Rudolf Eucken
Mensch und Welt
Rudolf Eucken

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2. Die Behandlung des Problems in der Philosophie

Das Problem einer inneren Verbindung des Menschen mit der Welt fand eine deutliche Antwort zuerst auf der Höhe der griechischen Philosophie, im besonderen bei Plato und Aristoteles. Die naive Denkart, welche den Menschen als ein zugehöriges Stück der sinnlichen Welt behandelt, ist hier überwunden, aber die Überwindung ist mehr eine Weiterbildung und Veredlung als ein schroffer Bruch und eine Umwälzung. Der Mensch hat sich noch nicht von der Welt abgelöst und ihr gegenübergestellt, sondern er weiß sich vom großen All umfangen und schöpft sein Leben aus ihm; wohl genügt seinem Wahrheitsverlangen nicht die sinnliche Welt mit ihrem unsteten Fluß, aber das Denken scheint stark genug, über jene Welt hinaus zu dem Grundbestande der Wirklichkeit vorzudringen. Denn es gilt hier als jenem Bestande von Haus aus wesensverwandt, die Seele des Menschen scheint im Keime schon zu enthalten, was die Berührung mit der Welt entfaltet. Mensch und Welt scheinen hier zueinander zu streben und im Erkennen einander zu finden, das in der völligen Einigung beider durch künstlerische Anschauung seine abschließende Höhe findet. Daß ein Zusammenhang besteht und nur entwickelt zu werden braucht, daß daher eine Wahrheitserkenntnis möglich ist, daran wird hier gar nicht gezweifelt; so wird, was der Mikrokosmos enthält, als ein unverfälschter Ausdruck des Makrokosmos verstanden, dessen Grundbestand uns damit zugänglich wird. Dabei gilt das All, dem sich unsere Seele verbindet, als eine fertige und geschlossene Größe; so hat der Mensch hier nichts zu verändern und weiterzubilden, sondern lediglich aufzunehmen und anzueignen. Aus solcher Überzeugung schufen Plato und Aristoteles großartige Gedankenbilder der Welt, jener mehr mit leuchtenden Farben und in starker persönlicher Erregung, dieser in ruhiger Arbeit und energischer logischer Durchbildung. So groß ihre Unterschiede sind, sie liegen innerhalb einer gemeinsamen Art. Vom Menschen aus werden Gedankengrößen in die Welt hineingetragen und damit der Kleinheit menschlicher Vorstellung und menschlicher Zwecke entwunden. Aber im Grunde bleiben sie Größen menschlicher Art, es fehlt eine genügende Auseinandersetzung von Mensch und Welt; so sieht der Mensch in die Welt nur ein vergrößertes und veredeltes Bild seiner geistigen Kräfte hinein, es ist ein Anthropomorphismus höherer Art, aber ein Anthropomorphismus. Späteren Geschlechtern mußte ein solches Hineintragen menschliche Größen in das All als ein bedenklicher Irrtum erscheinen, namentlich dünkte das Netz von Begriffen, das Aristoteles, der große Systematiker, um die Welt geschlungen hatte, eine Verfälschung der Wirklichkeit. Waren hier doch Kräfte, Strebungen, Zwecke, auch modale Begriffe wie Möglichkeit und Notwendigkeit, in die Dinge selbst versetzt und diese damit vermenschlicht.

Auch das Leben, das aus so enger Verbindung von Mensch und Welt hervorgeht, hat neben unverkennbarer Größe unbestreitbare Schranken. Es ist stark in seiner Frische, Freude und Zuversicht, es führt statt eines Verweilens bei zager und schwankender Reflexion den Menschen rasch an die Dinge heran und läßt ihn ihre Ordnung und Schönheit teilen, zugleich gibt es dem Streben den Zug ins Weite und Große. Aber wie die Welt, so erscheint auch die geistige Art des Menschen hier viel zu sehr als eine gegebene Größe, sie bedarf lediglich einer Herausarbeitung und Zusammenschließung, keiner wesentlichen Umbildung, sie ist mehr Natur als Tat. Damit hängt eng zusammen, daß dies Leben die Verwicklungen und Widersprüche im menschlichen Dasein nicht vollauf anzuerkennen und daher auch nicht mit genügender Kraft zu bekämpfen vermag; das Erkennen ergibt eine volle Versöhnung mit der Wirklichkeit, indem es sie vom Ganzen her und aus den ewigen Beständen sehen läßt und auch das menschliche Handeln zu den rechten Zielen führt; so bildet es den Kern des Lebens.

In der Sache durchbrach schon das alte Christentum diese Lösung des Wahrheitsproblems, indem seine Vertiefung und Selbständigmachung des Innenlebens den unmittelbaren Zusammenhang des Menschen mit seiner Umgebung zerriß und ihn durch schwere Erschütterung hindurch eine neue Welt suchen hieß. Aber das Denken blieb noch im Gefolge antiker Art, es vermochte nicht dem neuen Lebensstand einen wissenschaftlichen Ausdruck zu geben. Erst der Beginn der Neuzeit brachte das Problem in Einklang mit den Wandlungen und Forderungen der weltgeschichtlichen Lage. Diese Lage trieb aber den Menschen nach entgegengesetzten Richtungen und erzwang zugleich eine eingreifende Umwandlung des nächsten Bildes der Welt. Es wird hier nämlich dem Menschen die Welt zugleich nahe- und ferngerückt. Einerseits weicht die weltflüchtige Stimmung des Mittelalters – einem Thomas von Aquino hieß das Jenseits schlechtweg das Vaterland (patria) – einem starken Verlangen zur Welt, die nun vornehmlich als eine Stätte unendlichen Lebens und herrlicher Schönheit gilt; mit »heroischer Liebe« strebt der Mensch sie zu eigen zu gewinnen, sich damit von aller Kleinheit seiner Sondernatur zu befreien und sein Leben zu ungetrübter Größe zu erheben. Auch nachdem der stürmische Drang der Renaissance sich in der Aufklärung zu ruhiger und zielbewußter Arbeit geklärt hat, bleibt das Leben vornehmlich auf die Welt gerichtet und mit der Welt befaßt, auch in Religion und Ethik weicht die Sorge um den Stand der Seele dem Verlangen nach einer Größe des Lebens durch Ausbreitung über die Weite und Fülle des Alls. Dieselbe Zeit aber, die im Menschen eine glühende Liebe zur Welt erweckt und ihn zur vollen Einigung mit ihr treibt, reißt eine scheinbar unüberwindliche Kluft zwischen ihm und ihr; denn wachsende Selbstbesinnung und gesteigerte Schärfe des wissenschaftlichen Denkens läßt erkennen, daß der Mensch unmittelbar nur sich selbst besitzt, und zugleich erkennen, daß seine besondere Art, seine Subjektivität, umwandelnd in alles einfließt, was an Bildern von der Welt in ihm aufsteigt. So rückt ihm die Welt bei aller äußeren Nähe innerlich in weiteste Ferne, es läßt sich nicht mehr wie früher unmittelbar mit ihr verkehren, sondern ein Weg zu ihr ist erst zu finden; es wird unsicher, ob das überhaupt möglich sei und nicht der Zweifel das letzte Wort behalte. Beharrt zugleich ein starkes Verlangen zur Welt, so entsteht eine ungeheure Spannung, Subjekt und Objekt stoßen einander ab und können doch voneinander nicht lassen. Das ist eine Lage, die zwingend eine Umwandlung des ersten Anblicks der Dinge verlangt und dafür die Denkarbeit zur Hilfe rufen muß.

Wir wissen, wie in dieser Bewegung Descartes eine führende Stellung einnahm, wie er ganzen Jahrhunderten ihre Bahn vorgezeichnet hat. Indem die Scheidung von Subjekt und Objekt mit vollster Schärfe vollzogen wird, erscheint das Subjekt als das einzig Gewisse, als der archimedische Punkt, der alle Arbeit zu tragen hat. Die Welt wird damit zum Problem, selbst ihr Dasein wird zweifelhaft. In Wahrheit aber bleibt auch bei solcher Wendung zum Subjekt die Welt dem Denker gegenwärtig und fährt fort ihn zu bemühen; nur insofern besteht eine große Verschiebung, als der unmittelbare Zusammenhang mit ihr zerbrochen ist und sich erst durch Gedankenarbeit wieder herstellen läßt. Die Hauptbewegung des Lebens geht nunmehr nicht mehr von der Welt zum Menschen, sondern vom Menschen zur Welt, vom Mikrokosmos zum Makrokosmos. Descartes gibt dem Leben von innen heraus die Richtung zur Welt, indem er als seinen Kern das Denken faßt und dabei unvermerkt den allgemeinen Begriff zum spezielleren des erkennenden Denkens verengt. Nun gilt es nur einen Prüfstein dafür zu finden, was in unserem Erkennen als wahr gelten dürfe; als solcher wird die Klarheit und Deutlichkeit erklärt, und daraus die Aufgabe abgeleitet, all unser Erkennen auf den Stand der vollen Klarheit und Deutlichkeit zu bringen, alles aus ihm zu entfernen, was diese Forderung nicht erfüllt. Zur Begründung seines Vertrauens auf die Gültigkeit dieses Verfahrens zog Descartes bekanntlich die Gottesidee heran; seine Beweisführung hat dabei große Schwächen, aber diese Schwächen selbst bezeugen die Unentbehrlichkeit des Grundgedankens: das menschliche Denken muß in einem absoluten gegründet sein, um einen Weltaufbau vollziehen zu können, der Glaube an das Denken verlangt den Glauben an eine Weltvernunft. Immerhin war der Weg, den Descartes hier einschlug, ein Umweg, der bald graderen Linien weichen mußte.

