Rudolf Eucken
Mensch und Welt
Rudolf Eucken

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Die Überwindung des Zwiespalts zwischen Mensch und Welt durch die weltgeschichtliche Arbeit

Vorbemerkungen

Die Geschichte hat uns schon in der Einleitung beschäftigt, aber es geschah damals zu einem anderen Zweck und in einer anderen Richtung als uns jetzt vorschwebt. Damals galt es einen eignen Standpunkt erst zu gewinnen, und dafür schien eine Prüfung der Antworten unerläßlich, welche die unsere Untersuchung beherrschende Frage auf den Höhen der Philosophie gefunden hat; es ergab sich dabei, daß wohl eine von außen nach innen fortschreitende Bewegung besteht, daß sie aber keineswegs zu einem Abschluß gelangt ist, vielmehr zwingend über den erreichten Stand hinaustreibt. Jetzt aber haben wir einen festen Standort gewonnen, nun geht die Frage dahin, was sich der Menschheit an schaffendem Leben in der weltgeschichtlichen Arbeit eröffnet und den unerträglichen Spalt zwischen Mensch und Welt durch tatsächliche Leistung geschlossen hat; das muß zugleich Klarheit darüber verschaffen, worin jenes Leben näher besteht, was es dem Menschen eröffnet, welche Stellung und welche Aufgabe es ihm zuweist. Eine solche Betrachtung ist zugleich eine Versetzung aus dem Strome der Zeit in eine zeitüberlegene Ordnung. Denn in diese Ordnung gehört der Gehalt des wirklichkeitbildenden Lebens, seine Erschließung an den Menschen läßt diesen daher einen Ewigkeitsgehalt, einen bleibenden Einsatz für Leben und Streben gewinnen, gibt diesem einen tieferen Grund und wirkt in ihm als eine Macht, deren Einfluß sich etwa der Einzelne, nicht aber das Ganze entziehen kann.

Eine Durchwanderung der weltgeschichtlichen Arbeit soll uns also ersehen lassen, was in dieser über den Gehalt und Sinn unseres Lebens entscheidenden Richtung geschah; vor Augen soll uns treten, wo ein eigentümliches Wirklichkeitbilden aufkam, den Gegensatz von Mensch und Welt irgendwie überwand und jenen in neue Zusammenhänge hob, ihm neue Ziele steckte und neue Kräfte verlieh; es soll sich zeigen, wo und wie sich eine Tatwelt vom Dasein abhob und das Leben selbständig machte. Damit derartiges geschehe, muß das Leben einen Hauptträger jenseits des bloßen Menschen finden, und muß dieser gegenüber der Natur ein neues Grundverhältnis entwickeln, ein Verhältnis nicht von Punkt zu Punkt, sondern ein Verhältnis des Einzelnen zu einem Ganzen, schließlich eines Ganzen zu sich selbst; was aus solcher Wendung und Umwälzung an Wirklichkeit hervorging, das konnte aber sein Herrscherrecht nicht anders erweisen, daß indem es das Ganze des Lebens zu sich emporzog, es von sonstiger Unbestimmtheit befreite, die vorliegende Zerstreuung durch eine lebendige Einheit, die Sinnlosigkeit durch eine Sinngebung überwand, mit dem allen eine eigentümliche Lebensordnung und allumfassende Lebenskonzentration, ein Lebenssystem erzeugte. Die Wahrheit einer solchen Lebensordnung hängt nicht an dem dünnen Faden logischer Ableitung, sondern an Beweisen des Geistes und der Kraft, eine solche Lebenseröffnung ist als eine Gesamttat aufzuweisen, was freilich vielfacher Denkarbeit bedarf. Der Boden aber, auf dem allein uns Menschen solche Lebenseröffnungen zugehen können, ist die weltgeschichtliche Arbeit; so sind sie hier aufzusuchen, von der hier ihnen anhaftenden Zufälligkeit zu befreien und in einen bleibenden Besitz zu verwandeln.

Bei solchem Unternehmen kann uns, wie schon erörtert wurde, die Tatsache nicht beirren, daß die Geschichte nicht eine einzige, sondern mehrere derartige Lebenseröffnungen zeigt. Denn das besagt keineswegs, daß verschiedene Wahrheiten zu uns sprechen, sondern nur, daß die eine Wahrheit sich uns Menschen nicht als Ganzes mit Einem Schlage, sondern erst allmählich und von verschiedenen Seiten her erschließt. Wir können uns über diese Vielheit um so mehr beruhigen, da augenscheinlich durch jene hindurch eine sie umfassende Bewegung zur Einheit geht, da das Leben selbst immer wieder über die besondere Leistung hinausstrebt und in Erweiterung wie Vertiefung sich mehr als ein Ganzes gibt. Was aus jener Mehrheit an Verwirrung und Verwicklung entsteht, das kommt auf den Menschen, das stammt im Grunde daher, daß er die einzelne Lebenseröffnung, die das Leben nur in einer besonderen Richtung erschließt, als sein Ganzes nahm, sie damit von sich aus deutete und zugleich aus der eignen Lage und Zeit Angreifbares, ja Verfehltes einfließen ließ. Wohl offenbart sich in der Menschheit übermenschliches Leben, aber es kann sich nicht offenbaren, ohne auch unter die Fassungskraft und die Interessen des Menschen zu fallen. Aber es kann eine Befreiung von solcher Vermengung erfolgen, wenn nur volltätiger Lebensbestand von der menschlichen Zurechtmachung abgelöst und herausgehoben wird, was an Erschließung überlegener Wirklichkeit, an Mehrung des Reiches des Geistes erreicht ward. Suchen wir in solcher Weise die Bewegung des Lebens als eines Ganzen auf, so läßt sich ganz wohl in dem scheinbaren Kommen und Gehen der einzelnen Lebensordnungen der fortschreitende Aufstieg einer selbständigen Tatwelt erkennen, zugleich aber die allmähliche Eröffnung einer Welt innerhalb des Lebens, auch ein Festwerden des Lebens bei sich selbst. Zugleich für den Menschen die Möglichkeit einer Erhebung über den sein Leben zerreißenden, ja zerstörenden Spalt und der Gewinn eines sinnvollen Lebens.

Freilich versetzt, was sich vom Ganzen des Lebens her ruhig ansehen läßt, den Menschen in ungeheure Bewegung und Aufregung. Das aber vornehmlich deshalb, weil die Tatwelt mit ihrer Lebensoffenbarung einen ganz anderen Menschen fordert als ihn das Dasein zeigt. Hier ist er nicht mehr als ein gehobenes Naturwesen mit gewissen geistigen Regungen und Eigenschaften, welche den Kern kaum verändern; die Tatwelt dagegen fordert ein Geisteswesen, das freilich unter den Bedingungen der Natur wirkt und sich mit ihnen auseinanderzusetzen hat, das ihnen aber im Wesen weit überlegen bleibt. Bei solcher Schroffheit des Gegensatzes kann die Wendung vom einen zum anderen nicht durch einen allmählichen Fortgang, sondern nur durch eine radikale Umwälzung erfolgen, eine solche aber ist dem Menschen des Daseins mühsam abzuringen, und das gelingt den Lebensordnungen am ehesten, solange sie sich in frischem Aufstieg befinden und damit ein neues Leben an den Menschen bringen, neue Ziele eindringlich machen, neue Kräfte entbinden. Dann wird das Kleinmenschliche zurückgedrängt, dann verlegt sich der Schwerpunkt des Lebens. Aber das pflegt eine begrenzte Dauer zu haben, die Spannung sinkt, die Kleinkräfte brechen hervor, die Kluft zwischen Mensch und Welt beginnt wieder die Menschheit zu beherrschen, schließlich wird diese aus Teilhaben an schaffender Größe wieder in die Niederung des Zweifels und der Selbstsucht zurückgeworfen. Dann weicht die Welt vor dem Menschen zurück, das Leben wird wieder auf die tastende und zweifelnde Reflexion gestellt, und alles Mühen scheint vergeblich und verloren. Aber selbst in solchen Zeiten des Unglaubens und der Verneinung stellt das schaffende Leben sein Wirken nicht ein, es bezeugt das darin, daß die Verneinung, zunächst als eine Erweisung der Freiheit freudig begrüßt, alsbald, festgelegt und ausgekostet, dem Menschen selbst unerträglich wird, er kann das völlige Nichtigwerden nicht als endgültigen Abschluß nehmen, es bäumt sich in ihm selbst ein Widerstand auf und treibt zu einem Suchen neuer Bahnen, erweckt eine Sehnsucht nach einem Gehobenwerden in neue Zusammenhänge und bereitet damit eine willfährige Aufnahme neuer Lebenseröffnungen vor. So offenbart sich im Ja wie im Nein, daß im Menschen etwas wirkt, was stärker ist als er selbst. Aber mag die Bewegung immer wieder zu irgendwelcher Bejahung führen, zwischen der Sehnsucht und dem Ziel liegt oft ein weiter Weg, und auf ihm kann sich viel an Sorgen und Schmerzen finden. Aber solche Unzulänglichkeit, solches Angewiesensein auf höhere Mächte lasse nicht zu gering vom Menschen und seiner Betätigung denken! Eben jene Sorgen und Schmerzen zeigen deutlich, daß das Leben nicht am Menschen bloß vorgeht, sich nicht seiner als eines bloßen Mittels und Werkzeugs bedient, daß es vielmehr seiner zu seinem eignen Fortgang bei uns bedarf. Denn so gewiß das schaffende Leben über dem Vermögen des bloßen Menschen liegt, bei uns bedarf sein Wirken unserer Entscheidung und Aneignung; so fällt unser Tun mit in die Wage, und aus bloßen Zuschauern werden wir Mitarbeiter der Weltbewegung; daher dürfen wir auch überzeugt sein, daß unser Tun und Leiden über unseren Zustand hinaus für weitere Zusammenhänge wertvoll ist. Diese Überzeugung steigert auch die Bedeutung der weltgeschichtlichen Arbeit, zugleich aber die ihrer Betrachtung.

