Rudolf Eucken
Mensch und Welt
Rudolf Eucken

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3. Der Aufstieg des Lebens

Das Leben ist das Urphänomen, in dem und von dem aus uns alles zugeht, was wir an Wirklichkeit kennen. Aber es selbst ist nicht einfacher und eindeutiger Art; wer es als solches versteht und behandelt, hält sich leicht nur an eine niedere Stufe und drückt damit das Ganze herab. In Wahrheit zeigt die Welt, der wir angehören, eine Weiterbewegung und einen Aufstieg des Lebens durch verschiedene Stufen hindurch, immer mehr befreit es sich von anfänglicher Gebundenheit, immer mehr faßt es sich zur Einheit zusammen, immer mehr gewinnt es an Selbständigkeit, bis es endlich an einen Punkt gelangt, wo ein volles Beisichselbstsein hervorbricht und als absolutes Leben zum Träger aller Wirklichkeit wird. So läßt sich in unserem Bereich von einer Geschichte des Lebens reden; da nur ihr Verlauf uns die letzte Höhe verständlich macht, so haben wir uns in Kürze mit ihm zu befassen.

Leben begegnet uns zuerst in der Natur verbunden mit der Bildung des Stoffes zur Organisation. Die Spekulation mag auch das Anorganische zu ihm in irgendwelche Beziehung setzen, die Forschung hat hier eine Grenze anzuerkennen. Auf dieser Stufe der Natur quillt das Leben in unzähligen Einzelpunkten im Pflanzen- und Tierreich immer von neuem auf; was bei der Pflanze davon erscheint, das zeigt noch einen Schlummerstand und eine strenge Abhängigkeit vom Mechanismus der Elemente; erst beim Tiere beginnt ein gewisses Erwachen, zeigt sich mehr Konzentration und eine Wendung zur Innerlichkeit, alles das aber noch innerhalb sehr bemessener Grenzen. Sofern sich hier überhaupt von einem Inneren sprechen läßt, wird, was in diesem vorgeht, ganz und gar durch das Verhältnis zur Umgebung bestimmt. Das Leben hängt hier durchaus an den Eindrücken und den Anregungen, die von außen her kommen, und nach draußen hin geht auch alle seine Bewegung; seinen Hauptantrieb hat es hier darin, sich selbst zu erhalten, den einzelnen Punkt im räumlichen Zusammensein und namentlich im Zusammenstoß der Wesen zu behaupten in Angriff und Abwehr, in Verfolgung und Flucht. Nur die Fortpflanzung und eine gewisse Fürsorge für das kommende Geschlecht läßt diese Schranke des Einzeldaseins überschreiten, aber sie tut das unter dem Zwange dunkler Triebe, so daß wenig Fortbildung des Lebens damit gewonnen wird. So ist, was an seelischer Betätigung entsteht, eine bloße Begleiterscheinung dessen, was in den Beziehungen zur Umgebung vorgeht; was das seelische Leben dabei zur Selbsterhaltung der Wesen leistet, das ist weithin durch körperliche Vorzüge ersetzbar: was dem einen Tiere seine List, das leistet dem anderen seine Starke oder Schnelligkeit. Da sich hier nirgends eine selbständige Innerlichkeit mit eignen Zielen und Kräften zu erkennen gibt, so ist hier das Leben weniger Eigenleben als ein bloßes Zwischengeschehen. Auch bleibt es in einzelne Punkte und Fäden zerstreut. Das Leben der Einzelwesen verläuft in lauter einzelnen Vorgängen und einzelnen Zuständen; mögen diese sich in mannigfachster Weise berühren, verketten und verschlingen, es hebt sich damit kein Ganzes aus der Verkettung heraus, das eine Gegenwirkung üben und eine Weiterbildung vollziehen könnte; ebensowenig gibt es hier ein Gut gegenüber der sinnlichen Lust. Auch erzeugt, soweit wir sehen, das Zusammensein der Wesen keine innere Gemeinschaft, keine gemeinsame Innenwelt. Gewiß fehlt diesem Leben im Reich der Natur nicht ein Aufstieg zu höheren Formen, es wächst mit der Höhe der Organisation zu größerer Weite und Fülle, bei einzelnen Insektenarten mit ihren Staaten sowie auf der Höhe des Säugetierlebens ist eine Annäherung an das menschliche Seelenleben unverkennbar, bei der letzteren freilich zum guten Teil unter dem Einfluß des Menschen. Aber mögen bemerkenswerte Ansätze zu einer höheren Stufe erscheinen und unbefangene Würdigung fordern, diese Ansätze schließen sich nicht zu einem Ganzen zusammen, das über die Grenze der Natur hinausführt; was an Intelligenz und an Zusammenschluß der Wesen erreicht wird, das verbleibt im Dienst der natürlichen Selbsterhaltung, wenn nicht des einzelnen, so doch der Gattung, es erweitert mehr das Gesamtbild der Natur als es ihren Rahmen durchbricht.

Dies Gesamtbild erscheint aber von einer höheren Stufe aus betrachtet als ein ungeheurer Widerspruch. Die einzelnen Punkte, an denen hier Leben durchbricht, halten es zähe fest und setzen an seine Behauptung alles Streben und alle Kraft. Aber was bietet dieses so eifrig und oft so mühsam verfochtene Leben seinen Trägern? Nichts als einzelne Augenblicke der Erregung und Befriedigung, sonst aber eine völlige Leere. Viel Lärm und viel Mühe um nichts! In Bau und Funktion der Wesen erscheint eine gewisse Zweckmäßigkeit oder vielmehr eine Anordnung, die der Mensch als zweckmäßig deutet, aber die Einzelzwecke verbinden sich nicht zu einem Gesamtzweck, vielmehr stoßen sie oft miteinander schroff zusammen. Dem einen Tier ist eine Waffe zum Angriff, dem anderen eine Vorkehrung zur Abwehr gegeben, so hebt das Wirken der Natur sich selber auf. Es tut es noch mehr dadurch, daß die Erhaltung des Lebens an der einen Stelle seine Zerstörung an einer anderen fordert, so am deutlichsten bei den fleischfressenden Tieren, die dabei oft Züge härtester Grausamkeit zeigen. Dazu das rasche Vergehen der einzelnen Wesen, ein unablässiges Kommen und Gehen in end- und sinnloser Wiederkehr. Dabei vergehen nicht nur die einzelnen Wesen, auch ganze Gattungen sterben aus, schließlich bleibt alles organische Leben an elementare Bedingungen geknüpft, deren Beharren durchaus nicht gesichert ist. Wahrscheinlich ist dem Leben auf den einzelnen Weltkörpern nur eine bemessene Spanne von Zeit beschieden; mag es in einer späteren Epoche wiederkehren, auch ein solcher Rhythmus im Großen, das Entstehen und Vergehen ganzer Welten, gibt dem Reich der Natur keinen Sinn, aus endloser Kreisbewegung hebt sich kein bleibender Ertrag hervor. Aber zugleich zeigt das Ganze so viel Ordnung und Schönheit, es zeigt innerhalb unseres Gesichtskreises auch so viel Aufstieg von Bildung und Leben, daß es unmöglich als ein Werk blinden Zufalls gelten kann. Eher dürfte die Welt mit Plato ein Kind von Vernunft und Notwendigkeit heißen. Aber auch das besagt einen Widerspruch, über den es notwendig hinaustreibt.