Mag aber in der Beweisführung vieles hier unausgeglichen sein, eine große und folgenreiche Wendung des Lebens findet hier einen wissenschaftlichen Ausdruck. Indem alle Lebensentwicklung auf die Arbeit des Denkens gestellt wird und durch sie hindurchgehen muß, erlangt der Mensch mehr Aktivität, und verschieben sich ihm alle Größen aus dem Sinnlichen ins Gedankliche, Ideelle. Das aber wird ein Hauptzug der Neuzeit, ohne diese Verschiebung hätte die Gedankenarbeit nicht so ihr Leben bis in die politischen und sozialen Fragen hinein zu führen vermocht, hätte man in ihr nicht so leidenschaftlich um Gedankengrößen und Prinzipien streiten können. Nicht minder verschiebt sich von Descartes und dem Ganzen der Aufklärung aus die Art der Begründung des Lebens. An die Stelle der Geschichte mit ihrer Autorität tritt jetzt die zeitüberlegene Vernunft, sie ruft das Leben zu voller Selbständigkeit und Ursprünglichkeit auf, sie stellt es weit mehr auf sich selbst und läßt es sich mündig fühlen. In solchem Bewußtsein seiner Kraft wirft das Denken sich zum höchsten Richter auf, vor dem aller überkommene Bestand sich zu rechtfertigen hat; alles was dazu unfähig, wird energisch ausgetrieben; was aber die Prüfung des Denkens besteht, das wird durchleuchtet und verstärkt, auch enger miteinander verbunden. So ist eine große Umwälzung unverkennbar, eine kräftige Konzentration, ein Sichten und Scheiden, ein Erwecken und Sammeln durch den ganzen Lebensbereich.

Aber das neue Leben unterliegt bei aller Größe auch vielfachem Zweifel. Ist wirklich das Denken das ausschließliche Maß und das Erkennen der Hauptinhalt des Lebens? Wird damit nichts manches verworfen oder doch weit zurückgestellt, was ein gutes Recht auf Geltung und Wirkung hat, gerät das Leben bei aller äußeren Weite nicht innerlich in eine zu enge Bahn? Vor allem aber: bildet es nicht einen inneren Widerspruch, das Leben auf sich selbst zu stellen und es zugleich ganz und gar in ein Welterkennen zu verwandeln? Denn damit wird es doch an etwas Fremdes gebunden, zu dem es kein inneres Verhältnis gewinnen kann. Das bleibt ein Widerspruch, an dem die ganze Aufklärung leidet: sie zerstört den unmittelbaren Zusammenhang von Mensch und Welt, aber sie läßt eine Welt neben dem Menschen stehen und richtet ihn zwingend darauf; von der Denkarbeit wird nun verlangt, den zerrissenen Zusammenhang wiederherzustellen. Das führte unvermeidlich zu künstlichen Konstruktionen, und diese Künstlichkeit übertrug sich auf das Leben selbst und ließ es nicht zu einem gehaltvollen Beisichselbstsein gelangen. Es sollte bei sich selber sein und wurde zugleich über sich Hinausgetrieben.

Wenn Descartes einen Abschluß nur erreicht mit Hilfe der alten Denkart, der sein eignes Verfahren widersprach, so verbindet Spinoza noch mehr Altes und Neues zu gemeinsamer Wirkung. Auch er läßt eine Welt neben den Menschen stehen und fordert ihn zu ihrer Aneignung auf, aber er versucht einen neuen Weg zur Herstellung einer Gemeinschaft. Dieser besteht darin, daß im menschlichen Leben selbst zwischen einer höheren und einer niederen Art geschieden wird, von denen jene einen Weltcharakter trägt, diese dagegen dem bloßen Menschen angehört und in Weltbegriffe nicht einfließen darf. Jene Art findet Spinoza im Denken, einem von sachlicher Notwendigkeit beherrschten, über die Vorstellungen, Triebe, Zwecke des Menschen erhabenen Denken, diese im sinnlichen Vorstellen sowie in dem es beherrschenden Getriebe der subjektiv menschlichen Zustände und Affekte. Das gilt ihm als der Quell unsäglicher Irrung und Verwirrung, daß der Mensch seine besondere Art in das unermeßliche All hineinlegt, Wertunterschiede in es hineinträgt, sich selbst als den Mittelpunkt des Ganzen behandelt; eine Befreiung davon und ein sicherer Aufstieg zur Wahrheit, ein Einswerden mit der Wirklichkeit scheint aber erreichbar, wenn der Mensch den Schwerpunkt seines Lebens in ein Denken verlegt, das nicht in vereinzelte Akte aufgeht, sondern eine feste Verkettung bildet, eignen Gesetzen folgt, in sich selbst seine Triebkraft trägt. Daß aber, was so im Menschen vorgeht, unmittelbar auch der Welt angehört und den Menschen ihr Leben teilen läßt, das steht und fällt mit einer besonderen Voraussetzung. Ein einziges Sein und Geschehen muß alle Mannigfaltigkeit in sich tragen, muß im besondern den Gegensatz von Subjekt und Objekt umspannen; nur bei Begründung in einem solchen Ganzen kann die einzelne Stelle die Welt als eigen erleben. Es geschieht das aber bei Spinoza in zwiefacher Weise. Einmal bildet das wissenschaftliche Denken mit seiner aus sich selbst bewegten Kausalverkettung ein Gegenstück zur Natur, indem die Ordnung der Ideen genau der Ordnung der Dinge entspricht; sodann aber scheint das Denken in Erhebung zur Intuition imstande, mit dem tragenden und belebenden Grunde des Alls völlig eins zu werden und von ihm aus die ganze Unendlichkeit zu eignem Besitz zu gewinnen. Indem so die Welt dem Menschen sowohl in ihrem Grunde als in ihrer Entfaltung (als natura naturans wie als natura naturata) sich eröffnet, gewinnt sein Leben eine unermeßliche Weite und zugleich das stolze Gefühl, in sicherer Wahrheit zu stehen. Es ist sehr begreiflich, daß das Ganze mit seinen großen und einfachen Zügen starken Eindruck auf die Menschheit machte, daß namentlich künstlerische Naturen der hier verkündigte enge Zusammenhang von Mensch und Welt überwältigend fortriß; auch sind zweifellos bedeutende Weiterbildungen der Welt des Menschen von hier ausgegangen. Aber zugleich ist gegenwärtig zu halten, daß die Größe des allgemeinen Entwurfs nicht das Nähere der Ausführung deckt; je mehr wir uns mit ihm befassen, desto mehr Verwicklungen werden ersichtlich. Die Einigung des Menschen mit der Welt wird hier nur erreicht durch ein Zusammenwirken alter und neuer Denkart. Denn das Ausgehen vom All als dem sicheren Grunde widerspricht direkt der neuen Art, deren Wendung zum Menschen das All in die Ferne gerückt und in ein Problem verwandelt hatte. Nur durch einen kühnen Sprung wird bei Spinoza die Kluft überbrückt. Auch gestaltet sich das Verhältnis zum All und der Inhalt des Lebens grundverschieden, je nachdem der schaffende Grund oder die Entfaltung zur Welt es beherrscht. Bei der Weltgestaltung entsteht ein Parallelismus zwischen Gedankenreich und Natur, wobei diese das Hauptgeschehen bildet, das Innenleben aber zu einer bloßen Begleitung sinkt und als solche seine Kraft und seine Gesetze gänzlich der Natur entlehnt. Wenn dagegen die Intuition weit über den Parallelismus hinaus eine völlige Einigung mit dem Grunde der Wirklichkeit herstellt, so erscheint dieser bei aller Erhabenheit über die Begriffe des Menschen als von innerem Leben erfüllt, als geistiger Natur. Die sichtbare Welt aber wird hier zur Entfaltung dieses Lebens, zum herrlichen Kleide der Gottheit. So wölbt sich über dem breiten Gebiet, das der Naturalismus beherrscht, eine Welt der Mystik mit ihrer Innerlichkeit. Bei allem Unterschiede, ja Gegensatz stimmen aber beide darin zusammen, dem Leben zum einzigen Inhalt ein Erkennen zu geben; das Erkennen allein mit seiner Affektlosigkeit scheint das menschliche Leben von seiner Enge befreien und zu einem Teilhaben am Ganzen des Weltalls führen zu können. Der damit begonnene Kampf gegen menschliche Enge und Selbstsucht war ein berechtigter Rückschlag gegen die ältere Denkart, welche namentlich im Durchschnitt des Alltags die Welt unbedenklich nach menschlichen Größen und Zwecken deutete und alles Geschehen auf den Menschen als Mittelpunkt der Wirklichkeit bezog; aber deckt sich die Grenze zwischen Kosmischem und Bloßmenschlichem in unserem Leben mit der von reinem Denken und sonstigem Leben, geht die Scheidung zwischen höherer und niederer Art nicht durch alle Seiten des Seelenlebens hindurch? Überschreitet nicht Spinoza selbst das bloße Denken, wenn er den Menschen nicht der Welt der Wahrheit schon zugehörig findet, sondern von ihm eine Versetzung dahin und damit eine Umwälzung seines ganzen Seins verlangt? Jedenfalls ist die Folge der spinozistischen Scheidung, daß je mehr sich das Leben hier zur Welt erweitert, es desto mehr an Kraft und Wärme einbüßt, es desto mehr allen seelischen Inhalt preisgibt; die Erweiterung müßte zu einer Zerstörung werden, wenn nicht unablässig aus der älteren Lebensführung eine Ergänzung käme, wenn die Welt des Denkers nicht viel weiter und reicher wäre als seine Begriffe es sind.

Aber mag Spinoza weder die Verbindung des Menschen mit der Welt hinlänglich sichern noch auch dem Leben einen genügenden und einen eindeutigen Inhalt geben, wir verdanken ihm trotzdem große Weiterbildungen und förderliche Anregungen. Er zuerst hat den Kampf gegen das Kleinmenschliche im Bereich des Menschen selbst aufgenommen, er konnte das aber nur, indem er hier ein zusammenhängendes Gefüge entdeckte und in ihm das Weltleben unmittelbar ergriff. Eigentümlich wirkt dabei der Kontrast, daß das Leben hier in seinem Kern die stille und freudige Ruhe der Kontemplation erreicht, daß aber der Weg dahin eine völlige Umkehrung, eine Tat des ganzen Wesens fordert. Auch das mag ein Widerspruch sein, jedenfalls ist es ein Widerspruch, der Leben weckt und das Streben vorwärts treibt.