Unsere auf den einen Hauptpunkt, auf die Überwindung jener Kluft gerichtete Betrachtung braucht aber nicht in die Breite dieser Arbeit einzugehen, ihr kann es genügen, sich an die beherrschenden Höhenpunkte zu halten und von ihnen aus Durchblicke zu entwerfen. Behandeln wir hier doch nicht die Geschichte ihrer selber wegen, sondern nur als eine Einführung in eine geistige Gegenwart. Immerhin entsteht auch bei solcher Beschränkung eine gewisse Geschichtsphilosophie, deren Grundzüge uns klar sein müssen, um die einzelnen Darlegungen zusammenzuhalten. Es dürften aber diese Grundzüge am ehesten aus einer Vergleichung mit der Hegelschen Geschichtsphilosophie, diesem unbestreitbaren Gipfel der spekulativen Geschichtsphilosophie, erhellen. Wie Hegel, so bedeutet auch uns die Geschichte keine bloße Vergangenheit, sondern den unerläßlichen Weg zu einer zeitüberlegenen Gegenwart, wir glauben aber dabei nicht schon am Abschluß zu stehen, sondern uns gilt die Bildung einer solchen Gegenwart als noch mitten im Fluß und daher offen auch für die Zukunft. Auch wir suchen die bewegende Macht der Geistesgeschichte nicht in menschlichen Absichten und Ansichten, und ihr Ziel nicht in der Hebung menschlicher Wohlfahrt, aber jene Macht finden wir nicht im freischwebenden Denken und ihren Gewinn nicht in der wachsenden Bewußtheit des Geistes, sondern uns liegt die treibende Macht in dem Sichselbstsuchen und Entfalten des wirklichkeitbildenden Lebens, der Gewinn aber in dem Vordringen dieser Selbstgestaltung; diesem hat auch das Denken zu dienen. Demgemäß müssen wir der Rationalisierung widersprechen, welche Hegel an der Geschichte vornimmt, das aber sowohl in dem unbedingten Voranstellen des Allgemeinen als in der Verwandlung der Geschichte in ein logisch-dialektisches Schraubengefüge. Das Allgemeine hebt sich, so meinen wir, von der bloßen und unfruchtbaren Verallgemeinerung nur ab als der Ausdruck eines Ganzen, als die Entfaltung einer selbständigen Lebenseinheit; auch in unserem Lebenskreise überwinden die Allgemeingedanken ein bloßes Halbleben, ein Schweben zwischen Sein und Nichtsein erst dadurch, daß sie eine feste Verkörperung in der Lebenseinheit schaffender Persönlichkeiten erlangen; nur indem sie einer geistigen Selbsterhaltung dienen, empfangen sie eine volle Ausprägung und eine zwingende Macht. Was wäre ohne führende Geister wie Luther, Zwingli, Calvin aus der religiösen Bewegung der beginnenden Neuzeit geworden? Hat aber nicht die besondere Art jener Persönlichkeiten die Bewegung in eigentümliche, weit auseinandergehende Bahnen getrieben, ihnen aber damit erst die erforderliche Kraft verliehen? Solche Anerkennung des persönlichen Elements in der Geschichte verhindert alle dialektische Konstruktion, ja läßt sie als ein bloßes Schattengebilde erscheinen, als eine bloße Fläche, wo doch eine Tiefe notwendig ist. Sie enthält zugleich ein Bekenntnis zu einem Positivismus, einem Positivismus freilich nicht empirischer, sondern metaphysischer Art, einem Positivismus, der nicht in der Natur, sondern in der Selbstbewegung des Lebens wurzelt und dessen vordringendes Schaffen zur Geltung bringt. Nur ein solcher Positivismus kann den auch heute so starken Durst nach einem echten und vollen Leben, nach einem wesenhaften Lebensgehalt befriedigen. Um Geschichte und Welt konstruieren zu können, muß man den Menschen mit seiner geistigen Art für den Quell aller Wirklichkeit halten.

Hegel legte besonderen Wert auf seine Fassung der Verneinung; das ist die Grundvoraussetzung seines dialektischen Verfahrens, daß die Verneinung stets die Beziehung auf die Bejahung festhalte, daß sie keine absolute, sondern diese besondere Verneinung sei; nur so vermag sie die Bewegung weiter zu treiben. Nun bedeutet gewiß der Gegensatz auch für die Bewegung des schaffenden Lebens viel; hat die Menschheit die Schranke einer besonderen Lebenseröffnung deutlich und schmerzlich erfahren, so wird sie einer entgegengesetzten Art besondere Neigung und Stimmung entgegenbringen und damit den Boden für sie bereiten. Aber einmal ist, was solche Gegensätze an Lebensbildungen erzeugen, grundverschieden von einem bloß logisch-dialektischen Gegensatz, und dann liegen bei uns Menschen die Gegensatze keineswegs bloß innerhalb des Geistes, sondern der Mensch fällt immer wieder aus echter Geistigkeit heraus und hat sie immer neu zu erringen; das ist es ja, was die menschliche Lage besonders gespannt und verwickelt macht, daß wir nicht nur um die nähere Fassung, sondern um das Ganze eines selbständigen Lebens zu kämpfen haben, und daß sich beides oft fast untrennbar miteinander verschlingt zu vielfachem Irrtum und Streit. Das erzeugt nicht nur ein von Hegel weit abweichendes, weit weniger geschlossenes, aber weit bewegteres und gehaltvolleres Bild der Geschichte, es gibt dem ethischen Faktor des Lebens weit mehr Gehalt und Wert. Das Ethische wird dann mehr als eine Wendung des Einzelnen zum Ganzen, eine willige Einfügung in den Weltprozeß, womit es im Grunde zu einer nebensächlichen Begleiterscheinung sank, es gehört hier zum Kern des Lebens, da dieses hier eine fortlaufende Selbstschöpfung und Selbstbejahung wird; so fordert es ein unablässiges Aufrechterhalten einer Einheit gegen alle Verzweigung, das Gestalten eines vertiefenden Selbst durch alle Fülle der Betätigung hindurch. Jenes bedarf nämlich einer fortlaufenden Tat, einer den ganzen Lebensbereich umfassenden Tat. So liegt das Ethische nicht vornehmlich im Verhältnis des Menschen zum Leben, sondern im Verhältnis des Lebens zu sich selbst; erst von da geht es dem Menschen zu und kann es wesentlich Neues aus ihm machen. So erhebt sich gegenüber einem intellektuellen Kraftsystem ein ethisches Inhaltssystem.

Die Aufgabe, Übermenschliches und Ewiges aus der Geschichte herauszuheben, stellt sich damit ungleich schwieriger und weit aufregender dar. Nicht nur sank der Mensch von der scheinbar endgültig erreichten Höhe immer wieder zurück, im Lebensbestande selbst geriet auch das, was ihm als Bestes und Heiligstes gegolten hatte, immer wieder in harten Zweifel. Deutlich wird uns damit eingeprägt, daß uns nicht vorausschauende Erwägung Ziele und Wege sicher abstecken läßt, sondern daß uns nur die Erfahrung des Lebens selbst weiterführt: in sie haben wir uns hineinzuversetzen, ihre Sorge und Unruhe auf uns zu nehmen. Aber diese Sorge und Unruhe selbst verbindet uns enger mit der Sache, macht sie mehr zu unserer eignen, läßt uns in ihrer Verfechtung eine geistige Selbsterhaltung vollziehen. Das gibt uns eine Sicherheit in allem Zweifel und eine Ruhe in aller Aufregung.

Das alles solches Streben beherrschende Verlangen nach Überwindung des Spaltes zwischen Mensch und Welt greift dabei tief in alle einzelnen Hauptrichtungen des Lebens ein und macht Hauptforderungen erst erfüllbar, die wir schlechterdings nicht abweisen können, denen gegenüber aber die nächste Lage ganz und gar versagt. Wir dringen auf ein Erkennen als ein inneres Naherücken und Durchleuchten der Dinge, aber wie sollte ein solches erreichbar sein, wenn eine starre Kluft die Welt uns in eine unzugängliche Ferne rückte; von der Welt ausgeschlossen blieben wir aber auch aus selber fremd; über ein bloßes Ansammeln und Ordnen undurchsichtiger Eindrücke käme unser Erkennen niemals und nirgends hinaus, das doch nur flachen Naturen genügen kann. Wir sehnen uns untereinander nach innerer Gemeinschaft, nach gegenseitiger Eröffnung unserer Seelen, nach echter Teilnahme und Liebe, nicht bloß eingebildeter; aber was anders ist das alles als eine bloße Illusion, wenn keine innere Brücke die einzelnen Punkte verbindet, wenn wir lauter zerstreute Inseln in einem unermeßlichen Weltmeer bleiben? Wir durchschauen deutlich und empfinden stark die Hohlheit und Dürftigkeit alles auf sich selbst gestellten Menschengetriebes – der Weltkrieg der Gegenwart hält sie uns besonders eindringlich vor –, aber alles Gerede von Größe und Würde der Menschheit entwindet uns keineswegs jenem Getriebe und gibt uns keinen festen Standort ihm gegenüber. Auch hier kommen wir auf das Dilemma, entweder einen Aufstieg über den bloßen Menschen, eine Überwindung des Spaltes zwischen ihm und der Welt zu vollziehen, oder aber alles verloren zu geben, was unserem Leben Wert verleihen kann. Die weltgeschichtliche Arbeit zeigt uns nun Möglichkeiten; sollten wir nicht alles tun, sie uns nahezurücken?