Eine Weiterbewegung erfolgt nun innerhalb des menschlichen Kreises. Freilich verbleibt auch der Mensch in engstem Zusammenhang mit der Natur, tausendfache Fäden verbinden ihn mit ihr und lassen ihn als ihr zugehörig erscheinen. Auch für ihn ist das Leben zunächst eine Selbsterhaltung des Punktes gegenüber seiner Umgebung, ein Verhältnis von Wirkung und Gegenwirkung, ein Zwischengeschehen, auch seine Vorstellungen bilden einen Niederschlag sinnlichen Empfindens und verbinden sich untereinander in mechanischer Verkettung; auch hier bleibt der Haupttrieb die Selbsterhaltung, mag sie sich von einer physischen zu einer sozialen steigern, auch hier wird das Streben von Hunger und Liebe im tierischen Sinne beherrscht, auch hier bemißt das Befinden sich nach dem Wechsel von Lust und Schmerz. Dieser naturhafte Stand beschränkt sich nicht auf die ersten Anfänge geschichtlichen Werdens, er bildet den Grundstock des Lebens auch bei wachsender, ja bei hoher Kultur.

Aber dies naturhafte Leben ist nicht das Ganze des menschlichen Seins, es ist nicht das, was diesem eine eigentümliche Bedeutung verleiht. Denn beim Menschen erscheint eine Bewegung, welche wesentlich neue Züge einführt und in ihrer Verbindung eine weitere Erschließung des Lebens erweist, eine Erschließung, in der es von der bisherigen Bindung sich zu größerer Selbständigkeit erhebt und die bisherige Leere durch Bildung eines gehaltvollen Beisichselbstseins zu überwinden beginnt.

Dies Leben, das dem naturhaften gegenüber in Kürze ein geistiges heißen mag, hebt sich schon durch seine Grundform deutlich vom sinnlichen ab, indem es von der Denkarbeit getragen und damit zu größerer Freiheit und Selbständigkeit gehoben wird. Diese Arbeit beschränkt sich keineswegs auf den Intellekt, sie ergreift den ganzen Umkreis des Lebens, sie verwandelt auch das Gefühl und das Begehren. Die Stufe der Sinnlichkeit fand im Leben ein bloßes Entwickeln von Beziehungen zur Umgebung und band es zugleich an das, was diese im Reiz und im Eindruck heranbringt; das Denken wirft solche Bindung ab, es vermag sich der Umwelt entgegenzustellen, es zeigt eigne Gesetze und Kräfte, es bildet durch diese nicht nur das Empfangene weiter, sondern es bringt aus seiner Bewegung auch neue Größen hervor, es entwirft schließlich eine eigne Welt, eine gedankliche Wirklichkeit und macht diese zum Träger der sinnlichen Welt. In dem allen ist eine Umkehrung des Anfangsstands nicht zu verkennen.

Diese Umkehrung hat der Lauf der Geschichte freilich erst langsam herausgearbeitet. Den Menschen nimmt zu Beginn ziemlich ganz die sinnliche Sphäre ein, erst nach und nach erscheinen geistige Züge, und langsam schließen sie sich fester zusammen, bis endlich eine Umkehrung erfolgt und die geistige Stufe zum Hauptstandort des Lebens macht. So zeigt es besonders greifbar die Sprache, indem sie langsam die zu Anfang sinnliche Bedeutung der Wörter ins Geistige verschiebt und jene schließlich ganz vergessen läßt. Auch die Begriffe entwachsen immer mehr dem sinnlichen Eindruck, bis sie völlig selbständig werden und alle Beziehung zur sinnlichen Welt ablegen, wie z. B. im Gebiet der reinen Mathematik. In dieser Richtung vollzieht die Neuzeit mit ihrer Steigerung der intellektuellen Arbeit einen erheblichen Fortschritt, sie hat weit mehr als frühere Zeiten die Welt des Menschen in ein Gedankenreich verwandelt und Gedankengrößen als Ideen und Prinzipien eine aufrüttelnde und bewegende Macht verliehen. Mag sich das alles in der Weltgeschichte langsam und nicht ohne Rückfall vollziehen, im großen und ganzen dringt die Verschiebung des Lebens vom Materiellen ins Ideelle immer weiter vor, sie ist offenbar aller Willkür des Menschen überlegen, in ihr wirkt der Zwang und die Kraft des Lebensaufstieges selbst. Das Denken spiegelt und umsäumt dabei nicht bloß das sinnliche Dasein, es wird die Bildungsstätte einer neuen Welt, das Mittel der Emporhebung einer neuen Lebensstufe.

Eine solche Aufgabe fordert aber die Erfüllung dreier Bedingungen: zuerst müssen neue Lebenseinheiten, Lebensträger entstehen, sodann müssen diese einen eigentümlichen Inhalt entwickeln, endlich muß dabei eine Bewegung zum Aufbau einer Wirklichkeit erfolgen; an diesen drei Hauptpunkten hat sich der Aufstieg einer neuen Lebensstufe zu erweisen. Sehen wir, wie es damit steht.

Was zunächst die Lebensträger betrifft, so entwächst in der Wendung zur Geistigkeit das Leben dem bloßen Nebeneinander des Geschehens, eine neue Art der Verbindung kommt auf, in der eine Einheit eine Mannigfaltigkeit umspannt und sie zu einem Ganzen verbindet, so daß sich ihre Stellung nicht nach der äußeren Lage, sondern nach der Leistung für das Ganze bestimmt. So zeigen es alle Hauptgebiete des Lebens, das Individuum, die Gesellschaft, die geistige Arbeit. Das Bewußtsein bleibt nicht ein leerer Raum, in dem die Vorgänge sich begegnen, sondern es bildet sich eine tätige Einheit, ein beherrschender Mittelpunkt, den der Verlauf des Lebens befestigt und kräftigt, und aus dem schließlich eine selbständige Persönlichkeit sowie eine geistige Individualität hervorgehen kann. Diese Einheit nimmt nicht wehrlos hin, was von außen an sie gebracht wird, sie vermag die einzelnen Vorgänge nach ihrem Wert für das Ganze zu prüfen, sie ferner oder näher zu rücken, sie macht sie in der Aneignung erst zu einem vollen Erlebnis. So eine Abstufung, ein anderes Gewebe des Lebens, ein Erleben, nicht bloßes Leben.

Das menschliche Zusammensein aber überwindet in seiner Entwicklung die Enge und die Selbstigkeit der Einzelpunkte, es führt das bloße Nebeneinander zu einem inneren Zusammenhang, der einen eigentümlichen Gehalt gewinnt und mit bildender und erhöhender Kraft die Individuen ergreift und umgestaltet. Ein Aufstieg solcher Gemeinschaftsbildung geht von dem kleinsten Kreis der Familie bis zum Menschheitsganzen. Am greifbarsten ist bei der Nation das Entstehen einer geistigen Einheit, die weit mehr bedeutet als die Summe der Individuen; sie hat ihre eignen Erlebnisse und bildet eine eigne Geschichte, so wird sie eine Macht gegenüber den einzelnen, und doch zugleich ein Stück ihrer Seele. Nicht anders steht es mit den Staaten und namentlich mit den Religionen. Bei diesen ist besonders klar, daß in der Gemeinschaft nicht fertige Elemente zusammentreffen, sondern daß jene ihre Glieder in eine eigentümliche Atmosphäre versetzt und neues aus ihnen macht. Es werden dabei die leitenden Ziele des Ganzen dem Individuum nicht durch seine privaten Zwecke vermittelt – wo dies geschieht, erscheint es als ein Unrecht –, sondern sie vermögen es unmittelbar zu bewegen, sie werden von ihm in das eigne Wesen aufgenommen. Die Lebensfluten, die hier wirken, verleiden dem Menschen selbst das Beharren beim bloßen Ich, sie lassen ihn das Unwürdige einer Bindung daran empfinden, sie erzeugen in ihm eine starke Sehnsucht nach innerer Weite und Unendlichkeit als nach einer Vollendung des eignen Wesens.