Leibniz, der nächste große Denker in dieser Reihe, ist zunächst gegen Spinoza vielfach im Nachteil. Ihm fehlt dessen schlichte Größe und Einfalt; als der klassische Denker der Barockzeit schätzt er vielmehr das Gewagte und Künstliche, kühne und überraschende Konstruktionen, auch fehlt ihm die Kraft der Verneinung und zugleich die Schärfe der Scheidung, worin Spinoza groß ist. Aber seine Freude am Bauen und seine Neigung zu bejahen und auszugleichen ist der Ausdruck eines kräftigeren Lebensgefühls, das mehr in der Wirklichkeit sehen und mehr aus ihr machen möchte, das in Wahrheit mehr inneres Leben, mehr Reichtum, mehr Zusammenhang in ihr entdeckt. Im besondern ist es der Gedanke der Individualität, der dabei kräftig hervortritt und auch die Behandlung unseres Problems auf neue Bahnen treibt.

Voraussetzungen wie Forderungen teilt Leibniz mit der Aufklärung, ja er bildet dabei ihre Höhe. Der unmittelbare Zusammenhang des Menschen mit der Welt ist aufgegeben, und alle Wechselwirkung wird verpönt. Aber zugleich verbleibt die Forderung, den Menschen mit der Welt zu verbinden, ihr Leben ihm zuzuführen. Die Hochschätzung des Individuums gibt dieser Forderung die Richtung dahin, in jedem einzelnen das Weltleben zu entwickeln, der Mikrokosmos soll alle Fülle des Makrokosmos teilen. Eine Lösung dieser Aufgabe wird im Begriff der Monade gesucht, er bezeichnet das Einzelwesen, das, von allen Zusammenhängen abgelöst, lediglich auf sich selber steht und nur sich selber lebt, das in diesem Leben aber ein Vorstellungsreich erzeugt, an seiner Stelle ein Gedankenbild der ganzen Welt hervorbringt. Es kann aber dieses Bild nach Leibnizens Überzeugung dem Bestande der Wirklichkeit nur entsprechen und damit Wahrheit erlangen, wenn eine höhere Macht von vornherein alle Mannigfaltigkeit aufeinander bezogen und zueinander gestimmt hat, so daß dasjenige, was an der einzelnen Stelle aus dem eigenen Innern aufsteigt, genau ihrer wirklichen Lage im Ganzen der Welt entspricht. So das vielerörterte System der prästabilierten Harmonie. Dies System verläßt die natürliche Betrachtung der Dinge und verlangt zu seiner Begründung ein Wunder, es verlegt dies Wunder aber lediglich an den Anfang und stellt alle weitere Entwicklung auf eigene Kräfte und Gesetze.

Die Bedenklichkeit dieses Gedankenganges steht uns heute viel zu deutlich vor Augen, um einer Erörterung zu bedürfen; das Notwendigwerden eines so künstlichen Auswegs darf als ein Anzeichen dafür gelten, daß die Aufgabe schief gefaßt war, daß sie widersprechende Forderungen in sich trug. Die hier gebotene Lösung des Problems ist unzulänglich, weil sie nicht nur die Verbindung mit der Welt an eine höchst gewagte Hypothese knüpft, sondern auch dem Leben mit dieser Art der Verbindung bei aller Weite keinen rechten Gehalt verleiht. Denn da hier die Grundelemente der Wirklichkeit lediglich Vorstellungskomplexe sind, wir also im Vorstellen ihrer immer nur wieder etwas Vorstellendes ergreifen, so kommt das Leben über ein Vorstellen des Vorstellens, ein Spiegeln des Spiegelns nicht hinaus, die Wirklichkeit wird damit immer mehr in ein Schattenbild verwandelt. Nirgends mehr als hier zeigt der Intellektualismus die Gefahr, alle Wirklichkeit zu verflüchtigen; eine Eindämmung dieser Gefahr wird nur durch eine ständige Entlehnung aus einer andersartigen gehaltvolleren Welt erreicht.

Aber nirgends mehr als bei Leibniz tritt zutage, daß sehr problematische Begriffskonstruktionen große und folgenreiche Bewegungen des Lebens einführen können. Das Entdecken einer Welt im Einzelwesen machte unvergleichlich viel mehr aus ihm, gab zugleich der Forschung die Richtung auf das Kleine, ja im Verschwinden Begriffene, und ließ in eindringender Analyse das Hauptwerkzeug der Forschung sehen; das Gesamtbild der Wirklichkeit, die nunmehr aus einer einzigen Welt eine Welt von zahllosen Welten wurde, stellte sich unermeßlich reicher, belebter, feiner dar. Die gänzliche Verlegung der Bewegung in das Einzelwesen selbst gab ihr den Charakter einer Entwicklung von innen heraus, und da sich die in jenem Wesen angelegte Welt erst in endlosem Fortschritt herausarbeiten läßt, so wird hier der Gedanke eines kontinuierlichen Fortschritts aufs tiefste begründet und vollauf gesichert. In diesen Zusammenhängen wurzeln die Gedanken, welche das Schaffen des deutschen Humanismus beherrschten: die Erhebung der weltumspannenden Persönlichkeit zum Hauptelement des Lebens, der für Geschichte und Bildung höchst fruchtbare Gedanke einer Entwicklung von innen heraus, das Verlangen nach rastloser, aber geordneter Tätigkeit gegenüber dem Ungestüm der Renaissance, der feste Glaube an die Menschheit und ihren Fortschritt, an eine Menschheit aber, welche zum Weltall strebt und aus ihm eine Größe schöpft, nicht in ein enges Philistertum aufgeht, durch alles zusammen ein herzhaftes Wohlgefallen an der Wirklichkeit und eine freudige Lebensstimmung. Alles das knüpft an Leibniz an, nur bedarf es einer Befreiung von der schulmäßigen Verpuppung und einer Ergänzung aus weiteren Zusammenhängen.

So wie Leibnizens Leistung bei unserem Probleme vorliegt, teilt sie den Widerspruch, der durch die ganze Aufklärung geht und ihren Charakter zum guten Teile bestimmt. Das Denken hat den unmittelbaren Zusammenhang des Menschen mit der Welt zerstört, aber es läßt dabei eine Welt neben dem Menschen stehen und kann sich daher der Aufgabe nicht entziehen, irgendwelche Verbindung auf einem Umwege herzustellen. Dadurch wird es zu einer gewagten Metaphysik getrieben, die um so künstlicher werden muß, je tiefer der Riß zwischen Mensch und Welt gezogen war. Es ist diese besondere Art der Metaphysik, welche Kant zerstört hat, keineswegs hat er damit alle und jede Metaphysik zerstört. Auch die Selbständigkeit und die Ursprünglichkeit des Lebens schien bei solcher Künstlichkeit der Verbindung des Menschen mit der Welt arg bedroht. Kant wie der deutsche Humanismus waren demgegenüber darin einig, einen unmittelbaren Zusammenhang und ein ursprünglicheres Leben zu fordern.

In eine neue Epoche tritt das Problem des Verhältnisses des Menschen zum All bei Kant. Kant durchschaute mit voller Klarheit die Unmöglichkeit, eine außer dem Menschen befindliche Welt ihm innerlich nahezubringen; das war für ihn schon deshalb ausgeschlossen, weil sich einer Übereinstimmung des Gedankenbildes mit dem Gegenstand in keiner Weise gewiß werden läßt; so galt es, einen neuen Weg zu suchen, wenn nicht der Zweifel das Feld letzthin behalten sollte. Einen solchen Weg fand Kant in der bekannten Kopernikanischen Umwälzung: unser Erkennen hat sich nicht nach den Dingen, sondern die Dinge haben sich nach uns zu richten, d. h. wir erkennen Dinge nur so weit als sie in unsere Anschauungs- und Denkformen eingehen, wir erkennen sie nur als Erscheinungen, nicht in dem, was sie bei sich selber sind; die Erscheinungen aber verbinden wir nach unserer geistigen Organisation zum Ganzen einer Welt; die dabei geübte Tätigkeit klar herauszustellen, wird nunmehr zur Hauptaufgabe der Philosophie. Das besagt eine durchgreifende Verschiebung des Denkens und Lebens zum Subjekt, eine gründliche Befreiung vom Druck einer fremden Welt und zugleich von allen Versuchen, zu dieser Welt auf künstlichen Wegen zurückzugelangen. Diese Wendung ergab zugleich eine innere Umgestaltung des Erkennens. Aus einem Streben über den Menschen hinaus wurde es jetzt ein Streben zu ihm zurück, wurde es ein Selbsterkennen des sich seine Welt bereitenden Geistes. Allerdings ist dieses Erkennen nicht absoluter Art, denn es kann seinen Inhalt nicht gänzlich von sich aus erzeugen, sondern es muß den Stoff von einer Welt der Dinge geliefert erhalten, um ihn dann nach seinen Gesetzen zu ordnen und zusammenzufügen; über eine formende Tätigkeit kommt es nicht hinaus. Daher bleibt die Gedankenwelt, die hier entsteht, auf den Menschen beschränkt, sie darf nicht über ihn hinaus gelten wollen. Darin liegt eine starke Verneinung und ein Verzicht auf alte Wünsche, aber der Beschränkung nach außen hin entspricht eine innere Weiterbildung fruchtbarster Art. Indem das Subjekt zum Träger eines Weltaufbaus wird, erweist es bei sich selbst eine Tiefe, eine geistige Struktur; ein Stammbesitz des Geistes wird aufgedeckt, von dem sich erst unserem Denken aufhellt, was in den Leistungen greifbar vorliegt. Zugleich wird der Kern des Geschehens hinter das empirische Bewußtsein des Individuums zurückverlegt, ein eigentümliches Verfahren entspringt aus der Forderung, die Gesamtgebilde auf die erzeugenden Kräfte zurückzuführen, die Möglichkeit dessen aufzuweisen, was uns als Wirklichkeit gilt. So scheidet sich von der empirischen Betrachtung eine transzendentale und gibt dem Tatbestand mehr Tiefe, mehr Zusammenhang, mehr Belebung. Das Bild der Welt aber wird in allen seinen Teilen aufs gründlichste umgewandelt, wenn alles, was es an Verbindung aufweist, nicht als den Dingen selbst angehörig, sondern als vom Menschen aufgebracht gilt. »Der Verstand schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor.«