Auch abgesehen vom Kriege legt die Gegenwart uns zwingend jenes Problem auf. Wir haben viel Großes in der Neuzeit erlebt und auch viel Großes vollbracht. Aber kein Unbefangener kann sich des Eindrucks erwehren, daß wir uns jetzt in einer schweren geistigen Krise befinden. Eingreifende Wandlungen haben uns nicht nur im Einzelnen des Lebensbestandes vieles unsicher gemacht, was früher als fester Besitz galt und unsere volle Hingebung fand, auch sein Ganzes geriet uns in Zweifel, augenscheinlich versinkt eine alte Zeit, und es steigt eine neue auf, ohne daß uns einstweilen auch nur das Allgemeine ihrer Richtung zweifellos wäre und uns zu gemeinsamer Arbeit verbände. Vielmehr wirbelt Verschiedenartiges und Verschiedenwertiges wirr durcheinander, und es fehlt aller feste Maßstab, Echtes und Unechtes zu unterscheiden. Bei solcher Lage müssen wir uns wieder ganz und gar als Suchende, nicht als Besitzende, betrachten. Der Suchende aber bedarf vor allem der Orientierung, und diese kann hier, wo das Ganze und Innere des Lebens in Frage steht, nicht von außen her kommen; nur eine Selbstbesinnung und Selbstvertiefung kann sie uns gewinnen lassen. Solche Selbstbesinnung verlangt aber eine Durchmusterung der weltgeschichtlichen Arbeit, ein Aufsuchen schaffender Tiefen, um von da aus uns selbst zu verstehen und die Aufgaben der Gegenwart zu klären. So fühlen wir uns beim Rückblick durchaus in der Gegenwart, in einer zeitüberlegenen und zeitumfassenden Gegenwart.

Die Größe und die Grenze der altgriechischen Lebensordnung

Innerhalb unseres westlichen Lebenskreises ist der erste Aufbau eines selbständigen Lebenszusammenhanges mit seiner Überwindung der Kluft zwischen Mensch und Welt bei den alten Griechen erfolgt. Denn ihr Leben erschöpft sich nicht in einzelne Richtungen oder Gebiete, es umspannt als eine Tatwelt den ganzen Bereich des menschlichen Daseins und übt an allen Stellen ein verwandtes Wirken; den Träger und Quell dieses Lebens bildet aber das Weltall, das hier als ein in sich selbst beruhendes, geschlossenes, dabei lebenerfülltes Ganzes gilt; wie dieses Ganze aber als ein vollkommenes Kunstwerk, als ein herrlicher Kosmos erscheint, so wirkt es belebend, gliedernd, gestaltend auf alle Fülle dessen, das es in sich faßt. So wird das Verhältnis zum Kosmos zum Grundverhältnis des Lebens, es erzeugt gegenüber der bloß natürlichen Selbsterhaltung ein neues Leben selbständiger Art, das auch den Gegensatz überwindet, dem unsere Arbeit zugewandt ist. Denn hier steht der Mensch nicht neben der Welt als einem draußen befindlichen Reich, sondern er erscheint auch in seinem Innern ganz und gar zu ihm gehörig, in ihm begründet und von ihm getrieben, auch in seinem Streben darauf gerichtet und daran gebunden; eine Verwicklung entsteht nur daraus, daß der Zusammenhang für uns vielfach verdunkelt, ja aufgelöst ist, daß der äußere Eindruck vorherrscht, wo von innen her zu bilden wäre; die Aufgabe geht also dahin, sich aus dem Bereich der Erscheinung und Zerstreuung in das Ganze und den lebendigen Grund zu versetzen und von ihm aus das Leben und Streben zu führen. Damit empfängt der Mensch eine nicht geringe Bedeutung und Stellung. Wohl gehört auch er zum All und darf sich nicht davon ablösen, nicht darüber hinausheben wollen. Aber innerhalb des Alls besitzt er einen einzigartigen Platz dadurch, daß er nicht nur die Höhe und Norm aller körperlichen Bildung ist, sondern daß ihm das Denken die Möglichkeit gewährt, das Ganze des Alls zu überschauen, zusammenzufassen und in eignen Besitz zu verwandeln. Das erhebt ihn weit über alle anderen Wesen, ohne ihn doch davon abzusondern. So scheint in ihm das All seine eigne Höhe zu erreichen, ihm selbst aber im Mitleben dessen reinstes Glück zu gewähren. Diese Zugehörigkeit des Menschen zum All wird hier weniger erwiesen wie als Grundtatsache vorausgesetzt, ihre nähere Ausführung aber stellt sich so dar, daß dieselbe Ordnung, die in großen Zügen das Weltall durchwaltet, im Innern des Menschen schlummert und nur erweckt zu werden braucht; so ist die Beziehung von beidem ein Zusammenstreben von Wesensverwandtem, aufeinander Angewiesenem, sich miteinander Erhöhendem, sie findet ihren Gipfel in der geistigen Anschauung, indem diese alle Kluft zwischen Denken und Sein, zwischen Subjekt und Objekt aufhebt und Leben unmittelbar vom einen zum anderen überführt. Zugleich besteht kein Zweifel daran, daß die Aufbietung geistiger Kraft den Menschen zu voller Wahrheit führt; es liegt hier keine verschlossene Tiefe hinter der Eröffnung der Dinge, sondern im Wirken zu uns geben sie das Ganze ihres Wesens.

Das Leben, das sich von hier aus entwickelt, erweist aber sein gutes Recht durch die fruchtbare Bewegung, die es durch den ganzen Bereich unseres Daseins hervorruft, es führt sonst Schwankendes in eine sichere Bahn, es zeigt überall neue Aufgaben und liefert Mittel zu ihrer Lösung, es übt durchgängig ein Entdecken und Beleben, es erweist sich durch solches den ganzen Umkreis weiterbildendes Wirken als eine eigne Bewegung des Lebens, nicht ein Machwerk des bloßen Menschen. Die Führung dieses Lebens steht aber unbestritten beim Denken. Denn nur das Denken verbindet den Menschen mit dem Weltall, und an solcher Verbindung hängt hier alles Gelingen des Lebens; so erscheint das Denken als der Kern aller Geistigkeit, als das, was auch dem Handeln Gehalt und Richtung zu geben hat. Zugleich aber gestaltet es sich als erkennendes selbst eigentümlich, indem es hier zum treuen Erfassen eines mit sicherer Tatsächlichkeit gegebenen Weltstandes wird. So stellt es das Sein vor das Werden und das Ganze vor seine Teile und erklärt diese von jenem aus. Im Näheren aber folgt es dem Zuge zur Gestaltung, der dieses Lebenssystem durchdringt. Denn überall strebt es danach, vom Chaos des ersten Anblicks und der ersten Lebenserscheinung zu einem gegliederten Ganzen vorzudringen und in ihm seinen Standort zu nehmen. Zum Hauptbegriff und zum höchsten Werte wird damit die Form, eine Form aber, die nicht von außen her zusammenfügt und wie ein fremdes Gebot auferlegt wird, sondern die aus dem eignen Innern hervorquillt und es selbst zu seiner Vollendung führt, die Form als Träger des Lebens. Durchgängig gilt es hier, den verworrenen Anfangsstand zunächst in seine Elemente zu zerlegen, diese aber unter Leitung eines von vornherein wirksamen Gedankens in feste Gliederung und Abstufung zu bringen, schließlich ein Gesamtwerk herzustellen, das jedem Teile seine besondere Aufgabe zuweist, sie aber zugleich zu einer umfassenden Harmonie verbindet. Ein solches harmonisches Gesamtwerk bildet das All, ein solches werde der Staat, ein solches auch die Einzelseele! Das Gestalten wird dabei durchgängig vom Denken getragen, es empfängt dabei eine eigentümliche Art daraus, daß es seinen Vorwurf als beharrend betrachtet und in seiner klaren Durchgliederung, seiner festen und übersichtlichen Zusammenschließung die höchste Aufgabe findet. Es ist nicht die Kunst schlechthin, es ist eine plastisch-architektonische Kunst, es ist eine vornehmlich auf Herstellung eines vollen Gleichgewichts des Menschen mit dem Gegenstande bedachte Kunst, welche hier das innere Gewebe des Lebens beherrscht. Dem allen entspricht auch das Erkennen; es wird nicht sowohl ein Herleiten des Tatbestandes aus einzelnen Elementen als ein Herausheben eines vorhandenen Gesamtgefüges, ein Sehen des Einzelnen vom Ganzen her, schließlich ein Zusammenschauen der ewigen Ordnung des Alls; etwas verstehen, das heißt hier vornehmlich seine Stellung und Bedeutung im Ganzen erfassen.

Alles miteinander ergibt eine Lebensbewegung mit sehr ausgeprägten Zügen. Es gilt hier nicht eine neue Welt hervorzubringen oder auch nur die gegebene Welt wesentlich umzubilden, sondern der Grundbestand erscheint als unantastbar ein für allemal festgelegt, es handelt sich nur darum, zu ihm vorzudringen und sich ihn anzueignen. Mag er dem Menschen nicht unmittelbar gegenwärtig sein, diesen vielmehr zunächst die äußere Erscheinung fesseln und ins Irre führen, die Irrung betrifft nicht den letzten Kern, das Böse ist nur anhangender, nicht wurzelhafter Art. Wenn daher auch hier das Leben einer gewissen Umkehrung, einer Wendung von der Erscheinung zum Grundbestande bedarf, so besagt das keine heftige Erschütterung und völlige Umwälzung, da jener Grund schon vorhanden ist und den Kern des eignen Lebens bildet. So wird das Leben geistiger Art ein Sichbesinnen und Selbstvertiefen, es gilt nur zu beleben und in eigenes Tun zu verwandeln, was man im Grunde schon besitzt, es gilt »zu werden, was man ist« (Pindar). Das ergibt auch ein eigentümliches Erziehungsziel: die Erziehung hat nicht in eine unbemessene Ferne zu streben, nicht neue Kräfte anzubilden, sondern nur die in den Grundzügen festumrissene Natur deutlich herauszuarbeiten und in volle Betätigung zu versetzen. Auf einen Beharrungsstand, freilich einen Beharrungsstand tätiger Art, zu kommen, das gilt hier überall, beim All, beim Staate, bei der Einzelseele, als das höchste Ziel, das hält der Bewegung alle Unruhe fern, das ergibt ein eigentümliches Ideal der Glückseligkeit, die »Eudaimonie«, ein Ideal, das allen bloßen Nutzen als niedrig verwirft und durch seinen Gehalt sich deutlich auch von der bloßen Lust unterscheidet. Es entspricht solcher Geschlossenheit der Welt, daß vor der Freiheit das Schicksal steht, und daß dem Schicksal sich auch die Götter beugen. Aber das Schicksal selbst erscheint auf der Höhe dieses Lebens nicht als blinde Willkür, sondern als eine uns Menschen nur undurchsichtige Macht. Immerhin bleibt hier ein dunkler Grund, der aller Auflösung widersteht. Die Klarheit der antiken Lebensordnung besagt keineswegs, daß auch der tiefste Grund sich aufhellt, sondern nur, daß hier zwischen Erforschbarem und Unerforschlichem eine deutliche Grenze gezogen wird.