Eine Überwindung der Vereinzelung bildet auch das Entstehen selbständiger Lebensgebiete jenseit der Kreise der Individuen, wie z. B. der Wissenschaft. Auch hier wirken eigentümliche Gesetze und Kräfte, die aller individuellen Willkür entzogen sind und doch dem Menschenwesen als Eigenbesitz innewohnen. Diese Gebiete entwickeln bei sich selbst ein Streben, das bloße Aggregat des Anfangs in ein System zu verwandeln, d. h. in eine Art der Verbindung, wo sich eine Gesamtidee durch verschiedene Stufen hindurch bis ins einzelne erstreckt und dadurch dieses neu beleuchtet. So erstrebt vor allem die Wissenschaft eine Gliederung, in der Grundwahrheiten durch Mittelbegriffe hindurch sich aller Weite bemächtigen und auch das einzelne zu einer Anwendung und einem Ausdruck ihrer gestalten. Solches Hineinreichen eines kräftigen Gesamtcharakters auch in die elementaren Funktionen ist ein unterscheidendes Kennzeichen wahrhaft großer Leistung, nur der Herrscher prägt eigne Münzen, die anderen bedienen sich fremder. So findet sich kein hervorragendes System des Erkennens, das nicht dem Urteil, dieser Grundfunktion des Denkens, eine besondere Fassung gäbe.

Auch das Handeln teilt solchen Zug zum Ganzen und schafft aus ihm neue Gebilde. Dem vordringenden Leben genügen nicht vereinzelte Ziele und auch nicht Empfindungen bloßer Lust; alle Einzelziele weisen über sich selbst hinaus und ordnen sich einem Hauptziele unter, dieses aber liegt in einem Gesamtstand des Lebens, der eigne Tätigkeit in sich schließt, den wir nicht finden, sondern erringen und aufrechterhalten müssen. Dieser Gesamtstand liegt über dem Bereich von Lust und Unlust, er kann auch beschwerlicher Mühe, ja dem Leiden einen Wert verleihen und sie in ein Gut verwandeln. Da aber zugleich die niedere Stufe verbleibt, so entstehen verschiedene Schichten des Lebens, sie können dasselbe Erlebnis grundverschieden, ja entgegengesetzt bewerten. Augenscheinlich bemißt sich das Lebens- und Glücksgefühl der Zeiten nicht nach der Summe der von ihnen gewährten Lust. In Zeiten von wenig Lust, aber viel Arbeit und Kampf konnten die Menschen sich glücklich fühlen, weil der Gesamtstand des Lebens ihnen hohe Ziele vorhielt und sie selbst dadurch emporhob, während eine möglichste Steigerung der Lust und möglichste Minderung des Schmerzes eine innerlich leere oder unsichere Zeit keineswegs schon glücklich macht. Wie glücklich müßte die Gegenwart sein, wenn bloß jener Maßstab entschiede! – Mit solcher Wendung des Lebens ins Ganze verändert sich auch sein inneres Gewebe, das Hauptgeschehen wird hinter die Fläche der Einzelvorgänge zurückverlegt. Nunmehr vermag sich ein Ganzes des Lebens in die einzelne Betätigung hineinzulegen, die Tätigkeit steigert sich zu einer Selbstbetätigung, das bloße Leben zu einem Erleben. Diese Wendung erst macht Größen wie Charakter, Gesinnung, Überzeugung möglich, sie steigert die Spannung des gesamten Lebens, indem sich nun an der einzelnen Stelle und in jedem Augenblick um das Ganze kämpfen und das Ganze fördern läßt.

So entstehen neue Einheiten und neue Zusammenhänge. Aber die damit begonnene Bewegung fordert weiter, daß die neuen Zusammenhänge auch inhaltlich weiterführen, daß sie neue Größen und Güter erzeugen und schließlich einen eignen Lebenskreis bilden. Das aber geschieht, indem sich das seelische Geschehen von der Bindung nach außen befreit, sich mehr und mehr bei sich selbst entfaltet und schließlich ein Reich der Innerlichkeit der Außenwelt entgegenstellt. Ein solches Selbständigwerden der Innerlichkeit vollzieht sich durch alle Gebiete des Lebens und der Arbeit. Eine Wissenschaft wird nur dadurch möglich, daß sich von den uns aufgedrängten sinnlichen Vorstellungen unserer eignen Tätigkeit entstammende Begriffe scheiden; diese fassen keineswegs bloß zusammen, was den Eindrücken gemeinsam ist, sondern sie entwickeln ein neues Verhältnis zu den Gegenständen, indem sie sich über die bloße Berührung mit ihnen erheben, sich in sie selbst zu versetzen, ihr eignes Leben und Wesen vollauf zu eröffnen suchen. Solche Richtung auf den Gegenstand gibt ihrem eignen Inhalt ein wesentlich anderes Gesetz der Anordnung als die Vorstellungen es haben, hier liegt das Mannigfache nicht nebeneinander, sondern es wird geordnet und abgestuft je nach der Bedeutung für das Ganze. Wie der Begriff aus der Vorstellung nicht mechanisch hervorgeht, sondern eine Tätigkeit des denkenden Geistes fordert, so rinnt er auch nicht mit der Vorstellung zusammen, zugleich aber behauptet die von ihm getragene Gedankenwelt eine Selbständigkeit und einen eignen Gehalt gegenüber der sinnlichen Welt. Der denkende Mensch lebt in zwei Welten, der des unmittelbaren Eindrucks und der durch Denktätigkeit erzeugten.

In ähnlicher Weise entwachsen auch Fühlen und Handeln der Bindung an die Umgebung und entwickeln unter Steigerung der Selbsttätigkeit in der Atmosphäre des Denkens eine wesentlich neue Art. Das sinnliche Wohlsein und alles Gelingen in der Außenwelt wird dem Handeln ein viel zu niedriges Ziel, es macht in aufsteigender Bewegung zur Hauptsache die Befriedigung der Seele, es bemißt daher den Wert der äußeren Güter weniger nach dem unmittelbaren Genuß als nach dem, was sie der Entfaltung seelischen Lebens leisten. Der Fortschritt der Kultur macht das Sinnliche mehr und mehr zu einem bloßen Mittel und Werkzeug geistigen Strebens. Auch was das Verhältnis von Mensch zu Mensch an Gefühlen erzeugt, das bleibt nicht an den sinnlichen Eindruck gebunden, es wendet sich an der Hand des Denkens ins Innere, es überwindet zugleich alle sinnliche Begrenzung. Die Sprache verdeckt hier oft durch die Gleichheit der Bezeichnung die Verschiedenheit des seelischen Verhaltens, welches dabei entsteht. Liebe und Mitleid sinnlicher Art, Liebe und Mitleid geistiger Art sind grundverschiedene Dinge. Die dem Naturtrieb eng verkettete sinnliche Liebe, die so wandelbar ist und wohl gar in das Gegenteil umschlagen kann, wie weit entfernt ist sie von der in inneren Zusammenhängen fest gegründeten Menschenliebe, wie Religion und Moral auf ihrer Höhe sie fordern, wie weit entfernt ist auch das Mitleid, das aus verdrießlichen sinnlichen Eindruck hervorgeht, von dem Mitleid, das die Erfahrung gemeinsamer menschlicher Geschicke, gemeinsamer Sorgen und Nöte erzeugt! Jene Gefühle hängen an der sinnlichen Gegenwart und wirken nicht darüber hinaus, diese gehen ins Unermeßliche und stecken ihrem Wirken keine Grenze.