Die Welt, die hier entsteht, ist als das eigne Werk des Menschen sein unmittelbarer Besitz, alle Kluft ist hier verschwunden. Aber zugleich ist die Welt in ein Reich der Erscheinungen umgewandelt, der Gewinn ist teuer erkauft, eine starre Schranke menschlichen Vermögens nicht zu verkennen. Aber die hier gezogene Schranke bildet nicht den letzten Abschluß: was dem Erkennen versagt ist, ein Durchdringen zu den tiefsten Gründen, das wird möglich im Gebiet des Handelns. Beiden Gebieten gemeinsam ist die formende Tätigkeit als die eigentümliche Leistung des Geistes, aber während sie beim Erkennen an die Anregung durch eine fremde Welt gebunden bleibt, gelangt sie nach Kant auf dem Gebiet des Handelns zu voller Selbständigkeit; das aber in der Moral, die eben in der Erhebung des Handelns zu solcher Selbständigkeit ihr echtes Wesen hat. Hier nämlich vermag die formende Tätigkeit aus eignem Vermögen eine Wirklichkeit zu erzeugen, die über der Besonderheit und Begrenztheit des bloßen Menschen liegt und als Kern aller Wirklichkeit gelten darf. Bei solcher Fassung bildet die Moral nicht ein bloßes Stück oder eine bloße Seite eines weiteren Lebens, sondern hier wird sie ganz auf sich selbst gestellt; auch dient sie nicht den Zwecken des bloßen Menschen, sondern sie hebt weit über alle solche Zwecke hinaus; sie trägt ihr leitendes Ziel und ihre bewegende Kraft unmittelbar in sich selbst, sie erlangt damit eine volle Souveränität. Sie kann sich nicht voll entwickeln, ohne sich in Hauptideen ein eignes Gedankenreich zu bilden, das aber nicht sowohl eine Sache wissenschaftlicher Erkenntnis als persönlicher Überzeugung ist. Alles übrige Leben wird dieser Welt der Moral unterworfen, ja die ganze übrige Welt erscheint von hier aus als eine bloße Umgebung. Der Mensch aber, der den tiefsten Grund der Wirklichkeit nicht nur miterlebt, sondern ihn als Träger und Schöpfer mit hervorbringt, erreicht damit eine unvergleichliche Größe und Würde, auch das freudige Bewußtsein eines sicheren Besitzes der Wahrheit. Das alte Problem des Verhältnisses des Menschen zur Wirklichkeit tritt damit in eine neue Phase, die nach den Erfahrungen und Enttäuschungen der Menschheit allein noch übrig blieb. Der Mensch muß unmittelbar eine weltschaffende Tätigkeit entwickeln können, wenn er ein inneres Verhältnis zur Wirklichkeit erreichen soll. Daß Kant aber jene schaffende Tätigkeit in die Moral setzt und diese damit über alles sonstige Leben unvergleichlich hinaushebt, das rechtfertigt erst vollauf die Schätzung, welche jene von altersher im Bewußtsein der Menschheit besaß. So ist dies auch der Punkt, von wo aus Kant am stärksten in das gemeinsame Leben gewirkt hat.

Daß Kants Lebensarbeit den tiefsten Eindruck machte und Bewegungen hervorrief, die sich bis zur Gegenwart in frischer Kraft erhalten, ist vollauf zu begreifen. Eine geistige Revolution ward von ihm vollzogen, und zwar nicht bloß in kühnem Entwurf, sondern mit strenger Durchbildung und zäher Hineinarbeitung in alle Verzweigung des Lebens. Alle bisherige Leistung ward dadurch unzulänglich gemacht und das Leben auf einen neuen Boden gestellt. Hier aber zeigte es so viele Aufgaben und rief auch so viele Fragen und Zweifel hervor, daß alle Ruhe für lange Zeit ausgetrieben war. Im Verlauf der Geschichte stellt sich die Leistung Kants mehr als der Beginn einer unermeßlichen Bewegung denn als ein fertiger Abschluß dar; eben die Männer, welche die kantische Umwälzung mit besonderer Wärme begrüßten, haben eifrig über das kantische System hinausgedrängt, sie konnten und wollten nicht den Punkt als Endpunkt betrachten, an den von Kant das Problem gebracht war. Eine gewaltige intellektuelle Unruhe entsprang namentlich daher, daß der Hauptzug seiner Gedankenwelt, einmal mit voller Klarheit herausgestellt, als eine unabweisbare Notwendigkeit wirkte, daß aber die nähere Ausführung gewichtige Fragen und Zweifel hervorrief und die Geister weit auseinander trieb. Jeder sah dabei in Kant etwas anderes, jeder hatte seinen, vielleicht niemand den echten Kant. Die Zweifel trafen aber sowohl die nähere Fassung der Wendung zum Subjekt als die Scheidung der theoretischen und praktischen Vernunft samt der Gestaltung jedes einzelnen dieser Gebiete.

Die Verschiebung der Wirklichkeit vom Objekt zum Subjekt ist der Kern dieser Gedankenwelt; wie aber haben wir das Subjekt selbst zu verstehen? Es ist nicht das Individuum, sondern die uns gemeinsame Vernunft, Kant spricht auch von einem Bewußtsein überhaupt; aber ist dies eine bloße Abstraktion, eine bloße Heraushebung der den Einzelpunkten gemeinsamen Züge, oder ist es eine selbständige, jenen überlegene und zu ihnen wirkende Macht? Es hängt eng damit die Frage zusammen, ob die Welt, welche aus der Tätigkeit des Subjekts hervorgeht, einen besonderen Kreis neben der großen Welt bedeutet, oder ob darin diese Welt ihre eigne Tiefe findet, ob die geistige Bewegung neben oder innerhalb der Wirklichkeit steht. Offenbar muß je nach der Entscheidung darüber der Wahrheitsbegriff verschieden ausfallen, muß Denken und Leben sich grundverschieden gestalten.

Kant selbst hat nach den verschiedenen Gebieten verschieden entschieden, er hat der theoretischen Vernunft nur eine phänomenale, erst der praktischen eine fundamentale Bedeutung gegeben. Diese Scheidung ist sicherlich wichtig und folgenreich, aber als letztes hingenommen gefährdet sie nicht nur die Einheit des Lebens, sondern schädigt sie auch die einzelnen Gebiete; denn keins von beiden kann in der Absonderung volle Gewißheit erlangen noch auch die notwendige Weite erreichen. Ein Erkennen, das von seinem Bilde der Wirklichkeit die Tatsachen und die Erfahrungen des Innenlebens ausschließt, kann nur einen einseitigen Durchblick geben; viel zu sehr ist es dann die Natur, welche hier das Weltbild bestimmt, viel zu formal wird dann die Leistung des Erkennens. Weiter macht die Rechtfertigung der hier geübten transzendentalen Betrachtung nicht geringe Schwierigkeit. Es wird von Gesamtleistungen ausgegangen, und diese werden auf ihre erzeugenden Kräfte zurückverfolgt. Aber sind sie selbst allem Zweifel enthoben, haben sie sich genügend mit den Einwendungen des Empirismus auseinandergesetzt, der alle Zusammenhänge von einzelnen Vorgängen her allmählich entstehen läßt und ihnen zugleich einen anderen Sinn verleiht? Der Beweisführung ward an dieser Stelle oft ein Zirkel vorgeworfen: das a priori wird begründet von jenen Gesamtleistungen her, diese aber setzen ihrerseits ein a priori voraus. So berechtigt und wichtig daher die von Kant durchgesetzte Zurückverlegung und Abstufung der Denkarbeit ist, die Art ihrer Begründung und näheren Ausführung steht manchem Angriff offen. Kann sich überhaupt das Erkennen mit der ihm hier gesetzten Beschränkung auf die Erscheinungswelt dauernd begnügen? Drängt nicht das Verlangen nach voller Einigung mit den Dingen zwingend darüber hinaus, und hat nicht Kant selbst in der Welt der Moral die gezogene Schranke durchbrochen?

Ähnliches erfahren wir im Gebiete der praktischen Vernunft. Mit unvergleichlicher Energie hat Kant hier das Leben auf eine höhere Stufe gehoben, die sich nun und nimmer wieder aufgeben läßt, er ist hier ein Führer der Menschheit geworden wie wenig andere, er hat dem Menschen durch strenge Verneinung und Zucht hindurch ein weltschaffendes Wirken in der eignen Seele eröffnet. Aber der befreiende und erhöhende Grundgedanke begegnet in der Ausführung mannigfachen Schwierigkeiten. Die Grundtatsache selbst, das Erscheinen einer Welt der Freiheit im Menschen, ist in ihrer Überlegenheit gegen den Mechanismus des seelischen Lebens nicht hinlänglich geschützt, es kann immer wieder der Zweifel entstehen, ob sie wirklich ein Urphänomen und nicht abgeleiteter Art sei. Die Moral entwickelt hier – und sie muß das zur Behauptung ihrer Stellung – eine eigene Gedankenwelt, sie fordert dafür die Ideen Freiheit, Gott und Unsterblichkeit. Aber kann sie diesen Ideen die sichere Überzeugung des ganzen Menschen gewinnen, wird nicht immer wieder die Frage kommen, ob jene Gedankenwelt nicht eine bloße Zutat, eine bloße Hilfe der menschlichen Schwachheit bilde? Ferner muß diese Moral das Handeln, um es durchaus unabhängig zu machen und über alle bloßmenschlichen Zwecke hinauszuheben, lediglich auf seine Form, auf die Form der Allgemeinheit stellen. Dabei aber wird die Moral zu sehr bloßes Gesetz, man sieht nicht, wie es von hier aus möglich werde, ihr einen lebensvollen Inhalt zu geben; es wurde das bei Kant selbst nur dadurch möglich, daß er den Begriff der Persönlichkeit heranzog und damit das Ganze belebte, damit dem Menschenwesen eine Größe und Würde verlieh. Aber selbst so bleibt die Fassung der Moral zu eng, indem sie lediglich auf das Verhältnis zu handelnden Personen geht, unser Verhältnis zur Sache aber, wie es in aller Arbeit vorliegt, z. B. in Kunst und Wissenschaft, nicht in ihre Schätzung und Forderung aufnimmt. Daß so die Moral nicht das ganze Leben umspannt, das wird eben bei Kant zu einem Mangel, da er besonders viel in der Richtung getan hat, die einzelnen Lebensgebiete, z. B. die Kunst, in ihrer Eigentümlichkeit schärfer zu fassen, als das bis dahin geschehen war.