Eine solche in ihren Grundzügen unerschütterliche Lebensordnung hat keinen Platz für eine Geschichte umwandelnder und erhöhender Art, weder beim All noch bei der Menschheit noch bei der Einzelseele. Was die Erfahrung an Veränderung aufweist, das wird in der Natur wie im Völkerleben als Wirkung eines Rhythmus verstanden, der in Auf- und Abstieg sich von Ewigkeit zu Ewigkeit gleichmäßig wiederholt und so die Bewegung selbst ein Beharren des Grundgefüges dartun läßt.

Wenn damit diesem Leben manche Antriebe und Ausblicke fehlen, die uns Modernen unentbehrlich dünken, so zeigt schon der flüchtigste Blick auf die Verzweigung des Lebens, wieviel bildende, befestigende, aufbauende Kraft von dieser Lebensordnung ausgeht: durchgängig übt sie ein richtendes und verbindendes Wirken, erstrebt sie einen klaren Umriß und einen ausgeprägten Charakter, hebt sie ein Ganzes zu beherrschender Stellung über alle Mannigfaltigkeit hinaus und belebt sie durch alles zusammen eine unermeßliche Fülle von Tatsächlichkeit. – So geschieht es zunächst bei der Religion. Sie ist insofern diesem Leben wesentlich, als alles Streben der einzelnen Stellen einen Zusammenhang mit dem All und ein Getragenwerden von dessen Kraft voraussetzt, aber das Göttliche erscheint hier mehr als eine weltdurchdringende, durch die Welt ausgegossene denn als eine weltüberlegene Macht, es erweist sich vornehmlich im Beleben und Gestalten der Wirklichkeit. So gefaßt ist eine Einheit des Göttlichen ganz wohl vereinbar mit einer Vielheit von Göttergestalten, ein im Grunde vorhandener Monotheismus duldet, ja fordert sogar einen gewissen Polytheismus. Diese Art der Religion treibt besonders zu einem Bündnis mit der bildenden Kunst; sind ihre Begriffe jetzt längst überholt, so sprechen noch heute zu unserer Seele lebendig ihre hehren Göttergestalten. Das ethische Element tritt dagegen bei ihr vielfach zurück, und ein Schwanken zwischen einer persönlichen und einer unpersönlichen Fassung erweckt hier noch keinen Anstoß. Eine solche Religion wirkt mehr zur Befestigung und zur Veredlung des Lebens als daß sie ein neues Reich eröffnete und dem Menschen aus ihm eine Erhöhung und Umwandlung brächte; sie ist groß in ihrer Art, aber diese Art ist begrenzt und geschlossen.

Auch die Moral erhält in dieser Lebensordnung einen sicheren Platz und eine eigentümliche Art. Sie ist unentbehrlich, weil es mit dem Ganzen der Seele eine Wendung vom Reich der Erscheinung in das der Gründe zu vollziehen gilt, aber sie hat dabei nicht von sich aus eine neue Welt hervorzubringen, sondern nur eine vorhandene anzuerkennen und anzueignen; wo aber die Dinge noch in Fluß sind, da hat sie festzulegen, zu ordnen, alle Mannigfaltigkeit einem beherrschenden Ganzen einzufügen. Solcher Denkweise wird zur Zentraltugend die Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit, welche jedem das Seine zumißt, seine Aufgabe stellt, kein Überschreiten des Maßes duldet, die aber letzthin die Welt wie den Menschen als fertig behandelt. Ein enger Zusammenhang mit dem Schönen ist auch hier unverkennbar, das Leben soll sich zu einer Selbstdarstellung gestalten und in ihrer Vergegenwärtigung die höchste Freude finden. Solche Selbstentfaltung und Selbstbetrachtung gibt dem Leben eine innere Unabhängigkeit, es vermag hier wegen seiner selbst, ohne alle Rücksicht auf draußen gelegene Zwecke, zu handeln, seine volle Befriedigung in sich selbst zu finden und ohne Schmerz auf allen draußen winkenden Lohn zu verzichten. Zugleich wird es stark genug, allen Anfechtungen zu widerstehen, welche die menschliche Lebenslage bereitet. Diese Anfechtungen erlangen nur dadurch Macht über uns, daß der Mensch sich leidend zur Umgebung stellt, daß er äußeren Eindrücken und äußeren Schicksalen unterliegt; das aber wird geschehen, wenn er weiches Gefühl Herr über die Seele werden läßt. Aber dem vermag tapferes Denken erfolgreich entgegenzuwirken und die Seele in den Stand der Tätigkeit zu versetzen, der sie gegen alles Leid umpanzert. So entsteht echtes Heldentum, überlegene Seelengröße. Eine Schätzung der gemeinsamen menschlichen Lage läßt darüber freilich keinen Zweifel, daß solches Heldentum im menschlichen Kreise recht selten ist, daß der Edlen wenige, der Gemeinen viele sind. Aber dabei bleibt es, daß volle Tüchtigkeit auch im menschlichen Kreise erreichbar ist, und über alle Unzulänglichkeit dieses Kreises erhebt der Anblick der ewigen Ordnung des Weltalls, die schon der Anblick des Himmelsgewölbes täglich vor Augen stellt. Wir brauchen uns nur vom Menschen zum All zu wenden, dieses als Ganzes zu betrachten, um allen Zweifeln und Sorgen überlegen zu werden. Denn die Anschauung der ewigen Zier ist hier nicht ein bloßes Stück eines weiteren Lebens, sondern ein Ganzes des Lebens, ein Leben, das inmitten der Wirren und Nöte der Zeit die Glückseligkeit der Gottheit zu teilen vermag.

In dem allen eine sichere Austreibung aller anfänglichen Kleinheit, das Ideal einer großen und stolzen Seele, die sich weit über ihre nächste Umgebung hinaushebt, dem All sich aber um so fester verbindet. Das Leben offenbart hier im eignen Bereich eine Tiefe, sowie ein Vermögen, diese vollauf zu erwecken; indem es sich bei sich selbst zusammenschließt und das eine durch das andere begrenzt, die ganze Ausdehnung aber mit beseelendem Walten durchdringt und zu einem harmonischen Gesamtwerk fügt, vollzieht es eine durchgängige Veredlung, erhöht es sich bei sich selbst. Im Selbstbegrenzen hier ein Sichselbstgewinnen, ein geschlossener Aufbau, ein Umspannen und Ausgleichen der Gegensätze; der Mensch aber in sicherem Mitbesitz all dieser Herrlichkeit. Dürfen wir uns wundern, wenn bei allem Hemmnis und Leid, das auch dieser Lebensordnung nicht fehlt, und das sie keineswegs leicht nimmt, uns aus diesen Zusammenhängen eine edle Lebensfreude entgegenleuchtet?

Wie kam es, daß dieser Bau mit seiner Begründung auf klares Denken und seiner Beseelung durch edles Gestalten, dieser Bau, der mit seiner Geschlossenheit sich wie ein Heiligtum inmitten einer verworrenen Welt ausnimmt, das Leben nicht dauernd festhalten konnte? Uns steht nach dem Plane unserer Arbeit nur eine Prüfung dessen zu, ob der hier gebotene Zusammenhang zwischen Mensch und Welt sich als fest genug erwies, und ob das hier gebotene Urbild der Gestaltung dem Leben selbst genügte. Jener Zusammenhang war hier mehr der naiven Weltansicht entlehnt als aus geistiger Arbeit begründet; es zeigte sich bald, daß er zu rasch ineinanderschob, was nur nach energischer Auseinandersetzung und eingreifender Umwandlung sich zusammenfinden kann. Auf der Seite der Menschen entwickelte das Leben weit mehr Innerlichkeit, als jene Lebensordnung anerkennt und anzuerkennen vermag. Es waren zunächst gewaltige Verschiebungen im Verhältnis zur Weltumgebung und dadurch bewirkte Erschütterungen der Seele, welche dem Leben mehr Zurückziehung von der Welt und mehr Vertiefung in sich selbst, mehr Verlangen nach einer selbständigen Innenwelt auferlegten. Das ist zunächst in der Wendung zur Moral, dann zur Religion geschehen, und es ist dabei viel Innerlichkeit belebt, die wir auch heute festhalten müssen. Denn sowohl Stoa als Neuplatonismus sind für uns mehr als bloße Vergangenheit. Aber der Weiterbildung selbst haftete ein schwerer Widerspruch an. Jene Wendung glaubte die Grundlagen der antiken Lebensordnung unverändert lassen zu können, in Wahrheit konnte ein Lebensideal, welches das Streben ganz und gar an eine vorhandene und geschlossene Welt band und in eine Anschauung dieser zu verwandeln suchte, einer selbständig werdenden Innerlichkeit unmöglich genügen, es konnte um so weniger genügen, als die Wendung zu dieser aus der Erfahrung schwerer Mißstände unserer Welt hervorgegangen war und das All daher nicht mehr als ein Reich der Vollkommenheit erschien, dessen Anschauung jenen Mißständen völlig entziehe. Freilich haben hervorragende Denker unsägliche Mühe daran gesetzt, gegenüber dem ersten Eindruck eine Vernunft des Alls zu verfechten, eine Theodizee oder vielmehr eine Kosmodizee zu bieten, aber sie mußten zu diesem Zweck den Standort der Betrachtung immer weiter zurückverlegen, ihr damit aber ihre Macht für die unmittelbare Seelenlage rauben, die ihre Forderungen immer dringender und zwingender erhob. Dem Widerspruch gab namentlich das die Oberhand, daß die Verwicklungen sich immer mehr vom Äußeren ins Innere wandten und sich ein tiefer Riß in der eignen Seele des Menschen auftat, ja daß der Gedanke einer moralischen Verschuldung des Menschen eine unheimliche Macht gewann. Erschien damit die Welt als zerrissen, als der Schauplatz eines wilden Kampfes, so konnte ihre Vergegenwärtigung, ihre Anschauung nicht mehr den Kern des Lebens bilden, so mußte zum ersten Anliegen eine Stärkung und Hilfe in diesem Kampfe werden, so konnte die unerbittliche Bindung an den Weltstand zu einer unerträglichen Fessel werden. Dem Ganzen des menschlichen Lebens und Strebens konnte unter solchen Erfahrungen und Erschütterungen nicht mehr die Stellung und Bedeutung genügen, welche die antike Lebensordnung ihm zuwies, es verlangte mit seinen Zielen und Werten nicht als ein bloßer Anhang des Alls, sondern als ein völliger Selbstzweck behandelt zu werden, ja ein seelisches Verhältnis zur letzten Tiefe der Wirklichkeit zu gewinnen. Das Aufsteigen eines solchen Verlangens trieb aber entweder zu völliger Verzweiflung oder aber auf neue Bahnen, welche der Innerlichkeit ein selbständiges Werk und eine weltüberlegene Bedeutung verliehen. Damit zerbrach der alte Zusammenhang, das aber für alle Zeiten.