Auch hier entspricht der sachlichen Weiterbildung eine Umwandlung der Form des Lebens. Es vermag hier dem Zwange blinder Naturtriebe zu widerstehen, es vermag von überlegener Einheit aus Verschiedenes und Verschiedenartiges sich gegenwärtig zu halten, es zu prüfen und gegeneinander abzuwägen, es hat dabei eine Entscheidung zu fällen und erhebt sich dadurch allererst von einem bloßen Geschehen zu einem Handeln. Was dabei an Freiheit entsteht, das braucht noch nicht eine unbedingte Wahlfreiheit einzuführen, aber es unterscheidet sich jedenfalls deutlich vom Mechanismus eines bloßen Naturgeschehens. – So nimmt sich auch die Weiterbewegung des Menschenlebens anders aus als das bloße Zusammenschießen oder das Wachstum eines Naturprozesses, das aber sowohl beim Individuum als beim Menschheitsganzen. Wohl mag innerhalb eines begrenzten Abschnitts ein ruhiger Fortschritt erfolgen und das Spätere sich zum Frühern sicher zu fügen scheinen, immer wieder kommen Zeiten des Stockens und der Erschütterung, in denen es neue Möglichkeiten zu entdecken und neue Kräfte zu entbinden gilt; solche kritische Zeiten rufen den Menschen zwingend zu einer Entscheidung auf, sie zeigen zugleich aber deutlich, daß er mehr als ein Spiel bloßer Naturkräfte ist. Alles zusammen erweist überzeugend, daß die Wendung nach innen das Leben auf einen neuen Boden stellt und ihm neue Quellen eröffnet.

Noch immer aber leuchtet nicht ein, wie die Bewegung nach innen zum Ganzen einer der Außenwelt gewachsenen, ja überlegenen Wirklichkeit gelangen, wie sie sich einen eignen Lebensraum schaffen könne. Dazu bedarf es einer weiteren eigentümlichen Leistung, diese erfolgt aber dadurch, daß das Leben in sich selbst eine Scheidung vollzieht; es tut dies, indem es etwas Gegenständliches von der Tätigkeit ablöst, diesem Gegenständlichen eine eigne Beschaffenheit zuerkennt und diese vollauf zu entwickeln sucht. Es legt sich damit etwas gegenüber der Tätigkeit fest, aber da es nicht aus dem Leben herausfällt, sondern innerhalb seiner verbleibt, so erweitert sich damit das Leben von innen heraus bei sich selbst, mit solcher Zweiseitigkeit gewinnt es einen selbständigen Bereich, zugleich erhält es eine Aufgabe im eignen Wesen, wird es bei sich selbst beschäftigt und auf sich selbst gestellt. Nun kann es aus zerstreuten Fäden ein zusammenhängendes Gewebe werden, nun eine Wirklichkeit bilden.

Solche Ablösung und Festlegung des Gegenstandes erstreckt sich in die einfachsten Grundformen des Lebens hinein, so enthält z. B. die bezeichnende Sprache des Menschen gegenüber den bloßen Empfindungslauten des Tieres eine derartige Leistung; so löst sich im Begriffe ein Sachgehalt vom bloßen Eindrucke ab, so ist es die Richtung auf die Sache, welche das Urteil eigentümlich gestaltet und die Kausalverknüpfung von aller bloßen Assoziation unterscheidet. Mit dem allen hebt sich im Menschen selbst etwas über den Menschen hinaus, legt sich gegenüber aller Willkür fest, befreit ihn von der Gewalt menschlicher Laune und Meinung. Wie solche Wendung zur Sache dem Erkennen ihre Erforschung als leitendes Ziel vorhält, so wirkt sie umgestaltend auch auf das Handeln. Denn sie hält durchgängig dem eignen Belieben das Recht und die Forderung der Sache entgegen, sie macht es möglich, den anderen Menschen und auch ganze Gemeinschaften in ihrem eignen Gehalte zu erfassen und sie sich unverfälscht anzueignen; es eröffnet sich damit eine andere Art der Gemeinschaft und des Zusammenlebens, die uns den Unterschied deutlich festzuhalten und doch dem anderen nahezukommen und seine Art zu teilen gestattet.

So gestaltet sich das Leben bei sich selbst zu einem großen Anspruch, zu einer fortlaufenden Bewegung. Zunächst gilt es eine Scheidung, eine Überwindung des anfänglichen Zusammenrinnens; Subjekt und Objekt, Funktion und Gegenstand müssen zunächst auseinandertreten. Aber da das von der Tätigkeit Abgelöste, da die Sache innerhalb des Lebensbereiches bleibt, so erhält das Leben zwei Seiten, die eine Selbständigkeit für sich fordern und doch zu eigner Entfaltung aufeinander angewiesen sind. Denn die Funktion wird bei Ablösung von der Sache leicht ein zielloses Spiel der Kräfte, die Sache aber, allein auf sich selbst gestellt und ohne Beseelung aus dem Ganzen des Lebens, verfällt einer Kälte und Leere. Aus glücklicher Wechselwirkung beider Seiten aber entspringt echte Arbeit, Arbeit als die Hervorbringung eines inneren Werkes. Denn wenn uns Arbeit zunächst die Bereitung eines draußen befindlichen Gegenstandes für menschliche Zwecke bedeutet, so bildet eine höhere Stufe die Arbeit innerlicher Art. Hier gilt es Funktion und Gegenstand zu umspannen, aneinander weiterzubilden, zu einem gemeinsamen Werk zu verbinden. Das Teilhaben an solcher Arbeit entwindet den Menschen allem Grübeln und Schwanken der Reflexion, gibt seinem Streben eine sichere Richtung und seinem Leben einen festen Kern. Geistiges Leben wird damit die Bildung einer Wirklichkeit und zugleich ein wesentliches Erhöhen des überkommenen Befundes. So wird auch der Mensch in geistiger Gemeinschaft mehr als er an sie heranbringt.

Damit nimmt das Gesamtbild des Lebens weit mehr Bewegung in sich auf. Aber es verfällt damit nicht dem flüchtigen Strome der Zeit. Denn die Sache gibt sich als völlig unabhängig davon, als ein Stück einer zeitlosen Ordnung. Auch macht erst die Abhebung eines Lebensbestandes von den Einzelvorgängen es möglich, die Mannigfaltigkeit des Geschehens zu einem Ganzen zu verbinden und damit das Leben von innen heraus zu einer Welt zu erweitern. Erst von solcher inneren Weltbildung aus vermögen wir auch die Fülle der Erscheinungen um uns zu einer Welt zusammenzufassen; die Wurzel des Weltgedankens liegt in uns, nicht außer uns.

Mit solchen Wandlungen verschieben und erhöhen sich alle Ziele und Maße des Lebens. Hier erst entspringt der Begriff der Wahrheit. Es wird jetzt klar, daß dem Erkenntnisstreben ein bloßes Ordnen und Schichten der Vorstellungen nicht genügen kann, es verlangt eine Beziehung zur Sache, es verwickelt sich damit scheinbar in einen unlösbaren Widerspruch. Denn es soll hier zugleich ein Sachgehalt abgelöst und in seiner Eigentümlichkeit festgehalten, aber dabei doch zum Leben zurückgeführt und von ihm angeeignet werden. Dieser Widerspruch bleibt unüberwindlich, wenn sich nicht das Leben selbst in der dargelegten Weise weiterzubilden vermag. Auch die Abhebung des Guten vom Nützlichen und Angenehmen gehört hierher. Durchgängig wird dem Menschen die Pflege des eignen Befindens, die Sorge um das bloße Ich zu klein, es treibt ihn nicht ein von außen kommendes Gebot, sondern es treibt ihn die Gewalt des in ihm selbst aufsteigenden Lebens zwingend über jene Begrenzung hinaus. Sie macht dem Menschen selbst das Bloßmenschliche unzulänglich, sie führt ihn auf neue Bahnen, die bei allem, was dabei dunkel bleibt, eine sichere Erhebung über den bloßen Naturstand vollziehen.