Alle solche Bedenken lassen den Kern der kantischen Leistung unangetastet: die Befreiung des Lebens zusammen mit einer unermeßlichen Erweiterung und Vertiefung, die Aufweisung einer wesentlich höheren Stufe, als sie bis dahin dem erkennenden Denken gegenwärtig war; damit ist auch das Weltproblem, ist unser inneres Verhältnis zur Wirklichkeit in eine neue Phase getreten. Es läßt sich nicht daran zweifeln, daß der Schritt, den Kant vorwärts tat, sich nicht wieder zurücknehmen läßt. Aber die dargelegten Bedenken gegen das Nähere der Begründung und Ausführung dürften zur Genüge zeigen, daß die kantische Leistung manches enthält, was über Kant hinaustreibt. Zur Wirkung kam in der stark erregten und schaffensfrohen Zeit um ihn zunächst der Widerspruch gegen die der Selbsttätigkeit von ihm gezogenen Schranken sowie auch ein kräftigeres Verlangen nach Einheit; die daraus entspringende Bewegung, deren einzelne Stufen sich hier nicht wohl verfolgen lassen, hat sich immer mehr vom Ethischen ins Intellektuelle und vom unmittelbaren Bewußtsein des einzelnen ins geschichtlich-gesellschaftliche Leben der Menschheit verlegt, bis sie im Systeme Hegels die Durchbildung zu einem neuen Lebenstypus erreichte und zugleich ein neues Verhältnis des Menschen zur Welt entwickelte.

Auch bei Hegel wird innerhalb des menschlichen Bereiches eine selbständige Tätigkeit weltschaffender Art aufgedeckt und damit ein inneres Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit hergestellt. Hier aber besteht diese Tätigkeit im Denken, in einem Denken, das sich sowohl über die bloße Vorstellung als über alle menschlichen Zwecke zu souveräner Stellung emporhebt, das in sich selbst ein Gesetz und eine Kraft fortschreitender Bewegung trägt, das durch ein Hineinziehen alles Daseins in solche Bewegung dieses mehr und mehr in ein unsichtbares Reich des Geistes verwandelt. Indem die Wirklichkeit hier zu einer Selbstentwicklung des Denkens wird, erfährt sie die gründlichste Umgestaltung: alles Äußere wird in ein Inneres verwandelt, alles Einzelne tritt in Zusammenhang miteinander, alles Ruhende wird in Fluß gebracht, durchgängig wird dabei das eine auf das andere angewiesen und eng mit ihm verkettet; indem jedes an seiner Stelle eine besondere Aufgabe empfängt, strebt doch alles zu einem Ganzen zusammen. Die Bewegung wird dadurch ein sicherer Aufstieg, daß sich einer versuchten Bejahung immer wieder eine Verneinung entgegenwirft, daß ein Hindurchgehen durch Satz und Gegensatz eine immer vollere Durchbildung der Wirklichkeit gewinnen läßt. So gefaßt, steht das Denken nicht neben den Dingen und behandelt sie nicht als einen Vorwurf bloßer Reflexion, sondern es wird ein Erzeugen der Dinge, die in ihm ihr eignes Wesen und ihre volle Wahrheit finden. In dieser Bewegung wird das einzelne »aufgehoben« im verneinenden Sinn als eine selbständige Besonderheit, aber es wird »aufgehoben« im bejahenden Sinn als ein Moment, eine Stufe des Ganzen. Die Bewegung des Denkens stellt sich hier als ein Siegeszug dar, in welchem es vollen Besitz von seinem Eigentum nimmt; es läßt dabei keine dunkle Tiefe hinter seiner Arbeit liegen, es braucht keine Schranke als endgültig anzuerkennen, aber doch treibt es nicht in eine unabsehbare Ferne hinein, sondern es sucht in der ganzen Bewegung sich selbst, sein volles Beisichselbstsein, das Erkennen, daß der Geist alles in allem ist. Wie bei Kant so bildet auch hier die Freiheit den höchsten Wert und das letzte Ziel, aber Freiheit ist hier aus dem Moralischen ins Intellektuelle, aus der Gesinnung in die Kraft verlegt. Auch das bildet einen Gegensatz, daß Kant mit der Größe des Menschen zugleich seine Grenze zeigt, während Hegel im menschlichen Geistesleben unmittelbar das absolute Geistesleben zu ergreifen glaubt; damit erst gewinnt er das Recht, alle Einschränkung abzulehnen und die Überzeugung zu bekennen, daß »von der Größe und Macht des Geistes der Mensch nicht groß genug denken kann«.

So eröffnet auch der hier eingeschlagene Weg dem Menschen ein inneres Verhältnis zur Welt. Als denkendes Wesen kann er die geschilderte Wirklichkeitsbildung unmittelbar miterleben, nur hat er dafür allen Eigensinn abzulegen, sich ganz und gar in jenes schaffende Denken zu versetzen und seinen Notwendigkeiten bedingungslos zu folgen. Diese völlige Hingebung bildet nach Hegel den Kern der Moral. In engem Zusammenhang damit gibt der Persönlichkeit einen Wert nur das, was sie innerhalb der Gesamtbewegung leistet, die individuelle Art als solche hat hier keinen Wert. »Wer, was seine Zeit will, ausspricht, ihr sagt und vollbringt, ist der große Mann der Zeit.« Insofern wird auch hier dem Menschen eine Selbsverneinung zugemutet, »der Mensch muß zweimal geboren werden, einmal natürlich und sodann geistig wie der Brahmine.«

Auch dieses Lebens- und Weltbild hat eine eigentümliche Größe. Der Denker ergreift eine Tatsache, die seit Sokrates die Menschheit unablässig beschäftigt hat: das Wirken des Denkens als einer in uns befindlichen und zugleich uns überlegenen, uns bezwingenden Macht; diese Tatsache wird jetzt vom individuellen Lebenskreis abgelöst, zu einem Weltgeschehen erweitert und zu unbegrenzter Wirkung gebracht. Wie dabei das geschichtlich-gesellschaftliche Leben der Menschheit den Hauptstandort der Betrachtung bildet, so hat diese ihre Hauptstärke in der kräftigen Durchleuchtung und Zusammenfassung dieses Gebietes, sie zeigt in überzeugender Weise, daß hier aller menschlichen Absicht und Kraft überlegene Mächte walten, sich aus eigner Triebkraft bewegen, in sicherem Fortgang ihren eignen Gehalt herausarbeiten; so ist hier die Bedeutung des Objektiven in Sitte, Gesetz und Staat gegenüber der Willkür des Subjekts voll zur Geltung gebracht. Aber auch darüber hinaus ist in aller Wirklichkeit ein logisches Element erkannt und als ihr echtes Wesen möglichst herausgearbeitet.

So ward hier die ganze Weite des Lebens bis in die feinere Verzweigung hinein aus einem Gusse gestaltet und jede einzelne Stelle einem umfassenden und belebenden Wirken eingefügt; es ist sehr wohl zu begreifen, daß diese Bewegung zu ihrer Zeit viele überwältigend fortriß und über diese Zeit hinaus ihr Wirken tief in große Gebiete eingrub. Kant gegenüber schien hier eine größere Weite, eine gleichmäßigere Durchdringung der gesamten Wirklichkeit, mehr Erhebung über die Sphäre subjektiver Gesinnung gewonnen. Da auch die Freiheit, wie wir sahen, aus dem Persönlichen ins Unpersönliche verschoben ward, so entstand ein intellektuelles Kraftsystem, das sich wohl als die Höhe der modernen Kultur fühlen konnte, das jedenfalls den Gipfel des modernen Intellektualismus bildet.