Aber nicht nur der Mensch, auch das Weltbild widersprach der antiken Lösung. Wohl gab auch diese der Welt eine gewisse Gegenständlichkeit, wohl suchte sie den Menschen durch die Welt zu erhöhen, indem sie diese durch ihn beseelte, aber wachsende Erfahrung der Arbeit ließ ersehen, daß dabei die Welt nicht genügend selbständig wurde, um ihre eigne Art zu erschließen. Die antike Denkart hatte selbst bei der Wendung zur Wissenschaft menschenartige Größen, wenn auch verblaßte, in das Weltbild einfließen lassen, wie z. B. Zwecke und Kräfte, Möglichkeit und Notwendigkeit, sie hatte Subjekt und Objekt zu eng miteinander verschlungen, damit aber ein dichtes Netzwerk menschlicher Begriffe um die Welt gesponnen, ohne dessen Zerstörung eine exakte Naturbegreifung nicht wohl aufkommen konnte. So wich nicht nur der Mensch vor der Welt, sondern auch die Welt vor dem Menschen zurück, die Schroffheit der Kluft kam nun erst recht zur Empfindung, und es taten sich zugleich dunkle Abgründe auf, die des Menschen Leben alles Sinnes und Wertes zu berauben drohten.

Die Eröffnung einer so schroffen Kluft brachte auch die Seele des antiken Lebens, das Gestalten, in eine mißliche Lage und gefährdete ihre Herrscherstellung. Das Gestalten zog vornehmlich daraus seine befestigende und beseelende Kraft, daß es Mensch und Welt, Kraft und Gegenstand zur Untrennbarkeit miteinander verband und sich gegenseitig durchdringen ließ. Mit der Lockerung und Auflösung dieses Zusammenhanges zerbrach das emporbildende Wirken der Gestalt, und es fielen zwei Seiten auseinander, deren keine für sich genügen konnte. Einerseits beim Menschen die Form ein bloßes Mittel zum Aufputz und Genuß des Lebens, das Hauptwerkzeug einer epikureischen Kultur, andererseits bei der Welt die Form ohne innere Belebung, eine Verwandlung in bloß schematische, ontologische Größen, wie die aristotelisch-scholastische Metaphysik das deutlich vor Augen stellt. Schon das Verhältnis von Plato und Aristoteles läßt ersehen, welche Schwierigkeit jene Stellung des Gestaltens bereitet. Plato, der, vom Leben, nicht von der bloßen Wissenschaft aus betrachtet, entschieden der Größere und Reichere ist, hebt die Form zur Wahrung ihrer Reinheit und Selbständigkeit gänzlich über die Welt der Erfahrung hinaus. Er kann das nicht, ohne ihr eine Seele beizulegen, sie als lebendige und lebenspendende Gestalt zu verkünden. Diese wird ihm eine den ganzen Lebensbereich durchdringende und erhöhende Macht, aber als eine solche kann sie sich nicht von der bloßen Wissenschaft aus, sondern nur mit Hilfe der Kunst und des Mythus behaupten, sie fordert mehr, als sie selber nachweisen kann. Aristoteles, der wissenschaftlich überlegene, geistig aber engere, findet einen Widerspruch darin, die Form von dem Dinge abzulösen, dem sie angehört, so gibt er ihr eine völlige Immanenz und faßt sie in seinem Begriffe der »Entelechie« mit dem Stoff untrennbar zusammen. Die energische Durchführung dessen ergibt eine großartige begriffliche Durchgliederung der Wirklichkeit, aber das innere Leben des Ganzen sinkt, die Form verliert ihre Seele, und die Tatwelt droht vielfach mit dem Dasein zusammenzufließen. Sie würde das noch mehr tun, wenn nicht aus der platonischen Art noch immer starke Einflüsse wirkten, die im Grunde wenig zur aristotelischen Denkweise passen. Demnach steht die Sache so: die Gestalt weist entweder auf ein tieferes Leben, ein Beisichselbstsein des Lebens zurück, oder sie sinkt zur seelenlosen Form, die dem Leben notwendig zu kalt und eng wird.

So hat der weitere Fortgang des Lebens selbst die Schranken durchbrochen, welche die geistige Lebensordnung setzte, er widersteht der vollen Einfügung des Lebens in die hier gebotene Fassung, aber er hat damit diese Fassung keineswegs entwertet. Denn was nicht das Zentrum des Lebens bildet, das kann sich als ein unentbehrliches Stück, als eine fortdauernde Anregung behaupten, als eine Ergänzung eines weiteren Bereichs durch alle Zeiten fortbestehen. Unbestreitbar bleibt die Forderung einer nach allen Richtungen durchgebildeten Tatwelt, wie sie von hier aus nicht als bloße Lehre, sondern mit einer kräftigen Leistung wirkt. Eine derartige Tatwelt bildet nicht nur die Voraussetzung einer einheitlichen Kultur und einer Bildung des ganzen Menschen, sie rechtfertigt mit ihrer Erhöhung des ganzen Lebens durch veredlendes Wirken erst eine Schätzung der Tätigkeit selbst über den bloßen Naturtrieb hinaus, sie rechtfertigt zugleich eine Lebensbejahung geistiger Art und liefert den stärksten Antrieb, das Leben nicht stumpf über sich ergehen zu lassen, sondern es in den Stand eigner Entscheidung, eignen Wirkens zu heben und es dabei zu einer Höhe zu führen, die aller Hemmung entzogen ist. Es wirkt von hier aus ein fester Lebensglaube, der schließlich zur Kraft, Frische und Freude des Lebens schlechterdings unentbehrlich ist, es wird von hier aus aller pietistischen Verkümmerung und ungesunden Selbsterniedrigung aufs kräftigste widerstanden. Mag hier, wie sicherlich anzuerkennen, die Tatwelt sich noch nicht genügend vom Dasein abgehoben, die Lebensbejahung zu rasch erfolgt sein: daß sie hier in dieser zugleich kräftigen und edlen Weise erfolgt ist, das läßt sich nicht wieder vergessen. Ein Weiteres ist die enge Verbindung mit der Welt, welche hier das menschliche Leben erhält, und mit der es bei sich selbst einen Weltcharakter gewinnt. Gewiß ist hier die Verbindung nicht genügend von innen heraus begründet, aber eine große Wandlung ist erfolgt, und diese bildet eine starke Wehr und Waffe gegen alles Sicheinspinnen des Menschen in das bloße Menschentum, sie setzt das zu einer unerträglichen Enge und Spießbürgerlichkeit herab. Die hier vollzogene Ablösung des Lebens vom bloßen Menschen und seine Hebung ins Weite und Freie wirkt mit unzerstörbarer Kraft durch die Jahrtausende fort, sie erweist sich fruchtbar auf allen Hauptgebieten. Diese kosmische Denkweise gelangte auf religiösem Boden durch Plotin und den Neuplatonismus zur Entwicklung, sie widerstand mit sicherem Zuge der üblichen Erniedrigung der Religion zu einem Mittel bloßmenschlichen Wohlseins; mit ihrer Versetzung von einem anthropozentrischen auf einen theozentrischen Standort erhob sie den Menschen zu einer inneren Unendlichkeit und befreite ihn gründlich von der Kleinheit des bloßen Ich mit seinen selbstischen Zwecken. Ähnlich erging es der Kultur. Auch sie ist in steter Gefahr, ins Kleinmenschliche zu verfallen und damit zu verkümmern, den Menschen bei sich selber festzuhalten und im eignen Kreise einzuspinnen, ihn damit aber bei allem selbstgefälligen Gebaren innerer Nichtigkeit preiszugeben. Dagegen ward nun die beste Waffe die antike Lebensordnung mit ihrer Offenheit für das große All und ihrem unmittelbaren Verkehr mit allem Reichtum der Wirklichkeit. Die Befreiung, die davon ausging, hat zunächst die Renaissance, hat dann auch der deutschklassische Idealismus erfahren, sie war es, die einen Goethe so mächtig zum Altertum hinzog, und welche dieses auch heute zu einem unentbehrlichen Mittel aller höheren Bildung macht. Es stehen dabei nicht einzelne Sätze und Anregungen, es steht eine eigentümliche Art des Lebens in Frage, die immer neue Formen annehmen kann und darin eine unversiegliche Jugend bekundet.