Diese Erhebung zeigte einen Fortgang an der Vereinzelung zu einem Leben aus dem Ganzen, von der Gebundenheit an das Äußere zu einem Gestalten von innen heraus, von der anfänglichen Vermengung zu einer Scheidung und Wiederverbindung, damit aber zum Aufbau einer Wirklichkeit innerhalb des Lebens selbst. Das Zusammenwirken alles dessen erzeugt beim Menschen einen neuen Lebensstand, der sich in der Kulturarbeit verkörpert. Die Kultur enthält und erweist ein Selbständigwerden des Menschen gegenüber der Natur, er nimmt nicht mehr hin, was ihm zufällt, sondern er richtet und mißt, er ändert und schafft, er gestaltet sich selbst seinen Lebenskreis. In solchem Bilden und Schaffen entwächst er nicht nur der sinnlichen Natur, sondern er überwindet auch viel eigne Enge und Kleinheit, er vermag nicht nur mehr zu leisten, er vermag auch mehr zu werden.

Dabei entsteht ein eigentümliches Zusammenwirken von Gebundenheit und Freiheit. Offenbar ist jene Bildung eines Reiches des Geistes auf dem Boden der Menschheit mit seinen neuen Lebenszielen und neuen Lebensformen nicht ein Erzeugnis des bloßen Menschen, sondern sie ist als ein Aufstieg des Lebens selbst zu verstehen, in dem es allererst eine Selbständigkeit gewinnt und einen Inhalt herausarbeitet. Aber wenn der Mensch das Wirken einer höheren Gewalt im eignen Leben anzuerkennen hat, so geht dies Wirken nicht bloß wie ein Naturprozeß an ihm vor, sondern er vermag es in das eigne Wollen aufzunehmen, ja es bedarf zu seiner Vollendung an dieser besonderen Stelle solcher Aneignung. So gewinnt der Mensch eine unvergleichliche Größe, indem er eine Bewegung des Weltlebens aufnehmen und weiterführen darf, indem bei ihm und durch sein Tun das Leben eine Fortbildung vollzieht. Klein erscheint nunmehr alles, was außerhalb dieser Bewegung liegt.

Aber daß alle Größe mit ihrer Steigerung auch große Verwicklungen zu bringen pflegt, das erweist sich auch an dieser entscheidenden Stelle. Wie die Erfahrung zeigt, geht der Aufstieg des Lebens beim Menschen nicht glatt und ungehemmt vor sich, sondern er begegnet schwersten Hemmungen; die Schranken menschlicher Art halten das Leben fest und ziehen es zu sich herab, der Durchschnitt der menschlichen Verhältnisse läßt es weder zu deutlicher Ausprägung noch zu genügender Kraft gelangen, um sich gegen die niedere Stufe durchzusetzen; diese beharrt nicht nur gegenüber der höheren, sie zieht diese in den Dienst ihrer eignen Zwecke und dringt zugleich entstellend auch innerlich in sie ein; so erscheint der Stand des Menschen nicht nur als unzulänglich, sondern vielfach sogar als eine Verkehrung; die Aufwärtsbewegung dringt nicht durch, und da sie sich zugleich unmöglich zurücknehmen laßt, so entsteht eine widerspruchsvolle Lage und stempelt das menschliche Dasein zu einem Stand unerträglicher Halbheit. So zeigt es sich im Gesamtentwurf, so erscheint es auch in den einzelnen Zügen.

Die neue Stufe sollte zum Träger das Denken haben. Aber zu solcher Leistung fähig ist das Denken nicht in seiner Absonderung, nicht als isoliertes und freischwebendes Denken, nicht als reflektierendes und verflüchtigendes, sondern nur als ein produktives, im Ganzen des Lebens fundiertes, von ihm erfülltes und getriebenes Denken, nur als das Gefäß eines Lebens, das sich zu einem Beisichselbstsein entfaltet und sich damit erst einen Inhalt gibt. Denn davon abgelöst und lediglich auf sein eignes Vermögen gestellt, erreicht es bloß matte Umrisse, gehaltlose Schattenbilder und verwandelt es in deren Scheinexistenz alles was es in sein Wirken hereinzieht. So ist es mehr eine Macht des Zerstörens als des Erbauens, es vermag uns wohl die niedere Stufe zu verleiden, nicht aber uns auf eine höhere zu heben. Der Durchschnitt des menschlichen Daseins zeigt aber das Denken in solcher Ablösung, so gewährt er auch der von ihm getragenen Kultur keine volle Selbständigkeit gegenüber der Natur und der kleinen Menschlichkeit, sie bildet weniger einen eignen Lebenskreis als sie einen anderen nur begleitet und umsäumt, ihn abspiegelt und auch verflüchtigt; so erhöht hier nicht sowohl das Geistesleben den Menschen als dieser es entstellend zu sich herabzieht. Daher bleiben alle Hauptzüge der Lebensbewegung, die wir verfolgten, im menschlichen Kreise mit einem schroffen Widerspruch behaftet.

Ersichtlich wurde ein neues Gefüge des Lebens, in dem einer bloßen Zusammensetzung der Elemente eine Bildung innerer Zusammenhänge entgegentrat und ein Ganzes zur Wirkung kam. Eine Bewegung dahin geht durch das Menschenleben, aber es fehlt ihr die Kraft, sich gegen eine andersartige Welt voll durchzusetzen, zugleich bleibt auch ihre Beschaffenheit höchst unbestimmter Art. – Gegenüber der Naturexistenz des Einzelnen sollten Persönlichkeit und geistige Individualität eine neue Lebenseinheit bilden, neue Ziele entwerfen, neue Kräfte erzeugen. Schade nur, daß diese Größen im Durchschnitt des Lebens so blaß und so matt zu bleiben pflegen. Das viele Gerede von ihnen verdeckt nur die Schwäche der Leistung. Ja nicht selten bemächtigt sich der bloße Naturtrieb ihrer und benutzt sie zur Deckung seiner Selbstsucht. – Auch bei Volk und Staat kommt es wohl zu gewissen Durchschnittsströmungen, aber wenig zur Ausbildung einer geistigen Einheit, eines ausgeprägten Charakters. Die materiellen Fragen und Sorgen pflegen das Mühen darum weit zurückzudrängen, oder auch es wird eine Korrektheit äußerer Ordnung als Ersatz dafür ausgegeben. Namentlich aber wird das Ganze gewöhnlich nicht stark genug, um die Gesinnung und die Kraft der Einzelnen vollauf für sich zu gewinnen. Das eigne Wohl bleibt der Hauptantrieb des Handelns, die gemeinsamen Angelegenheiten werden zur Nebensache, wenn sie nicht gar als Mittel für selbstische Zwecke dienen müssen. Die natürliche Selbsterhaltung steigert sich dabei leicht zu einer zerstörenden Selbstsucht, das aber oft unter dem Vorwand und Schein, dem Wohle des Ganzen zu dienen.

Auch in der geistigen Arbeit erreicht die Bewegung zum Ganzen selten einen reinen Sieg; guter Wille ist oft vorhanden, aber die Kraft der Durchbildung fehlt. Die leitenden Grundgedanken verbleiben beim bloßen Umriß, sie sind stark genug, den Stoff in gewisse Formen zu pressen, aber viel zu schwach, ihn wesentlich umzuwandeln.