Das weitere Schicksal der hegelschen Philosophie war dem der kantischen recht ungleich. Wohl drängte die Bewegung stürmisch über Kant hinaus, aber als ihr Ausgangspunkt blieb er stets in hoher Schätzung, und immer von neuem zog er die Gedanken zu sich zurück. Bei Hegel dagegen folgte dem anfänglichen großen Erfolge überaus rasch ein völliger Rückschlag, die Verwerfung wuchs wohl gar zu einer Verspottung, das Ganze ward oft als eine bloße Verirrung hingestellt. Der nächste Grund dieses Rückschlages war sicherlich die Wandlung der Hauptrichtung des Lebens, welche das zweite Drittel des 19. Jahrhunderts brachte. War das deutsche Leben auf seiner Höhe bis dahin vorwiegend den Problemen einer unsichtbaren Welt zugewandt, so wurden nunmehr die der sichtbaren Welt in Natur und Geschichte so übermächtig, daß das Denken und Sinnen gänzlich von ihnen eingenommen ward und das Interesse wie das Verständnis für ein System verlor, das die ganze Wirklichkeit in ein einziges Gedankengewebe verwandeln wollte. Die veränderte Zeitlage ließ aber zugleich alles stark empfinden, was die Gesamterfahrung der Menschheit an Widerspruch gegen die hegelsche Gedankenwelt enthielt, eben die Punkte der Größe wurden nunmehr zu hartem Anstoß. Eine besondere Stärke dieses Systems bildete seine Geschlossenheit, sein strengsystematischer, einheitlicher Charakter. Aber solche Geschlossenheit war zugleich eine strikte Begrenzung, und dieser Begrenzung widersprach mit unwiderstehlicher Macht die unerschöpfliche Gestaltenfülle und die reine Tatsächlichkeit des Bestandes der Wirklichkeit, mit überlegener Kraft durchbrach er das ihm hier als sein eigenes Wesen auferlegte logische Schema und entzog sich zugleich aller philosophischen Konstruktion. Die gepriesene Gestaltung aller Weite des Lebens aus Einem Gusse erschien nunmehr als eine Vergewaltigung der Individualität des Geschehens, die Verwandlung des Lebens in einen rastlos fortschreitenden Prozeß als eine Auslieferung an einen uferlosen Relativismus; die Umsetzung der ganzen Wirklichkeit in Größen des Denkens und zwar des erkennenden Denkens gewährt den einzelnen Gebieten keine Selbständigkeit, wie es namentlich die Religion zu ihrem Schaden erfahren muß; das hier geübte Denken des Denkens vermag das Leben nicht zu einem Eigenleben, einem vollen Beisichselbstsein zu führen; der Weltprozeß wird zu einer unablässig fortschreitenden Aufhellung, aber da in solcher Aufhellung kein lebendiger Inhalt ersichtlich wird, so wird er eine wachsende Selbstverzehrung, und all die ungeheure Aufregung bleibt in ihrem Kerne leer. Diese Leere verbirgt sich nur deshalb, weil die bedeutende Persönlichkeit des Denkers die Begriffsarbeit unablässig durch eine reichere Welt ergänzt, indem sie aus Altertum, Christentum, moderner Kultur eine reiche Fülle von Leben heranzieht. Aber es verbleibt der Fehler im Grunde, und nach dem Scheiden der Persönlichkeit des Begründers mußten jene Mängel vollauf zur Wirkung kommen. Ja es sah nach solcher Ablösung das Ganze des Denkprozesses seine Selbständigkeit und seine Überlegenheit gegen den Menschen schwer bedroht. Hegel mit seinem gewaltigen Denkvermögen umspannte die einzelnen Phasen des Prozesses und ließ ihn als Ganzes mit überlegener Kraft zum menschlichen Leben wirken. Bei seinen Schülern aber drohte der Prozeß in einzelne Stücke auseinanderzufallen und das Denken seine Herrscherstellung einzubüßen, die Individuen rissen die Sache an sich, und eine Ironie des Schicksals ließ dieselbe Bewegung, in deren Absicht die völlige Unterwerfung des Subjekts unter den Zwang des Denkens lag, in der Wirkung eine schrankenlose Steigerung des Subjekts, ein unerträgliches Überwuchern der Reflexion über die Tatsächlichkeit ergeben. Jener Zerfall des Denkens war aber zugleich eine Preisgebung aller Selbständigkeit des Geisteslebens. Dafür bleibt doch bezeichnend, daß die hegelsche Schule, die »Philosophie des Geistes«, vielfach in einen krassen, nur durch geistreiche Reflexion ein wenig verbrämten Materialismus umschlug. So droht eine Welt des bloßen Denkens aus der Wirklichkeit herauszufallen und unser Leben ihr zu entfremden, statt es ihr zu verbinden.

Aber gegenüber allen negativen und destruktiven Bewegungen, die von Hegel ausgegangen sind, behält das Lebenswerk des Denkers selbst seine Größe und fährt fort auf unsere Kultur, z. B. auf das Recht, eine wenn auch oft versteckte, so doch keineswegs geringe Wirkung zu üben. Ferner sei folgendes erwogen. Was immer an Hegels Leistung angreifbar sein mag, sein Unternehmen, durch Entwicklung eines souveränen Denkens unser Leben der Besonderheit des bloßen Menschen zu entwinden und es unmittelbar in den Kern der Wirklichkeit zu verpflanzen, trotzt aller kleinlichen Bekrittelung, es ist der letzte Versuch, das Problem, das uns hier beschäftigt, das Problem einer inneren Verbindung des Menschen mit der Welt, in großem Sinne zu losen. Seitdem ist die Philosophie aus einer heroischen Epoche in eine kleinbürgerliche getreten, sie entgeht mit dem als Vorsicht gepriesenen Verzicht auf alles Wagnis allerdings der Gefahr, aber sie verliert zugleich alle Größe und mit ihr eine wesentliche Bedeutung für das Ganze der Menschheit und für die Kulturarbeit. Neuere Versuche einer Synthese, wie der Positivismus und der Pragmatismus sie bieten, machen zur Grundbehauptung einen Verzicht auf das, was uns hier beschäftigt, auf ein inneres Verhältnis zur Welt; so hat unsere Untersuchung mit ihnen nichts zu tun.

Demnach stehen wir am Ende unserer Durchwanderung der Geschichte und mögen nun überlegen, was die Arbeit der Jahrtausende an dieser Stelle gewinnen ließ, und zugleich, nach welcher Richtung sie das eigene Streben weist. Augenscheinlich ist jedenfalls ein negatives Ergebnis: die Bewegung des Lebens hat frühere Lösungen überholt, sie verbietet uns eine Rückkehr zu ihnen. Ein unmittelbarer Zusammenhang des Menschen mit der Weltumgebung ist dem Denken unmöglich geworden, da das dabei unvermeidliche Zusammenrinnen beider Seiten keine ihre Eigentümlichkeit voll entfalten ließ, das Innenleben gelangte nicht zur Herausarbeitung seiner Tiefe, und die Natur ward durch die Hineintragung menschlicher Größen verfälscht; so wirkte das Auseinandertreten beider Seiten, das der Beginn der Neuzeit brachte, als eine große Berichtigung und Befreiung. Da aber bei dieser Scheidung die Welt dem Menschen gegenwärtig und sein Leben an sie gebunden blieb, so galt es den Zusammenhang durch geistige Arbeit wiederherzustellen; das geschah in der Aufklärungszeit mit dem Versuch, im Menschen selbst eine Welttätigkeit aufzuweisen und deren Übereinstimmung mit der Welt um ihn darzutun. Wie wir sahen, ergab das wertvolle Weiterbildungen, aber das Unternehmen, zugleich zu scheiden und wieder zusammenzubringen, war ein innerer Widerspruch; zu seiner Überwindung wurde viel Scharfsinn und Phantasie aufgeboten, aber die Hilfen blieben künstlich und verkünstelten auch das Leben; Kant durchschaute vollauf die Unzulänglichkeit dessen und befreite zugleich den Menschen vom Druck einer neben ihm befindlichen Welt. Sodann aber führte er das Problem auf eine neue Bahn, indem er im Menschen selbst ein autonomes Leben entdeckte; dieses Leben erzeugte aus sich selbst eine Welt, die keiner Bestätigung von außen bedurfte, sondern ihre Wahrheit in sich selber trug. Die nähere Ausführung des Grundgedankens bestand aber darin, daß eine besondere Seite des Lebens, hier das Handeln in der Wendung zur Moral, über seinen sonstigen Bereich hinausgehoben, mit voller Selbständigkeit ausgestattet und zu weltbildendem Wirken berufen wurde. So konnte der Mensch als moralisches Wesen unmittelbaren Anteil am Grundleben der Wirklichkeit gewinnen.

Das war eine durchgreifende Wandlung des Verhältnisses des Menschen zur Welt, aber, wie wir sahen, blieb die Lösung des Problems in dieser Richtung nicht die einzige, bei Hegel trat ihr eine andere zur Seite, einig mit ihr darin, eine besondere Tätigkeit vom übrigen Leben abzuheben und ihr ein weltschaffendes Wirken zuzuerkennen, abweichend in der näheren Fassung dieser Tätigkeit, indem es dort das autonome Handeln, hier das produktive Denken war, das diese Stellung erhielt. Aber wenn das ein grundverschiedenes Lebens- und Weltbild ergab, so bleibt alle Verschiedenheit innerhalb einer gemeinsamen Art. Beide Denker suchen und entwickeln im Bereich des Menschen etwas, das über den bloßen Menschen hinaushebt, das sich als völligen Selbstzweck gibt und durch eigene Kraft bewegt, das aus solcher Kraft ein inneres Gefüge, einen großen Zusammenhang bildet und damit ein Reich der Tätigkeit, sagen wir eine Tatwelt, dem Dasein entgegenhält; es gilt dieses in jene umzusetzen oder doch ihr unterzuordnen. Mit der Teilnahme an solcher Tatwelt ergreift der Mensch die belebende Seele des Ganzen der Wirklichkeit, und erhebt sich sein Leben gegen den nächsten Befund zu unvergleichlicher Höhe. Zu solcher Erhebung bedarf es aber nicht nur einer Umkehrung der Gesinnung, sondern auch einer deutlichen Scheidung der schaffenden Tätigkeit vom nächsten Lebensbefunde: Kants absolute Moral ist grundverschieden von aller Moral, die innerhalb einer gegebenen Welt schätzbare Dienste leistet, und ebenso verschieden ist Hegels produktives Denken von aller bloßen Betrachtung und Reflexion; zugleich entwächst die Aufdeckung und Verfolgung der schaffenden Tätigkeit den Methoden der empirischen Psychologie. Die Denkarbeit gewinnt hier wie da einen großen Stil, indem sie eine Umkehrung des ersten Anblicks der Dinge vollzieht, eine Tatwelt entwickelt und sie mit dem vorgefundenen Dasein auseinandersetzt. Das ergibt eine Bewegung von Ganzem zu Ganzem, die jede einzelne Leistung hebt; der Philosoph aber wird damit zum Entdecker, zum Weiterbildner der Wirklichkeit.

Innerhalb des gemeinsamen Strebens aber zeigten Kant und Hegel den schroffsten Gegensatz. Die moralische und die intellektuelle Lösung des Problems treiben das Leben nach gerade entgegengesetzter Richtung. Bei Kant mehr Konzentration und mehr Abhebung, bei Hegel mehr Universalität und Aneinanderreihung; dort Tat, Persönlichkeit, Größe und Würde des Menschen als eines Trägers moralischer Ordnung, hier Prozeß, Sachlichkeit, der Mensch naturüberlegen als Teilhaber am weltschaffenden Denkprozeß; dort mehr Dunkel verbleibend und große Kontraste in der Wirklichkeit anerkannt, zugleich mehr Aufruf zum Handeln; hier ein unbegrenzter Glaube an die Vernunft der Wirklichkeit, das Denken als sicherer Versöhner des Menschen mit der Welt, daher eine völlige Beruhigung bei philosophischer Kontemplation.