Diese kosmische Art des Lebens wird aber bekräftigt und gefördert durch die Allgegenwart, welche hier der Form mit ihrem Gestalten zuerkannt wird. Die griechische Lebensordnung bringt damit eine Welttatsache zur Anerkennung, die an uns zugleich eine dauernde Forderung stellt. Die Forderung der Gestaltung zieht sich durch das ganze menschliche Leben, das aber aus dem einfachen Grunde, weil bei uns das Leben seinem geistigen Charakter nach erst im Suchen und Werden begriffen ist, und weil es zum Fortgang dessen notwendig der Fassung und Formgebung bedarf, wie das Gestalten sie vollzieht; das Gestalten erzeugt nicht das Leben, aber es ist ein unentbehrliches Werkzeug, mit dessen Hilfe es allein seine Tiefe herauszuarbeiten vermag; so bis in das Grundverhältnis von Denken und Sprechen hinein. Das Gestalten schlägt ferner eine Brücke zwischen sinnlicher und unsinnlicher Welt und bekundet damit einen inneren Zusammenhang der Welten, auch erweist es sich überall im weiten Reiche der Natur vom Größten bis ins Kleinste und verrät bei aller Rätselhaftigkeit Kräfte, die kein bloßer Mechanismus zu erklären vermag. Kurz, wir sehen uns hier von einer großen Offenbarung des Lebens umfangen, der wir uns ohne schweren Schaden nirgends entziehen dürfen. Ohne das verbindende, ausgleichende, befestigende Wirken des Gestaltens ist das Leben auch bei hervorragendster Leistung nach besonderen Richtungen hin als Ganzes nicht davor geschützt, aus echter Kultur herauszufallen und in Barbarei zu versinken. Solche Bedeutung des Gestaltens wird in keiner Weise dadurch gefährdet, daß sich im weiteren Fortgang der weltgeschichtlichen Arbeit die Form weit flüssiger, weit veränderlicher gezeigt hat, als sie dem griechischen Leben galt. Denn nachdem schon seit längerer Zeit in der menschlichen Geschichte viel Werden und Wandel erschienen war, ist neuerdings auch in der Natur um uns vom Weltbau bis in die organische Bildung hinein weit mehr Veränderung erkannt und anerkannt worden. Aber dabei verbleibt die durchgehende Bewegung zu beharrenden Formen, an ihr erst findet sich das Leben, ohne sie würden All und Menschenleben in ein wüstes Chaos verschwimmen, entfiele auch alle Möglichkeit, die Wirklichkeit geistig zu überschauen und zu beherrschen. Ist aber das Gestalten so wichtig und so unentbehrlich, so wird uns auch die Lebensordnung, welche es zum Zentralbegriff erhob und es durch die ganze Weite des Lebens mit kräftigem Schaffen verkörperte, als ein bleibender Gewinn gelten müssen. Wir fassen das Altertum oft deswegen schief, weil wir es zu sehr von rückwärts betrachten und daher zu sehr als eine fertige Größe nehmen; so übersehen wir leicht die Beseelung der Form, auch die starke Erregung und die schweren Kämpfe, welche ihre Aufbringung und siegreiche Durchsetzung gegen ein chaotisches Dasein forderte; jene erscheint dann leicht statt einer Offenbarung einer sich aufringenden Lebenstiefe als eine starre, nur auf Herstellung strenger Verhältnisse bedachte Schablone, und es beruft sich dann auf das Altertum zu Unrecht jene mit Recht verrufene »akademische« Kunst. Auch sei in keiner Weise verkannt, daß uns das Altertum nicht das Gestalten überhaupt, sondern eine besondere Art des Gestaltens zuführt, die keineswegs als einzig mögliche und überall notwendige behandelt werden darf. Denn das Gestalten des Altertums ist vorwiegend auf die Herstellung eines Beharrungsstandes gerichtet, es geht weniger in die Bewegung ein, um sich auch in ihr eigentümlich zu erweisen; es stellt die Begrenztheit, die scharfe Scheidung, die strenge Geschlossenheit, die volle Durchsichtigkeit in einer Weise voran, daß darüber das Unendliche und Fließende, auch das Geheimnisvolle in unserem Leben nicht zu vollem Rechte gelangt; es sucht in engem Zusammenhange damit ein volles Gleichgewicht zwischen Mensch und Welt, zwischen Objekt und Subjekt herzustellen, während hier noch andere Wege bestehen, das Schaffen sich im besonderen freier über das Objekt erheben und es kräftiger zu seinem Ausdruck gestalten kann. Aber neben solchen Wegen wird stets die antike Art ein gutes Recht behaupten, sie wird mit ihrem scharfen Sehen und Scheiden, ihrer Ausbildung beharrender Typen, ihrer Klarheit und Geschlossenheit immer neue Anregung bieten, vor Maßlosigkeit warnen, den Blick zum reinen Tatbestand kehren. Seien wir nur nicht Sklaven, sondern Freunde des Altertums, machen wir es nicht zu einer starren Norm, sondern wahren wir auch ihm gegenüber unsere Freiheit, suchen wir ferner es ungetrübt in dem zu erfassen, was es bei sich selber war und erstrebte, nicht was Epigonen daraus machten: dann können wir es dauernd in Ehren halten und immer von neuem aus ihm als aus einer unversieglichen Quelle schöpfen. Denn dabei bleibt es, daß jenes unser Leben nicht bloß durch einzelne schätzbare Züge bereichert, sondern daß es ihm als einem Ganzen einen Antrieb und eine Wegweisung gibt, die es ohne schweren Schaden nicht wohl entbehren kann.

Das Wesen und die Probleme der christlichen Lebensordnung

Die christliche Lebensordnung hat völlig andere Voraussetzungen als die antike sie hatte. Erwuchs diese in einem frischen und freudigen Muts seiner eignen Höhe zustrebenden Volk, so fällt die Entstehung des Christentums in eine Zeit des Irrewerdens der Menschheit an der Welt, des Irrewerdens vor allem an sich selbst, an dem eignen moralischen Stande. Ein so tiefer Spalt scheint durch die menschliche Seele und die ganze menschliche Lage zu gehen, daß alles eigne Vermögen dadurch gelähmt ist, und keine Hoffnung besteht, der Mensch wie die Welt möge aus eigner Kraft die Hemmung überwinden und etwa durch allmähliche Besserung das Leben in das rechte Fahrwasser bringen. Aber mit solcher Erfahrung der völligen Hilflosigkeit geht hier eng zusammen die entgegengesetzte einer tatsächlichen Befreiung von aller Not und einer Versetzung in ein neues Leben, das namentlich den moralischen Zwiespalt überwindet und dem tieferschütterten Menschen Ruhe, Frieden, ja volle Seligkeit bringt. Eine derartige Hilfe und Rettung kann nur einer Macht entstammen, die allen Verwicklungen der Welt und damit der Welt selbst unbedingt überlegen ist; nur eine sich selbst angehörige Gottheit kann die Menschheit der Not entwinden. Wie schon solche Weltüberlegenheit das christliche Bild der Gottheit von dem griechischen deutlich abhebt, so muß weiter eine aus Liebe und Gnade erlösende Gottheit an erster Stelle einen moralischen und damit einen persönlichen Charakter tragen, treten Liebe und Güte hier an die erste Stelle; nur zu einer Gottheit, die das Urbild der Persönlichkeit bildet, läßt sich ein inniges seelisches Verhältnis finden, wie das Christentum es verkündet. Aber dieser Gedanke einer die Welt schaffenden und beherrschenden Liebe führt sofort zu einer schweren Verwicklung gegenüber dem Tatbestande der Welt. Wie ist das die Welt durchdringende und entstellende Böse zu verstehen, wenn ihren Ursprung Güte und Liebe bildet? Es scheint nur ein einziger Weg zur Erklärung dessen zu bestehen, dieser, daß die von Gott vollkommen geschaffene Welt kraft ihrer Freiheit von Gott abgefallen, in schwere Schuld verstrickt und dadurch so tief gesunken ist; so nicht nur ein weiter Abstand von Gott, sondern ein schroffer Widerstand gegen ihn, damit aber eine Verkehrung des ganzen Lebens. Die in solchem Widerstand gelegene Schuld ist viel zu schwer und zerstörend, als daß bloße Verzeihung sie einfach tilgen könnte; zu ihrer gründlichen Aufhebung bedarf es einer ihrer Schwere angemessenen Sühne. Einer solchen Sühne aber scheint der tiefgefallene Mensch aus eignem Vermögen durchaus unfähig; so bleibt nur die eine Möglichkeit, daß der aller Schuld überlegene Gott aus barmherziger Liebe in die Menschennatur eingeht, eine völlige Einigung mit dem Menschenwesen vollzieht, ohne sich seiner Gottheit zu entkleiden, nun aber durch Aufsichnehmen härtesten Leidens eine volle Sühnung der Schuld vollzieht, damit den Menschen von ihr befreit, ihn in den Stand der Gotteskindschaft wiedereinsetzt und ihm alle Herrlichkeit göttlichen Lebens zuführt. Dieses Notwendige ist nun nach christlicher Überzeugung zur Tatsache geworden; so bildet der durch schuldloses Leiden erlösende Gott den Mittelpunkt der christlichen Überzeugung.

Aber wenn damit eine sichere Emporhebung über den Stand der Zerrüttung erfolgt, ja eine neue Welt eröffnet wird, so ist nicht schon aus unserer Welt der Widerstand gegen das Gute verschwunden; nicht nur wird die erlösende Tat vielfach schnöde abgelehnt, es verbleibt auch das Leid der Welt, es wird nach der Vertiefung des Lebens eher noch stärker empfunden. Auch den Gläubigen versetzt die große Wendung keineswegs rasch in den Stand der Vollkommenheit, auch in seiner Seele steigt immer neuer Widerstand auf, auch ihn quält immer neue Versuchung. So bleibt der gesamte Weltstand, der den Menschen umfängt, nicht nur unfertig, sondern eine Stätte härtesten Kampfs, er erreicht bei sich selbst keinen Abschluß; daher kann diese Welt dem Menschen nie zur vollen Heimat werden, vielmehr werden Sehnsucht und Hoffnung einer besseren Welt Hauptstücke des christlichen Lebens, »wir haben hier keine bleibende Stätte, aber die zukünftige suchen wir«, eine Sehnsucht freilich, welche nicht wie die Romantik ins Unbestimmte und Grenzenlose schweift, sondern ein hohes Ziel vor Augen hat und die ewige Herrlichkeit in Glauben und Hoffnung vorausnimmt. Auch ist die gegenwärtige Welt keineswegs bloß eine Stätte des Kampfes, sie enthält den Beginn einer höheren Ordnung. Denn nicht nur ist jenes göttliche Leben den Seelen unmittelbar gegenwärtig und hebt sie über allen Kampf hinaus, es vollzieht sich auch, freilich stets mit dem Blick über die Welt hinaus, der Aufbau eines Reiches Gottes auf Erden, wie ihn die Kirche zeigt, die damit einen festen Halt gegenüber dem Schwanken individueller Lage und Stimmung bildet. Immerhin verbleibt das Leben inmitten großer Kontraste und in unablässiger Spannung, augenscheinlich ist der Gegensatz zu der Ruhe und Festigkeit des griechischen Lebens; die Widersprüche, die in ihm ausgeglichen schienen, brechen nun mit voller Schroffheit hervor und verlangen zur Überwindung heroische Kraft.