In ähnlicher Weise stockt die Bewegung zur Innerlichkeit. Wohl wird mit dem sinnlichen Dasein gebrochen, nicht aber ihm gegenüber ein selbständiges Reich errichtet; der Sicherheit der Verneinung entspricht weitaus nicht die der Bejahung. Im Durchschnitt des Lebens behaupten die Naturtriebe ein starkes Übergewicht, und die materiellen Fragen drangen die ideellen weit zurück. Ja die geistigen Größen selbst haben die größte Mühe, sich eines Einfließens sinnlicher Merkmale zu erwehren, bei Ablösung davon verfallen sie aber leicht einer Unbestimmtheit und Leere. Was hier an Gefahren erwächst, das zeigt besonders die Religion. Ihre innerste Natur zwingt sie die Schranken der sinnlichen Welt zu durchbrechen und ihr ein Reich des Geistes entgegenzuhalten, zugleich aber will sie dieses Reich dem Menschenwesen nahebringen und es dafür gewinnen. Je nachdem sie nun das eine oder das andere voranstellt, gerät sie in Gefahr, entweder ganz entlegne und unfaßbare Begriffe zu ersinnen oder aber sich so sehr der menschlichen Lage anzupassen, daß in das Unsinnliche Sinnliches eindringt und es leicht gänzlich fortreißt. So haben die großen Religionen durchgängig zwei Fassungen des Gottesbegriffes, eine weitere und eine engere, die eine erhaben, aber leer, die andere nahe und wirksam, aber anthropomorph. Wie oft auch die zartesten Gebilde der Religion einer Verfälschung durch sinnliche Elemente ausgesetzt sind, das zeigt z. B. der Marienkult. Auch bei anderen Gebieten erleidet leicht besonders hochgespanntes geistiges Streben einen Rückfall in die Sinnlichkeit, so geschieht es z. B. in der Kunst namentlich der Romantik. Das Sinnliche seinerseits wird durch die Kultur meist weniger innerlich überwunden als nur äußerlich gebändigt, oft nur versteckt und durch geistige Zutat raffinierter gemacht. Nicht selten lief eine Kulturepoche in eine verfeinerte Sinnlichkeit aus. Höhere Bildung ließ das wohl als unzulänglich empfinden, aber sie hob damit nicht über die Schranke hinaus; der Mensch blieb ein Sklave von Lüsten, die ihm selbst verächtlich waren. – So bleibt auch in dieser Richtung die Bewegung mitten im Wege stecken; was sie selbst zur Nebensache erklärt, das reißt als Hauptsache sie mit fort. Aber dürfen wir dem Menschen die Hauptschuld daran aufbürden? Bleibt nicht auch das Geistige in ihm bis in die einzelnen Fäden hinein an sinnliche Bedingungen gebunden, kann es sich irgendwo von der Macht des Materiellen befreien?

Schließlich kommt auch die geschilderte Erweiterung des Lebens, der innere Aufbau einer Welt, nicht in glücklichen Fluß und Fortgang. Wohl tritt dem Menschen das Leben auseinander und verläßt das anfängliche Zusammenrinnen. Aber dem Vermögen der Scheidung entspricht nicht das der Wiederverbindung und der Erhöhung dadurch. Es verbleibt eine weite Kluft und verhindert alles rechte Gelingen, alle rechte Befriedigung. Wir wollten uns zu einer Welt erweitern, statt dessen reißt sich die Welt von uns los, stellt sich uns starr und kalt entgegen und spottet aller Versuche einer Aneignung. Von ihr lassen aber können wir nicht, ohne unser Leben zu dürftiger Ärmlichkeit herabzusetzen. So versuchen wir immer von neuem und müssen immer wieder ein Scheitern erfahren. Unsere Hoffnung war auf ein Vordringen zu schaffender Arbeit gestellt, aber die Versetzung in eine solche können wir mit den besten Absichten und Vorsätzen nicht erzwingen, die aufgebotene Kraft findet nicht den Weg zum Gegenstand, grübelnde Reflexion stellt sich mit ihren Zweifeln und Weiterungen immer wieder zwischen uns und die Dinge. An der Härte ihres Widerstandes gleitet aller gute Wille ab. Solches Unvermögen menschlichen Mühens und Sorgens gerade am entscheidenden Punkt lastet besonders auf der Gegenwart, aufs schmerzlichste empfindet sie jenen Spalt, erfährt sie den weiten Abstand von kluger, leicht überkluger Erwägung und schöpferischer Arbeit.

Jener Spalt lähmt unser Streben zur Wahrheit, er wirkt auch zur Schwächung der Sache und ihrer Macht über uns. Nicht nur pflegt sie bei einem Zusammenstoß mit unseren selbstischen Zwecken diesen zu unterliegen, sondern sie wird oft ein bequemes Mittel und Werkzeug, um jene in ein verklärendes Licht zu stellen. Daher sind wir mit gutem Grunde mißtrauisch, wo das Recht und die Forderung der Sache besonders geflissentlich hervorgekehrt wird; leicht versteckt sich dahinter bloße Selbstsucht.

Auch das Verhältnis von Mensch zu Mensch teilt die Verwicklungen, die hier entstehen. Auch hier eine Überwindung des anfänglichen Zusammenrinnens, auch hier ein Auseinandertreten der Individuen und die Möglichkeit, Nebenmenschen in ihrer unterscheidenden Art anzuerkennen und ihren Seelenstand mitzuleben, die Möglichkeit einer Wechselwirkung und einer gegenseitigen Erhöhung der Seelen. Aber es ist das mehr ein Programm als eine Ausführung. Bei aller Fülle äußerer Berührungen bleiben die Menschen einander meist innerlich fremd, sie leben mehr neben als miteinander; solche Fremdheit aber hat im Gefolge notwendig eine stumpfe Gleichgültigkeit. Zugleich aber sträubt sich der Mensch gegen eine Ergebung in diesen Abschluß, er erträgt nicht die strenge Beschränkung auf den bloßen Einzelpunkt, er fühlt die Vereinsamung der Seele als einen schmerzlichen Mangel. Aber über ihn hinaus kommt er damit nicht. Nicht anders ergeht es beim Verhältnis der Völker; wie innerlich fremd und verständnislos, daher auch ohne eine innere Gemeinschaft des Lebens stehen auch diese nebeneinander! So versagt auch hier die geistige Kraft, die Möglichkeit findet nicht den Weg zur Verwirklichung; was an höherer Art sich regt, das will nicht gelingen, ja es wird wohl gar zurückgezogen und zum Dienste des Niederen verwandt.

Alle diese Verwicklungen treffen auch das Ganze der Kultur und ihr Unternehmen, den Menschen zu einem neuen Leben zu führen. Sie regt eine Bewegung an, aber sie bringt sie nicht in sicheren Fortgang, sie stellt Fragen, aber sie gibt keine Antwort, sie zwingt uns Aufgaben auf, aber sie verleiht keine Kraft zur Lösung, sie entzündet viel Verlangen, aber sie vermag es nicht zu befriedigen. So bleibt das Ganze der Kultur mit einem starken Widerspruch behaftet. Dieser Widerspruch schwächt es so sehr, daß es unter die Macht und die Zwecke des bloßen Menschen gerät, daß wo eine erhöhende Geisteskultur gesucht, eine erniedrigende und verfälschende Menschenkultur erreicht, ein Stand des Gemenges und der Halbheit geboten wird. Mit solcher Halbheit aber pflegt viel Unwahrheit, viel Scheinhaftigkeit zusammenzugehen. Denn so weit doch hält der Aufstieg des Lebens den Menschen fest, daß dieser ihn nicht gänzlich abweisen kann; so sucht er denn nicht nur vor anderen, sondern auch vor sich selbst sich einen besseren Anschein zu geben, er scheint ohne das in völlige Leere zu fallen und allen Wert einzubüßen. Damit aber kommt eine arge Verfälschung in den ganzen Umkreis des Lebens. Solche Scheinhaftigkeit, solche Unlauterkeit war es vornehmlich, welche Denker aller Zeiten harte Klagen und Anklagen gegen den Stand der Menschheit erheben ließ. Von hier aus wird die Frage verständlich, ob die Kultur überhaupt ein Gewinn für die Menschheit und nicht eine Verirrung sei. Fortschritte augenscheinlich in Hülle und Fülle, aber diese Fortschritte liegen an der Außenseite des Lebens und betreffen namentlich unser Verhältnis zur Außenwelt; ob wir im Kern irgendwie weiterkommen, das ist fraglich genug. Hier stockt die Bewegung des Lebens, und der Mensch bleibt im Ungewissen. Zufriedener macht ihn der Verlauf der Kultur auf keinen Fall; ist es sicher, daß er ihn glücklicher macht? Oder wächst im Verlauf der Zeit seine Schaffenskraft und der Adel seiner Gesinnung?