Daß diese Lösungen nicht beliebige Versuche, sondern die einzigen Hauptmöglichkeiten sind, das bezeugt der Hintergrund, den ihnen das gemeinsame Leben der Menschheit gibt. Sie stellen sich nämlich als die Höhepunkte der beiden Hauptrichtungen dieses Lebens dar. Beiden Richtungen gemeinsam ist die Erhebung des Menschen über die bloße Natur, aber die eine sucht das auf dem Wege einer Veredlung, ja Umwandlung der Gesinnung, der Bildung einer Innenwelt des Gemütes und zugleich der Vergegenwärtigung einer weltüberlegenen Ordnung, der sich das menschliche Leben zu verbinden und unterzuordnen hat. Diese Bewegung verkörpert sich in den Religionen und den moralischen Ordnungen des gemeinsamen Lebens, ihre philosophische Höhe bildet Kant. Hinter der hegelschen Gedankenwelt steht dagegen die Kulturbewegung mit ihrem Streben nach einer Unterwerfung und Beherrschung der Wirklichkeit durch geistige, im besondern durch intellektuelle Kraft. Beide Bewegungen möchten den Menschen von der Oberfläche der Dinge zu ihrer Tiefe führen, ihn in den Mittelpunkt der Wirklichkeit versetzen und von da aus ihren Umkreis beherrschen lassen; in der Herstellung einer Verbindung des menschlichen Lebens mit den tiefsten Gründen der Welt vollenden sie ihr eignes Wesen, geben sie den unerläßlichen Erweis ihrer eignen Wahrheit. Wie nun Moral und Kultur die beiden Hauptbewegungen des Lebens bilden, denen sich keine dritte zugesellt, so sind auch die beiden Systeme, welche sie für das wissenschaftliche Denken zu ihrer Höhe bringen, die beiden Hauptmöglichkeiten, von der Philosophie aus durch Entwicklung einer autonomen Tätigkeit den Menschen mit der Welt innerlich zu verbinden.

Aber daß dieser Weg, so unbestreitbar seine Hauptrichtung ist, in der näheren Gestaltung keinen glatten Abschluß ergibt, das zeigt schon die Doppelheit und die Unverträglichkeit der Lösungsversuche. Sie sind nicht miteinander vereinbar, da eine jede von ihnen der von ihr ergriffenen Tätigkeit eine Autonomie und Souveränität nicht sichern kann, ohne alles übrige und so auch die entgegenstehende Tätigkeit zu einer niederen Stufe herabzusetzen. Demnach sehen wir die moralische Lösung die intellektuelle Leistung, und die intellektuelle Lösung das moralische Verhalten zu einer bloßen Vorstufe oder einer Nebenerscheinung niederdrücken. Dem entspricht das gespannte Verhältnis, das Moral und Kultur so oft im Leben der Menschheit zeigen. Die Kraft und das Selbstgefühl, welche die Kultur erweckt, erscheinen der Moral leicht als eine trotzige Überspannung menschlichen Vermögens; die von der Moral besonders gepflegte Gesinnung aber erscheint der Kulturarbeit leicht als matt und schwach, auch in der Gefahr einer Selbstüberhebung. Diesen Zwiespalt teilt auch das Weltproblem: die Welt der Moral und Religion gilt der Kulturarbeit leicht als ein bloßes Wahngebilde, die Welt der Kultur aber der Moral und Religion leicht als eine niedere Sphäre, die keine volle Hingebung verdient.

Schon dieser Gegensatz im Leben der Menschheit verhindert, daß eine Philosophie, welche bloß aus einer einzigen dieser Richtungen das Gesamtverhältnis des Menschen zur Welt gestaltet, einen endgültigen Abschluß bringt. Aber auch unsere eigne Betrachtung zeigte gemeinsame Schranken dieser Versuche. Denn wir sahen zunächst, daß weder das moralische noch das intellektuelle Tatgefüge den ganzen Umfang des Lebens vollauf zu würdigen vermochte; indem alles, was außer der Haupttätigkeit lag, bloßes Mittel oder bloße Vorstufe wurde, drohte eine starke Verengung des Lebens. – Ferner kann ein Tatgefüge sich nicht völlig aus dem übrigen Leben herausheben und sich allein auf sich selber stellen, ohne sich auf die bloße und reine Form sei es des Handelns sei es des Denkens zu beschränken. Daß ein daraus erwachsendes Leben aber nicht auslangt, das haben die Denker selbst im Aufbau ihrer Welt bezeigt. Denn sie haben dabei das Formgewebe unablässig aus einem weiteren und reicheren Leben ergänzt und damit selbst die von ihnen gesteckte Grenze durchbrochen. – Endlich entstand auch die Frage, ob die von beiden Systemen verkündigte und über das sonstige Leben hinausgehobene Haupttätigkeit in solcher Absonderung allem Zweifel und Angriff entzogen sei. Die Ursprünglichkeit der Moral wie die Selbständigkeit des logisch-dialektischen Prozesses kann bestritten werden und ist bestritten worden. Sollte die höchste Ursprünglichkeit und Sicherheit vielleicht erst beim Ganzen des Lebens, nicht einer besonderen Seite, von uns erreichbar sein?

Aber alle solche Bedenken treffen nur die besondere Ausführung, nicht den Grundgedanken; unter allen Zweifeln gegen jene erhält er sich mit voller Notwendigkeit. Denn es hat, wie wir sahen, die geschichtliche Bewegung das Streben nach einem inneren Verhältnis des Menschen zur Welt zwingend auf diesen Weg gedrängt; wird er uns verboten, so fällt alle Möglichkeit, die Enge einer Sondernatur zu durchbrechen, so ist auf alles Leben aus dem Ganzen und Innern verzichtet und der Mensch für immer an die Außenseite eines undurchsichtigen Weltgetriebes gebannt. Wie zerstörende Folgen das für seine Seele und sein geistiges Schaffen hat, das haben wir oben gesehen. So gewiß wir dem widerstehen müssen, so notwendig treibt es zu der Frage, ob der Gedanke des Werdens einer Welt im eignen Bereich des Menschen nicht einer anderen Ausführung fähig ist, als die Tatgefüge ihm gaben. Diese hoben eine besondere Seite des Lebens über seinen sonstigen Bestand hinaus, verliehen ihr volle Selbständigkeit und ließen sie den Charakter des Ganzen bestimmen. Nun aber trat dabei nicht nur eine Spaltung ein, welche das Leben nach entgegengesetzten Richtungen zieht, es wurde auch das hier erzeugte Leben, allein auf sein eignes Vermögen gestellt, im Umfang zu eng und im Inhalt zu arm, auch war seine Tatsächlichkeit nicht allem Zweifel und Angriff enthoben Sollten nun solche Hemmungen nicht vielleicht in der Weise zu überwinden sein, daß dem Unternehmen eine breitere Grundlage gegeben und nicht eine besondere Seite, sondern eine neue Stufe des Lebens aufgesucht würde, die ein weltschaffendes Wirken in sich trägt und sich damit von einer Stufe der Gebundenheit deutlich abhebt? Es wäre damit das Problem einen Schritt zurückverlegt und die Frage nicht auf eine absolute Tätigkeit, sondern auf ein absolutes Leben gerichtet. Nach einem solchen zu suchen, zwingt auch das Verlangen nach innerer Einheit des Lebens, die unabweisbare Forderung, die beiden Hauptbewegungen zur Erhöhung des Menschenwesens in Kultur und Moral nicht gleichgültig gegeneinander stehen zu lassen und sie der ständigen Gefahr einer Verfeindung auszusetzen, sondern sie mit einer Einheit zu umspannen und innerhalb ihrer auszugleichen zu gemeinsamer Vertiefung und Befestigung. Wer könnte leugnen, daß wir heute das Bedürfnis nach einer solchen Ausgleichung und Befestigung besonders stark empfinden? Ob aber ein absolutes Leben von uns erreichbar, ob eine Bewegung zu ihm in uns angelegt und schon im Gange ist, das bildet eine Frage nicht bloßer Erwägung und Deutung, sondern der Tatsächlichkeit und Erfahrung. Nach solcher Tatsächlichkeit also gilt es Umschau zu halten.

Was so die geschichtliche Bewegung als Frage und Forderung an uns bringt, das bildet auch die Voraussetzung aller Selbständigkeit der Philosophie. Das aber wegen der engen Verbindung, in der die Philosophie mit dem Ganzen des Lebens steht, nur durch diese gewinnt sie ein eigentümliches Werk gegenüber den Einzelwissenschaften. Diese umfassen mit ihrer Arbeit den ganzen Bereich des Daseins, wie es der Betrachtung gegenüberliegt, nicht nur die Natur, sondern auch das Seelenleben und alles was der Mensch in Geschichte und Gesellschaft aufbaut. Der Philosophie sprechen wir alle ein Streben zum Ganzen zu; beschränkte sich dieses aber darauf, die Ergebnisse der Forschung zusammenzustellen, so würde nichts wesentlich Neues erreicht, und die Stellung, welche die Philosophie für sich in Anspruch nimmt, wäre nicht zu rechtfertigen. Das wäre nur möglich, wenn sie die Erkenntnisarbeit wesentlich weiterführte und uns ein neues Verhältnis zur Wirklichkeit gewinnen ließe; das aber vermag sie nicht vom bloßen Denken aus, dazu bedarf sie eines neuen Lebens, dessen Aneignung und Vertretung ihr eine selbständige Stellung gegenüber dem Dasein gewährte und ihr sowohl die Kraft als die Richtung verliehe, um den Anblick der Dinge weiterzubilden. Eine Lebensbewegung, ein Tatkomplex, muß dem Dasein entgegentreten, der sich als den Kern der Wirklichkeit gibt, der aber zu seiner Entfaltung und Vollendung einer Aneignung des Daseins oder doch einer Auseinandersetzung mit ihm bedarf. Die Philosophie findet dann ein großes Werk darin, ein solches selbständiges Leben zu ergreifen und mit den Ergebnissen der Forschung zusammenzubringen; jenes Leben bildet ihr nächstes Problem, an das sich alles weitere anreiht; es läßt sich hoffen, daß mit seiner Herausarbeitung ein Weg gefunden werde, die Wirklichkeit zu durchleuchten und dem Menschen nahezubringen.