In Wahrheit entsteht auf diesem Boden eine neue, eigentümliche Lebensordnung. Eine Tatwelt löst sich hier mit voller Entschiedenheit vom Dasein ab und hebt sich weit darüber hinaus; eine Spaltung in zwei Welten wird dadurch unvermeidlich, daß das neue Leben sich unmöglich in seiner Kraft und Reinheit fassen läßt, ohne es als ein weltüberlegenes, von höherer Macht verliehenes zu verstehen. So bildet hier den festen Grund des Lebens nicht mehr das Weltall als Kosmos, sondern Gott, die weltüberlegene Lebenseinheit; seine volle Überlegenheit bekundet schon der Begriff des Schaffens, der hier zuerst klar und zugleich unentbehrlich wird; die Gottheit wirkt hier nicht sowohl an einem unabhängig von ihr vorhandenen Stoff, als ihr Wille alles Dasein überhaupt hervorgebracht hat; die Tat ist hier nicht ein Stück einer schon vorhandenen Welt, sondern die ganze Welt ist das Werk freier Tat. Auch hier strebt das Leben zum Aufbau einer allumfassenden Wirklichkeit, aber hier ist es nicht die Formgebung, welche die ganze Ausdehnung durchdringt und ihren Forderungen gemäß gestaltet, sondern es ist die seelische Einigung mit Gott und das Teilgewinnen an seinem Leben wie seiner Liebe, woran hier alles Gelingen hängt, und welches das Ziel und das Maß alles Strebens bildet. Das besagt gegenüber der griechischen Weite eine energische Zusammendrängung des Lebens, die Religion ist hier nicht ein Gebiet neben anderen Gebieten, sondern sie wird die beherrschende und durchwaltende Seele des Ganzen, alle übrige Betätigung hat ihr sich unterzuordnen. Dabei ist es nicht die Religion schlechthin, sondern eine durchaus eigentümliche Art der Religion, welche diese Stellung erhält, es ist eine Religion, die nicht nur ein Gesetz erfüllt haben will, sondern die als Erlösungsreligion eine völlige Umwandlung herbeiführen, einen neuen Seelenstand, ja einen neuen Menschen schaffen möchte. Die Erlösung besagt dabei nicht, wie bei den Indern, eine Befreiung vom flüchtigen Schein der Welt und eine Versetzung in ein wandelloses Sein, sondern sie ist zunächst eine Befreiung vom Bösen, von einer positiven Verkehrung des gesamten Seelenstandes, sodann aber die Eröffnung eines neuen, rein innerlichen Lebens aus dem Liebesverhältnis von Lebenseinheit zu Lebenseinheit, von Persönlichkeit zu Persönlichkeit. So erfolgt hier durch gründliche Verneinung hindurch schließlich eine starke Bejahung, eine Wendung zu einer von Liebe beherrschten und von ihr erfüllten, damit aber in einen Stand der Seligkeit erhobenen Welt. Wenn das Christentum eine ethische Erlösungsreligion genannt wird, wie z. B. von Schleiermacher, so muß dabei gegenwärtig sein, daß das Ethische dann das Metaphysische einschließt, d. h. daß es nicht innerhalb einer weiteren Welt eine besondere Aufgabe zu erfüllen hat, sondern daß es die ganze Welt beherrscht, ja die Wirklichkeit aus sich hervorbringt. An freier Tat hängt hier alles Geschehen: die weltschaffende Tat Gottes, der selbstgewollte Abfall von Gott, die rettende Erlösungstat, der Aufruf zur Entscheidung für oder wider sie, der Abschluß mit dem Weltgericht und die Herstellung eines Standes ungetrübter Herrlichkeit: überall Tat, nirgends Prozeß, sei es naturhafter, sei es geistiger Art. Dem entspricht es, daß den Hauptgegensatz der Welt nicht der von Geistigem und Sinnlichem, sondern der von Gutem und Bösem bildet. Bei solcher Fassung kann das Ethische unmöglich in Leistungen aufgehen, seien sie noch so zahlreich und noch so groß, entscheidend ist hier der Gesamtstand der Seele, die Seelenhaltung, der Gewinn einer innigen Lebensgemeinschaft mit Gott, das Entstehen eines neuen Menschen aus solcher Gemeinschaft.

Mit dem allen ergibt sich eine energische Zurückverlegung des Lebens, die Bildung eines neuen Lebenszentrums, ein ethisch-religiöser Begriff der Seele, der als Erzeugnis der Tatwelt wie allen natürlichen Eigenschaften, so auch allen besonderen Seelenvermögen weit überlegen ist. Denn nur von einem neuen, eigentümlichen Begriff der Seele kann es heißen: »Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewänne und litte Schaden an seiner Seele?« Wir blicken hier in eine bei aller Unergründlichkeit klare Lebenstiefe, der gegenüber, was bisher die ganze Wirklichkeit dünkte, zu einer bloßen Außenwelt sinkt. Von da aus vollziehen sich große Wandlungen des Lebens: Befreiungen, Wertsteigerungen, Weiterbildungen. Eine Befreiung ist es, wenn das Geistige als freie Tat sich über alle Natur hinaushebt, und wenn die noch so veredelte Natur für die ethische Aufgabe unzulänglich befunden wird; eine Befreiung, wenn der Wert des Handelns nicht mehr an der äußeren Ausdehnung und am äußeren Erfolge, sondern an der völligen Hingebung der Seele an Gott, an ihrem völligen Geborgensein in ihm liegt, wenn damit die Gesinnung aus einer matten Begleiterscheinung zu einer tätigen Seelenhaltung, einem Werk des ganzen Menschen wird; eine Befreiung von aller bloßen Naturbeschaffenheit und allem nicht nur äußeren, sondern auch inneren Schicksal, wenn dieselbe überragende Aufgabe der Lebenswendung aus freier Tat allem Menschenwesen zuerkannt wird; eine Befreiung endlich von der Macht des Todes, wenn göttliche Liebe den Menschen in ein ewiges Leben versetzt und durch die Einigung mit Gott von aller Vergänglichkeit befreit. So ist es vollauf begreiflich, wenn Melanchthon sagte: »Schließlich ist die Freiheit das Christentum.«

Hand in Hand mit solchen Befreiungen gehen eingreifende Werterhöhungen. So vor allem eine solche der Menschheit. Als ethisches, zur Teilnahme am göttlichen Leben berufenes Wesen bedeutet der Mensch nicht mehr ein bloßes Stück eines weiten Alls, er wird mit dem Reich der Seele zum beherrschenden Mittelpunkt des Ganzen und entscheidet mit seinem Handeln über dessen Geschick, der Geistesgehalt des Menschenlebens wird hier als in Gott gegründet allem Widerspruch der Welt gegenüber mit größter Entschiedenheit und felsenfester Gewißheit behauptet. Mit dem Menschenwesen wächst zugleich der Wert jedes einzelnen Menschen: auch auf ihn erstreckt sich die göttliche Liebe, und zur Vollendung des Ganzen ist auch seine Entscheidung unentbehrlich. Dabei erzeugt alle solche Steigerung kein stolzes Bewußtsein und kein überquellendes Kraftgefühl, denn alle Kraft gilt hier als eine verliehene Gabe, und allem Wirken voran steht ein demütiges Empfangen; alles Vertrauen auf ein Gelingen ruht hier auf dem Bewußtsein eines Getragenwerdens von göttlicher Liebe und Macht. Auch insofern wächst jetzt der Wert des menschlichen Lebens und Handelns, als die Forderung einer großen Wendung wie für das Ganze so für den Einzelnen ihm eine gehaltvolle Geschichte im vollen Sinne überhaupt erst ermöglicht, denn wie könnte eine solche entstehen, wo das Leben nur eine natürliche Entwicklung bildet oder auch sich in einem ständigen Rhythmus abspielt? Die tiefste Begründung der Geschichte liefert hier das Eingehen Gottes in die Welt, der Ewigkeit in die Zeit; dem menschlichen Leben aber wird die Geschichte besonders dadurch bedeutend, daß sie sich auch in die Einzelseele erstreckt, sie vor eine allumfassende Aufgabe stellt, ihrem Handeln damit eine bis dahin ungekannte Spannung verleiht. So erklärt es sich auch, daß der Boden des Christentums weit mehr als andere Kreise Selbstbiographien hervorgebracht hat.

Eine Weiterbildung des Lebens erfolgt besonders in der Behandlung des Leides. Auch bei den Griechen konnte das Leid als Mittel der Stählung der Kraft einen seelischen Wert gewinnen, aber der Mensch wurde dann nicht sowohl innerlich weitergebildet als in einem schon vorhandenen Stande nur bestärkt. Jenes aber geschieht beim Christentum. Das Leid erscheint hier einmal als ein Mittel zur Ablösung von der Welt, welche die Seele sonst festhält, auch als eine Brechung ungebührlichen Selbstvertrauens und ein Bereitmachen der Seele für ein Aufnehmen göttlicher Hilfe; es wirkt aber weiter zur Beseelung und Vertiefung des Lebens durch die in ihm erscheinende Liebe, es wird damit das stärkste Band der Gemüter. Ja es empfängt eine Heiligung dadurch, daß Gott selbst es in vollendeter Liebe auf sich genommen und dadurch die Menschheit von sonst unvermeidlichem Verderben gerettet hat. Daß damit der leidende, aber durch sein Leiden überwindende Gott zum Hauptgedanken des Christentums wird, das ergibt eine sonst ungekannte Innigkeit des Verhältnisses von Gott und Mensch. Denn ein Gott, der in seliger Hoheit über den menschlichen Geschicken thront, bleibt unvermeidlich der tiefsten Seele fern und fremd, nur ein Gott, der das Leiden kennt und teilt, kann wahrhaftige Hilfe bringen, wie die Worte es ausdrücken:

»Wenn mir am allerbängsten
Wird um das Herze sein,
Dann reiß mich aus dem Ängsten,
Kraft deiner Not und Pein«.