Was hier an Problemen vorliegt, das reicht viel zu tief zurück, als daß Verbesserungen oder Zusammenballungen innerhalb des menschlichen Kreises daran etwas verändern könnten. Im besondern verspricht alle Verbindung der Kräfte im geschichtlich-gesellschaftlichen Zusammensein keine wesentliche Erhöhung, wie es eine Zeit anzunehmen geneigt ist, welche auch auf geistigem Gebiete qualitative Erhöhungen durch quantitative Steigerungen erreichen zu können glaubt. Denn Geschichte und Gesellschaft befinden sich nicht außerhalb, sondern innerhalb jener verworrenen und widerspruchsvollen Lage und verquicken daher unverkennbare Leistungen mit schweren Gefahren und Schäden. Wohl gewinnt der Mensch intellektuell, technisch und praktisch immer mehr Macht über seine nähere und weitere Umgebung, aber dieser Fortschritt steigert nicht zugleich sein Innenleben, macht ihn nicht edler und größer im Ganzen der Seele; dieses wird vielmehr durch die Überfülle und Hast der nach außen gerichteten und von der Verwicklung der Dinge festgehaltenen Arbeit leicht arg geschwächt, ja erdrückt.

Der Sieg der Arbeit kann daher eine Niederlage des Menschen werden. Wenn die Ausbildung einer Geschichte über den bloßen Augenblick hinaushebt und die Erfahrung wie Leistung langer Jahrtausende der Gegenwart zum Besitze macht, so raubt sie dieser zugleich durch die Bindung an Fremdes und Vergangenes die Selbständigkeit, die Ursprünglichkeit, ja die Wahrhaftigkeit; als Kinder der Geschichte führen wir weniger unser eigenes als ein erborgtes Leben. Wir bauen emsig weiter und weiter am stolzen Bau der Kultur, aber immer wieder kommen Zeiten, wo uns die Grundlage des Ganzen unsicher wird und der Bau ins Wanken gerät. Auch die Verbindung zur Gesellschaft ergibt durchaus keinen reinen Gewinn. Wohl steigert sie sowohl das Vermögen des Ganzen als die Gesinnung und Arbeit der einzelnen Glieder, aber ihr Gefüge erzeugt zugleich durch alle Verschiedenheit der politischen und sozialen Verfassungen hindurch so viel Abhängigkeit, soviel abschleifende Gleichförmigkeit, so viel künstlichen Schein, ein so trübes Gemenge von Großem und Kleinem, daß dieses ganze Getriebe uns in seinem Ertrage unsicher wird; der Mensch bleibt überall Mensch und trägt in alle Verhältnisse den unausgeglichenen Zwiespalt einer höheren und niederen Art hinein. Daher bleibt es eine Kennzeichnung flacher Denkart, von politischen Wandlungen das Heil der Menschheit und eine Veredlung der Seelen zu erwarten; den kindlichen Menschenglauben des 18. Jahrhunderts sollten die Erfahrungen der späteren Zeiten, sollten namentlich die Eindrücke der jüngsten Zeit gründlich vertrieben haben. Wie immer man zu Nietzsche stehen mag, man muß sein Wort gelten lassen: »Jede Philosophie, welche durch ein politisches Ereignis das Problem des Daseins verrückt oder gar gelöst glaubt, ist eine Spaß- und Afterphilosophie.«

Scheitert demnach auch der Versuch, durch eine Anhäufung des Nach- und Nebeneinander die Verwicklung des menschlichen Daseins zu überwinden und ihm bei sich selbst einen Sinn zu geben, so erweist sich die völlige Hoffnungslosigkeit des auf sich selbst beschränkten menschlichen Kreises; von hier aus angesehen erscheint das Menschenleben als ein völliger Widerspruch in sich selbst, als ein Versuch des Alls, einen Weg zu gehen, den seine eigene Erfahrung als einen Irrweg herausstellt.

Dieser erschütternden Wendung ist nur zu entgehen, wenn der Mensch irgendwie die Schranken seiner Besonderheit durchbrechen und aus weiteren Zusammenhängen neue Kräfte schöpfen, neuen Lebensmut gewinnen könnte. Das Entweder – oder, das sich hier eröffnet, duldet schlechterdings keine Vermittlung, verträgt für jeden klar Denkenden keinerlei Abschwächung. Nun bildet aber schon dieses, daß der Mensch das Peinliche jener Lage so stark empfindet, ein hoffnungsvolles Zeichen dafür, daß er nicht ganz in jene aufgeht; aus jener Empfindung entspringt unmittelbar eine Sehnsucht nach Befreiung und Erlösung, und es waren, wie die Erfahrung zeigt, eben die edelsten Seelen von solcher Sehnsucht ergriffen und um ihre Befriedigung mit höchster Kraft bemüht. Auch verblieb es nicht bei bloßer und matter Sehnsucht, es ist auch manches Wirken und Schaffen nach jener Richtung aufgekommen; es konnte das aber, wie der Lauf unserer Untersuchung zur Genüge zeigt, nicht anders als in der Weise geschehen, daß im eigenen Bereich des Menschen der Aufstieg des Lebens die enge Art und die kleinen Zwecke des bloßen Menschen durchbrach, ihm gegenüber selbständig wurde, einen eigenen Inhalt entwickelte, sich stark genug zeigte, dem Menschen selbst unter deutlicher Abhebung von der gewöhnlichen Art ein neues Leben einzupflanzen und ihm damit einen neuen Standort für Wirken und Schaffen zu geben. Diese Bewegung erst gibt der Geschichte eine Seele, sie allein begründet die Hoffnung, der sonst unvermeidlichen Sinnlosigkeit zu entgehen; freilich stellt sie zugleich den Menschen als durchaus unfertig dar und verwandelt sein ganzes Dasein in ein schweres Problem, ein geheimnisvolles Rätsel.