Nun aber verwickelt sich die Sache dadurch, daß ein solches begründendes Leben bei uns Menschen nicht schon fertig vorliegt und ohne weitere Sorge und Mühe die Arbeit des Denkens des einzelnen beherrscht, sondern daß dies Leben selbst ein Problem bedeutet, daß wir den Weg zu ihm uns erst durch Arbeit, Erfahrung und Kampf hindurch zu bahnen haben. Und die Stätte alles dessen ist nicht das Bewußtsein des einzelnen, sondern das weltgeschichtliche Leben der Menschheit, es erzeugt eigentümliche Bewegungen und Zusammenhänge und wirkt damit auch zur Philosophie. Denn jene geben durch Fragen und Forderungen dem Streben der Philosophie eigentümliche Ziele, sie machen gewisses zur Haupt-, anderes zur Nebensache, sie enthalten eigentümliche Wertschätzungen, eigentümliche »Grundurteile«, welche sich schließlich auch vor dem Denken rechtfertigen müssen, welche zunächst aber ihm seine Richtung weisen. Jeder Blick auf die Geschichte der Philosophie bestätigt einen solchen Zusammenhang dieser mit dem geschichtlichen Leben der Menschheit, indem er zeigt, daß die Bewegung der Philosophie nur von der Gesamtgeschichte des menschlichen Geisteslebens aus verständlich wird. Jede kräftige und wirksame Philosophie steht in enger Verbindung mit den inneren Notwendigkeiten ihrer Zeit, auch dann und gerade dann, wenn sie der Oberfläche der Zeit, dem Tun und Treiben der Zeitgenossen schroff widerspricht. Denn die wahre Zeit liegt oft von der vermeintlichen recht weit ab. So stehen auch alle große Wandlungen der Philosophie in engem Zusammenhang mit einer Wandlung des Hauptlebensstromes. War es z. B. ein eignes Bedürfnis der Philosophie oder ein solches der gesamten Lebenslage, was die Wendung von dem weltumfassenden Gedankenbau des Aristoteles zu den weit engeren Systemen der Lebensweisheit bewirkt hat, und was den Ausgang des antiken Denkens auf religiöse Bahnen trieb? Stand ferner hinter der modernen Philosophie nicht der moderne Mensch mit neuen Ansprüchen an Leben und Erkennen?

Dieser enge Zusammenhang der Philosophie mit der Gesamtbewegung des menschlichen Lebens bildet eine Größe und einen Stolz der Philosophie, indem er sie die Geschicke der Menschheit teilen und fördern läßt, aber er enthält zugleich große Gefahren. Er droht nämlich die Philosophie in allen Wechsel und Wandel zu verwickeln, den das menschliche Leben und Streben zeigt, er droht sie zu einem bloßen Bekenntnis der jeweiligen Zeit zu machen und sie damit in eine unübersehbare Fülle einzelner Bilder aufzulösen. Die Antriebe, welche im Lauf der Geschichte die besondere Zeit der Philosophie zuführt, sind nicht nur verschieden, sie können gerade entgegengesetzt sein und damit die philosophische Arbeit in entgegengesetzte Bahnen treiben. Die Gegenwart hat einen starken Zug zum Monismus der Weltanschauung; auch diejenigen, welche die besonders eifrig und selbstbewußt verkündete Art des Monismus verwerfen, bejahen den allgemeinen Gedanken, niemand, der »auf der Höhe der Zeit« stehen möchte, will sich zum Dualismus bekennen. Beim späteren Altertum stand es völlig umgekehrt, das Denken unterlag dem Eindruck eines schroffen Gegensatzes im All wie im Menschenleben, die Kluft zwischen Geistigem und Sinnlichem schien schlechterdings unüberwindlich; so beherrschte hier der Dualismus unbestritten das Feld. Der Gedanke der Transzendenz hatte damals denselben Zauber wie heute oder doch bis vor kurzem der der Immanenz. Enthält ein solches Auseinandergehen der Zeiten eine bloße Verschiebung der Ansicht, sollte es sich nicht vornehmlich daher erklären, daß eine in ihrem Lebensmut erschütterte und eine von frischem Kraftgefühl erfüllte Zeit die Welt mit anderen Augen sah, andere Erfahrungen und andere Probleme in den Vordergrund stellte, dem Leben und Streben einen anderen Mittelpunkt gab? Ebenso steht es auf dem Gebiet der praktischen Philosophie. Wer heute mit breiten Strömungen der Zeit die Moral vornehmlich vom gesellschaftlichen Leben her gestaltet, sie als Sozialethik versteht und zugleich alle Beziehung zur Religion möglichst weit von ihr fernhält, der muß volle Zuversicht auf die Güte und auf das Vermögen des Menschen setzen; eine solche Zuversicht flößen ihm aber die unbestreitbaren Leistungen ein, welche die moderne Menschheit nicht nur in Erforschung und Beherrschung der Welt um uns, sondern auch in der Verbesserung und Humanisierung der eignen Verhältnisse erwiesen hat. Wer dagegen wie Augustin und seine Zeit von der moralischen Unlauterkeit und der geistigen Schwäche des Menschengeschlechts durchdrungen war, der konnte alle Hoffnung für seine sittliche Rettung nur auf eine übernatürliche Hilfe stellen, dessen Denken mußte die Moral auf die Religion begründen. Das schloß eine starke Wirkung auf die gesellschaftlichen Verhältnisse keineswegs aus, aber die Wirkung blieb Wirkung, sie konnte nie zur Ursache werden.

Solcher Zusammenhang mit der Besonderheit der Zeit pflegte den Denkern selbst zu entgehen, die eigne Zeit galt ihnen als der Gipfel des Menschenlebens und ihr Ertrag als von bleibender Gültigkeit; der weitere Verlauf aber stellt die Abhängigkeit des Denkers von seiner Zeit mit voller Klarheit heraus, er läßt zugleich seine Leistung als an ihre Zeit gebunden und vom weiteren Verlauf der Dinge überholt erscheinen. Jede Gegenwart wird bald zur Vergangenheit und gibt zugleich ihre Bedingtheit zu erkennen. So droht sich die Gesamtgeschichte der Philosophie in ein regelloses Nacheinander einzelner Erscheinungen aufzulösen, die Philosophie wird damit eine bloße Spiegelung der Zeiten, ein Stück der Kulturgeschichte. Da sich dabei aber alle vermeintliche Wahrheit alsbald in Irrung verwandeln würde, so wäre das nicht nur eine Entwertung, sondern eine innere Zerstörung der Philosophie. So war ja auch von altersher ein Haupteinwand gegen das Recht und die Bedeutung der Philosophie der Mangel eines festen Bestandes, die unablässige Verdrängung des einen Systems durch das andere.

Solche Auflösung der Philosophie ist aber von der gewöhnlichen Ansicht aus in keiner Weise zu verhüten; es wird das nur auf dem einen Wege möglich, daß die Lebensbildung, woraus alle Bewegung zur Philosophie hervorgeht, nicht ein Werk des bloßen Menschen und ein Erzeugnis seiner wechselnden Lagen bedeutet, sondern daß in ihr die Erschließung eines absoluten Lebens anerkannt wird, das sich mittels der Geschichte für den Menschen herausarbeitet. Nur wenn damit die Geschichte zur Selbstentfaltung eines zeitüberlegenen absoluten Lebens, ein Sichselbstsuchen dieses Lebens wird, kann sie mehr bedeuten als ein Dahingleiten von Augenblick zu Augenblick, als ein flüchtiges Vorüberziehen von Gestalten, die nach kurzem Bestehen alsbald in den Abgrund des Nichts versinken, nur so vermag innerhalb der Menschheit eine geistige Geschichte der Nacheinanderfolge bloßer Naturvorgänge zu entwachsen.

Jene Art der Geschichte ist auch die Voraussetzung alles dessen, was wir Bildung durch die Geschichte nennen. Denn eine solche wird nur dadurch möglich, daß auf dem Boden der Zeit etwas erscheint, das nicht altert, sondern jugendfrisch zu allen Zeiten wirken kann.

Es bringt aber das absolute Leben, dessen Wirken die Philosophie allererst selbständig macht, nicht bloß eine neue Bezeichnung, sondern es enthält eine große Forderung, es verlangt eine wesentliche Umwandlung des nächsten Befundes der Dinge. Von den Zwecken und den Lagen des Menschen muß sich scheiden ein bei sich selbst befindliches und sich selbst entfaltendes Leben mit eignen Größen und Gütern, eine tiefere Schicht der Wirklichkeit jenseit des menschlichen Tuns und Treibens ist anzuerkennen und herauszuarbeiten. Die Mannigfaltigkeit der Lebensgestaltungen und ihrer Wirkungen auf das Denken verschwindet damit keineswegs, aber sie haben nicht mehr das letzte Wort, nicht mehr sind wir ihnen wehrlos ausgeliefert, sondern wir können aus der Kraft eines absoluten Lebens der Zerstreuung entgegenwirken, die einzelnen Leistungen auf einen bleibenden Gehalt hin prüfen und sie einem umfassenden Ganzen einzuordnen suchen. Erst eine solche Versetzung des Lebens aus dem Stande der Passivität in den der Aktivität ermöglicht das Streben nach einer selbständigen Philosophie; es muß zusammenbrechen, wenn der enge Zusammenhang der Philosophie mit dem Leben vollauf anerkannt wird, uns aber nicht das Wirken eines absoluten Lebens den Wandlungen und Schwankungen der menschlichen Lage überlegen macht und uns im Strom der Zeit Ewiges suchen heißt. So verbündet sich das allgemeine Verlangen nach einer selbständigen Philosophie mit der früher geschilderten Forderung der besonderen geistigen Lage dahin, das Problem eines absoluten Lebens, seines Bestehens und seines Gehaltes, an die Spitze der Untersuchung zu stellen.


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