentum. Wir sahen, wie alle Bewegung zur Selbständigkeit des Lebens dem entgegenwirkt, wie von altersher alle Gebiete innerer Bildung einen Kampf dagegen führten, und wie Religion und Philosophie auch in ihren Begriffen das Bloßmenschliche als eine Entstellung möglichst auszuscheiden suchten. Aber alles das hat jenes Aufwuchern des bloßen und nichtigen Menschentums in unserer Zeit nicht verhindert, es gilt neue Waffen dagegen zu schmieden. Bietet die von der Wesensbildung aus erstrebte Lebensordnung Waffen solcher Art? Zunächst kann sie die Gefahr eher zu vergrößern scheinen. Denn diese Lebensordnung kann unmöglich den Menschen als ein bloßes Mittel oder auch als einen bloßen Anhang eines überlegenen Lebensprozesses behandeln; wo alles auf schaffende Tat hinauskommt, und wo im Menschen sich kein Selbstleben erwecken läßt, ohne daß auch seinerseits eine Verlegung des Schwerpunkts, eine fortdauernde Entscheidung und Zuwendung, eine Einigung mit dem schaffenden Leben erfolgt, da gewinnt er auch innerhalb dieses Lebens und für dieses Leben ein selbständige Bedeutung, da wird er ein unentbehrlicher Mitarbeiter am Aufbau einer neuen Welt. Aber diese Steigerung selbst enthält zugleich ein festes Maß und eine deutliche Begrenzung. Was immer hier dem Menschen an Größe und an Selbständigkeit zuerkannt wird, das ist kein Erbstück bloßer Natur und kein selbstverständlicher Besitz, das wird nur aus dem begründenden Gesamtleben möglich und verlangt dessen fortdauerndes Wirken. Was immer diesen Zusammenhang aufgibt und allein sich selbst vertraut, das erscheint von hier aus als eine bloß eingebildete und daher schließlich unhaltbare Größe; nur in Ergreifung und Entwicklung jenes Zusammenhanges gewinnt die menschliche Art ein Recht, eine Kraft, ein Ziel. Zugleich aber eröffnet sich dann eine Möglichkeit, das Streben über das bloße Menschentum hinaus auf aussichtsreiche Bahnen zu führen. Solange sich nicht auf ein unmittelbar gegenwärtiges Leben zurückgehen ließ, bestand die Gefahr, daß dieses Streben allen Inhalt des Lebens möglichst aufgab und sich zu formalen ontologischen Begriffen, wie Einheit, Sein usw. flüchtete, um nur des Bloßmenschlichen ledig zu werden. Aber bei jenen konnte es unmöglich dauernde Befriedigung finden; so kehrte es wohl oder übel wieder zum Menschen zurück, ohne doch bei ihm abschließen zu können. Das ergab bei den Grundbegriffen der Philosophie wie der Religion ein unablässiges Hin- und Herschwanken von der einen Seite zur andern, auch ein Überfließen von hierher nach dorthin: die ontologischen Größen empfingen von der menschlichen Seite her eine ihnen selbst fremde Belebung und Wärme, und die menschlichen Größen hoben, läuterten und erweiterten sich von dort aus zu Weltbegriffen. So pflegen die Religionen eine persönliche und eine unpersönliche Fassung des Gottesbegriffes einander durchkreuzen zu lassen. In diese verworrene Lage bringt die Lebensordnung der Wesensbildung einen entschiedenen Antrieb zur Klärung, indem sie im Menschen selbst, soweit volltätiges Schaffen in ihm aufkommt, die unmittelbare Gegenwart eines Allebens erkennt, von dem aus dieses sich daher unter einer Scheidung von Kleinmenschlichem und Großmenschlichem erfassen laßt. Die geistigen Inhalte volltätiger Art, welche sich bei uns bilden, sind nicht bloßmenschlichen, sondern kosmischen Ursprungs, sie sind uns mitgeteilt, nicht von uns hervorgebracht, es gilt nur, von ihrem eignen Gehalt die menschliche Art ihrer Aneignung und Behandlung, die menschliche Vorstellungs- und Begehrungsweise zu unterscheiden und beides genügend auseinanderzuhalten. Es läßt sich das getrost unternehmen, wo der Begriff des Lebens, nicht der eines starren Seins, die Führung hat, denn ein Leben kann mit seinem Schaffen uns unmittelbar gegenwärtig werden und sich als ein eignes vollauf erschließen. Hier liegt die notwendige Scheidung nicht zwischen dem Menschen und einer jenseitigen Macht, sondern sie liegt innerhalb des Menschen; wohl bedarf er zur Versetzung in das schaffende Leben einer energischen Aufrüttelung und einer unablässigen Anspannung, er wird dabei nicht wohl verhindern können, daß seine Vorstellungen und Zwecke alles Inhaltbilden begleiten und herabzuziehen drohen, aber er sieht sich nunmehr keineswegs vor eine unmögliche Aufgabe gestellt, er kann alle Kraft daran wenden, die Gehalte des schaffenden Lebens deutlich herauszuarbeiten und von ihnen aus eine selbständige Welt der des bloßen Menschentums entgegenzusetzen. Da es sich dabei nicht um bloße Abbilder und Begriffe, sondern um Wirklichkeiten handelt, so wird auch eine Verbindung der Kräfte, eine feste Organisation des geistigen Lebens bei der Menschheit erforderlich sein, wie die Religionen das von sich aus und zunächst für ihre Zwecke in den Kirchen versuchten, wie es aber auch einer weiteren Fassung fähig ist. Kurz, es eröffnen sich große Aufgaben, deren Behandlung viel Verwicklung und Kampf erwarten läßt; aber schon daß sie sich eröffnen, enthält eine Befreiung von dem lastenden Druck des bloßen Menschentums und rechtfertigt die Überzeugung, daß wir ihm nicht als einem unabwendbaren Schicksal verfallen sind, sondern ihm getrost entgegenarbeiten können.


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