Am deutlichsten ist dies Befreiungsstreben im Gebiete der Religion. Denn mag auch bei ihr der Durchschnitt ein wirres Zusammenrinnen von Höherem und Niederem bieten und das Göttliche tief in die Vorstellungen und die Gedanken des bloßen Menschen verstricken, allen ihren Höhen wurde das unzulänglich, ja verwerflich; wie ein verzehrendes Feuer brach hier der Eifer hervor, das Göttliche von aller Täuschung zu befreien und sein Reich mit voller Klarheit vom menschlichen Kreise abzuheben. So geht von den ersten noch erkennbaren Anfängen her durch die Gesamtgeschichte der Menschen das Streben, etwas Besonderes, Höheres, Wunderbares vom Alltagsgetriebe zu scheiden und es als etwas Heiliges, allen übrigen Werten unvergleichlich Überlegenes zu verehren, sich seinetwegen schwere Mühen und Opfer aufzuerlegen. Das ist nicht sowohl eine besondere Erscheinung innerhalb der Religion als ihre tiefste Wurzel. Dies Heilige hat von den niedersten Stufen her den Aufstieg der Menschheit begleitet und sich zu immer reineren Formen erhoben, es hat sich immer mehr vom Sichtbaren ins Unsichtbare gewandt, aber es ist damit nicht verschwunden; wo es zu verschwinden drohte, da sank alsbald die innere Spannung des Lebens, es wurde schal, ja seelenlos. Wo aber dies Verlangen zu geistiger Höhe emporstieg, da forderte und gewann es ein völlig neues Leben, das nicht als Menschenwerk, sondern als göttliche Gnade galt, sei es, daß es als ethische Wiedergeburt, sei es, daß es als Wesenseinigung mit dem Allleben verstanden wurde; hier wie da gab es sich nicht als eine bloße Steigerung des vorgefundenen Standes und nicht als einen ruhigen Fortgang, sondern als einen schroffen Bruch und als Offenbarung eines wesentlich Neuen; alter und neuer Mensch traten damit deutlich auseinander, der natürliche Kausalzusammenhang ward gesprengt, ein Wunder wurde zur schaffenden Lebensmacht. Ein Wunder war hier unerläßlich, fraglich blieb nur, worin es bestehe.

Ähnlich enthält auch die Moral einen Bruch des Menschen mit sich selbst, eine Emporhebung über sich selbst. Freilich hat die Neuzeit viel Mühe daran gewandt, eine Moral aus dem bloßmenschlichen Kreise abzuleiten, und in der Anpreisung einer »Sozialethik« feierte das Spießbürgertum billige Triumphe; in Wahrheit konnte das klägliche Surrogat, was dieser Weg ergab, einen leidlichen Schein nur erlangen mit Hilfe des verklärenden Scheins, der von früheren Zeiten und tieferen Ordnungen her noch auf ihm lag. Denn mochte die Moral im strengeren Sinne als Pflicht, im weicheren als Liebe verstanden werden; hier wie da wurde etwas dem nächsten Lebensstande Überlegenes, von ihm aus völlig Unerklärliches gefordert wie erwiesen, überall ging der Weg zum Ja durch eine harte Verneinung hindurch. Trotzdem ist die Moral keine bloße Einbildung, aber wer sie im rechten Sinne versteht, der findet in ihr kein geringeres Wunder als in der Religion.

Auch beim künstlerischen Schaffen wie beim Erkennen scheiden sich deutlich eine niedere und eine höhere Stufe, deren erstere den Alltag beherrscht, die letztere aber der weltgeschichtlichen Arbeit die entscheidenden Richtlinien gibt. Einerseits ein Verweilen im bloßmenschlichen Kreise und ein Wirken zu seiner Wohlfahrt, andererseits eine Aufrüttelung und Umkehrung, ein Verlangen nach einer Versetzung in den eigenen Bestand der Dinge, ein Leben aus ihrer Wahrheit, ein Anderswerden des Menschen dadurch. Der Gedanke der wissenschaftlichen und künstlerischen Wahrheit hätte nie die Seele so gewaltig ergriffen, stünde dahinter nicht der Glaube und die Hoffnung eines erhöhten Lebens, eines neuen Grundverhältnisses zur Wirklichkeit. Hier wie da ward nicht das All auf den engen Kreis von draußen her bezogen und für ihn zurechtgelegt, sondern die enge Schale sprang, die starre Kruste schmolz, unendliches Leben ward dem Menschen unmittelbar zu eigenem Leben. Aber die schaffenden Geister wußten zugleich, daß nicht eigene Kraft in ihrer Absonderung diesen Umschwung bewirkte, daß eine überlegene Macht sich darin erschloß, und daß eben das Allereigenste eine Befreiung vom bloßen Punkte enthielt, ein Getriebenwerden von ursprünglichen Lebensquellen war.

Eo erfolgt augenscheinlich durch alle Verzweigung des Lebens eine Erhebung des Menschen über sich selbst, ein Teilgewinnen am schaffenden Leben. Dem Sicheinspinnen in den bloßmenschlichen Kreis wirkt eine höhere Art entgegen und überwindet die Vermengung von Niederem und Höherem, die das Durchschnittsleben zu bieten pflegt. Denn das eben macht seinen Charakter aus: es leugnet und bekämpft hartnäckig die Selbständigkeit des Höheren und gewahrt nicht, daß das nichts geringeres als eine Zerstörung seiner Wurzel bedeutet und das gesamte Leben träger Stagnation überliefert. Der darin versenkten Denkart wird alles Wunderbare zur bloßen Wunderlichkeit, ein Gegenstand des Angriffs und Spottes. So erfolgt alle geistige Bewegung in unablässigem Widerspruch und hartem Kampf mit dieser Lebensschicht, aber sie erfolgt trotz aller Anfechtung, sonst würden Religion und Moral, Kunst und Philosophie überhaupt nicht bestehen. Weil aber so das Höhere bei uns stets zu kämpfen hat, muß es höchste Kraft aufbieten und sich dafür zusammenschließen; das aber vermag es nicht, solange es an dem bloßen Nebeneinander seiner Verzweigung haftet; vielmehr ist alle Mannigfaltigkeit als Entwicklung einer umfassenden und begründenden Einheit zu verstehen und zu behandeln, wenn die Bewegung ihren Charakter deutlich ausprägen und zugleich die nötige Festigkeit und Sicherheit erlangen soll; das Beharren beim Nebeneinander der einzelnen Gebiete läßt den Gesamtcharakter ohne genügende Aufhellung und enthält zugleich die Gefahr eines Auseinandergehens, ja Sichverfeindens der einzelnen Lebensströme. Es gilt also auf das begründende Ganze zurückzugehen, dieses kräftig herauszuarbeiten, es voll zur Wirkung zu bringen und als eigene Tat zu ergreifen. Wieviel damit gewonnen wird, hat der Gesamtverlauf unserer Untersuchung zu zeigen; das gute Recht jener Wendung ergibt sich einmal mehr indirekt daraus, daß ohne ein Ganzes selbständigen Lebens jede besondere Betätigung unsicher, ja unerklärlich wird, weiter aber mehr direkt daraus, daß seine volle Heraushebung und Aneignung neue Ausblicke eröffnet, neue Inhalte einführt, neue Kräfte erweckt, die Gesamtarbeit erst aus anfänglicher Blaßheit zu einem deutlichen Charakter führt. So ist jenes Ganze schaffenden Lebens uns Menschen einerseits unerläßliche Voraussetzung, andererseits höchstes Ziel; zwischen Voraussetzung und Ziel liegt aber die große Wendung des Lebens, liegt sein innerer Aufstieg, liegt die Verwandlung des Schicksals in eigene Tat und zugleich eine klare Durchleuchtung unserer gesamten Lage. Nur jene Wendung vermag ein Erstarren im bloßen Menschentum zu verhüten und zu ursprünglichen Quellen des Lebens zu führen; nur damit wird die landläufige Halbheit angreifbar, welche Ziele will, aber die Wege verschmäht, welche in einem bejaht und verneint und so einer durchgängigen Mattheit, ja Unwahrheit verfällt. Jene Wendung muß dahin wirken, daß sich zusammenfaßt, was sonst vereinzelt bleibt, daß den Gehalt und das Vermögen eines Ja erlangt, was sich sonst als bloße Verneinung ausnimmt, daß zur Seele des eigenen Lebens wird, was sonst als bloße Forderung von draußen uns auferlegt scheint. – Verfolgen wir nun näher, wie jene Wendung das Grundgefüge unseres Lebens in allen Hauptzügen umgestaltet, und was sie uns dabei gewinnen läßt.


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