Alle Schwierigkeit einer dogmatischen Fassung dieses Gedankens kann ihm seine Unentbehrlichkeit für das Christentum nicht rauben; ihn aufgeben heißt das dem Christentum am meisten Eigentümliche preisgeben. Da das Leid hier aber nur der Weg zum Siege ist, so zerstört auch seine äußerste Schwere nicht den Mut und die Freudigkeit des Lebens. So wird es hier möglich, das Feindliche in seiner ganzen Ausdehnung vollauf zu würdigen, es tief auf die Seele wirken zu lassen, dabei aber eine sichere, ja freudige Überlegenheit zu bewahren.

In engem Zusammenhang mit solcher Wandlung sieht eine Veränderung, ja Umbildung der Moral. Wie sie hier nicht vornehmlich ein Ordnen einer vorhandenen Welt bedeutet, so kann sie nicht in der Gerechtigkeit ihre beherrschende Spitze finden. Sondern hier, wo es eine neue Welt aufzubauen gilt, und wo der Mensch als noch mitten im Fluß, dabei durch schroffe Gegensätze gespalten erscheint, kann er Hoffnung und Zuflucht allein in der Liebe finden, in einer Liebe, welche den Menschen nicht als fertig hinnimmt und als einen solchen mißt, dabei leicht hart aburteilt, die vielmehr mehr aus ihm macht, ihn innerlich weiterbildet, allem Menschenwesen aus der Gegenwart göttlichen Lebens einen aller natürlichen Beschaffenheit überlegenen Wert verleiht. Solche Erfahrung muß zunächst tiefe Dankbarkeit gegen Gott, dann aber, zu ihrer Bekundung, ein unermüdliches Wirken und eine verzeihende Milde gegen die Nebenmenschen erzeugen; als eine notwendige Forderung entspringt aus ihr auch das Gebot der Feindesliebe. Diese wird möglich, weil hier nicht sowohl der bloße Mensch als Gott im Menschen geliebt wird. Auch verlieren in diesem Zusammenhange alle Unterschiede der Menschen ihre Starrheit; eine Wesensgleichheit kann, ja muß ihnen allen überlegen bleiben. Der Gedanke einer Gleichheit der Menschen, der aller Natur und Erfahrung schroff widerspricht, gewinnt ein Recht aus der inneren Gegenwart eines allen durchflutenden göttlichen Lebens.

Alles miteinander ergibt eine durchaus eigentümliche Lebensordnung, ein Reich selbständiger Innerlichkeit aus persönlichem Leben; aus einem Leben aber, das aus überlegener Höhe kommt und den Menschen durch eine große Wandlung über den Anfangsstand weit hinaushebt. Unverkennbar ist der weite Abstand, ja vielfach ein schroffer Gegensatz zum alten Griechentum. Bei diesem eine geschlossene Welt und ein bloßes Zurückgehen auf ihren Grund, ein Sichbesinnen auf den eignen Besitz, im Christentum die Forderung einer neuen Welt und einer Umwälzung des Lebens, ein stetes Emporblicken zu jener Welt, »aufwärts die Herzen«; dort möglichste Ruhe und eine Ausgleichung der Gegensätze, hier ein Hervorbrechen aller Gegensätze und ein Hinundhergehen der Seele zwischen ihnen, zwischen Entbehren und Besitz, zwischen Nichtigkeit und Größe, zwischen Kampf und Frieden, zwischen erschütterndem Zweifel und seliger Gewißheit; das Leben bei den Alten vorwiegend der Gegenwart angehörig, ein Christentum so sehr zwischen Rückblick in die Vergangenheit und Hoffnung auf die Zukunft gestellt, daß die Gegenwart darüber fast verschwindet; dort ein Streben zur weiten Welt der Natur, hier zur Tiefe eines Seelenreiches. Solchem Hauptzuge müssen auch alle einzelnen Lebensgebiete folgen, sie müssen sich im besonderen dadurch eigentümlich gestalten, daß es in aller Mannigfaltigkeit schließlich allein Gott zu suchen und zu verkünden gilt, unter einem Hinausgehen über die natürliche Lage; so sucht die Wissenschaft nicht sowohl die Welt als Gott in der Welt zu erkennen, so dient die Kunst vor allem der Offenbarung seiner Herrlichkeit, so ist es die Gotteskindschaft, welche die Menschen weit über alle sonstige Verbindung hinaus zu einer inneren Gemeinschaft neuen Lebens zusammenschließt; so will die Erziehung nicht sowohl für menschliche Zwecke als über sie alle hinaus für das Reich Gottes erziehen. Alles miteinander ist kein bloßer Zusatz zu einem sonst vorhandenen Leben, es ist die Bildung eines neuen Lebens, der Aufbau einer neuen Welt, ein Aufbau, der sich in vollem Gegensatz zur natürlichen Welt vollzieht, der also nie aus natürlicher Entwicklung hervorgehen kann, sondern das Eintreten einer höheren Ordnung in unsere sonst zerrissene und verlassene Welt bekundet. Alles hängt hier an dem einen Gedanken, daß sich der Menschheit ein höheres Leben mit sicherer Tatsächlichkeit geoffenbart, ja ihr voll zu eigen gegeben hat, daß erlösende Liebe von aller Not und Schuld befreit und ein ewiges Leben eröffnet. Es ist sehr begreiflich, daß gewaltige Wandlungen des Menschenlebens von da ausgegangen sind, daß sich eine völlige Umwälzung der Weltgeschichte daran knüpft.

 

Aber auch wer dies alles vollauf anerkennt, kann sich der Tatsache nicht entziehen, daß das Christentum durchgängig einen harten Kampf um seine Wahrheit und sein Recht zu führen hatte. Namentlich in der Neuzeit hat nicht bloß menschliche Stimmung und Strebung, sondern eine Bewegung des Lebens selbst ihm in wachsendem Maße widersprochen.

Es ist zunächst die Wahrheit des Grunderlebnisses, das ist die Wahrheit der Mitteilung Gottes an den Menschen und der dadurch bewirkten Versetzung des Menschen in eine Welt wahrhaftigen Lebens, die immer mehr Zweifel erweckt hat. Das Christentum ist sich dessen voll bewußt, daß bloßes Wissen nicht die Seele der lebendigen Gegenwart Gottes vergewissern kann, daß es dazu vielmehr eines besonderen Vermögens bedarf, das eine unmittelbare Verbindung von Seele zu Seele herstellt. Ein solches aber findet es im Glauben; was im Altertum zur Vereinigung von Mensch und Welt die Anschauung leistete, das gewährt nun im Verhältnis zu Gott der Glaube in einer aller wissenschaftlichen Beweisführung weit überlegenen Weise, der Glaube als Anbahnung und Bekundung einer völligen Einigung mit Gott. Ein solcher Glaube kann nicht aus dem bloßen Menschen stammen, niemand kann ihn sich selbst verleihen, er ist vielmehr eine Gabe und Gnade Gottes, die den Menschen allem Zweifel enthebt und ihm die freudige Gewißheit der Gegenwart Gottes gibt. In solchem Gegenwärtigwerden der weltüberlegenen Macht bekundet sich unmittelbar ihre Tatsächlichkeit; nur was jenes von Gott uns enthüllt, hat Wert für die Religion, deren Gottesbegriff sich damit von dem aller philosophischen Spekulation aufs deutlichste unterscheidet. So ist auf der Höhe des Lebens alle Kluft überwunden und der Mensch einer beseligenden Wahrheit gewiß.

Aber wie schwer ist es dem Christentum geworden, diese Höhe gegenüber den Gefahren und Versuchungen des Daseins zu behaupten, wie oft ist der Begriff selbst von dieser Höhe gesunken! Das neue Leben mit seiner Welt widerspricht so sehr dem nächsten Weltanblick und auch dem nächsten Befunde der Seele, daß immer wieder Zweifel erwachen, ob es in Wahrheit von Gott stammt und den Menschen seiner gewiß macht. Es ist hier vielen gegangen, wie Jakob Böhme, der meinte, solange er vorwärts blicke, habe er guten Mut, aber es schwindle ihn, wenn er rückwärts schaue. Das Bedürfnis, die Erregung, der Aufschwung der Seele ist gewiß; minder gewiß aber ist, ob darin ein Werk Gottes vorliegt. So entstand denn der Zweifel, hier von unvergleichlich größerer Wucht als bei irgendwelcher anderen Lebensordnung. Denn hier steht nicht ein theoretischer Satz, sondern die Aufrechterhaltung der Verbindung mit Gott und damit das Heil des Lebens in Frage. Seligkeit oder Verderben liegt an dieser Entscheidung; gedenken wir nur der Worte Luthers (These 16): »Wie mich dünkt, unterscheiden sich Hölle, Fegefeuer, Himmel genau so wie zweifeln, beinahe verzweifeln und des Heiles gewiß sein.« Der Zweifel erscheint hier als etwas Ungeheuerliches, als ein Herausfallen aus der göttlichen Ordnung und ein Verschmähen der göttlichen Liebe, als ein Verlassensein von allem, was den Menschen aus seiner Not retten kann. Und doch steigt er immer von neuem auf, und selbst die führenden Geister, vielleicht sie besonders, wurden immer wieder von der Höhe seliger Gewißheit in den Abgrund des Zweifels zurückgeschleudert. War es verwunderlich, daß man Hilfen gegen solche Nöte suchte?

Eine derartige Hilfe ward namentlich in sichtbaren und handgreiflichen Zeugnissen der christlichen Wahrheit gesucht, welche die Sache aller Erörterung entziehen sollten, einmal in Zeichen und Wundern, dann aber auch in der Autorität einer großen Gemeinschaft wie der Kirche. Aber selbst wenn diese sinnlichen Hilfen unbestritten wären, was sie keineswegs sind, die Frage bleibt, ob sie beweisen können, was sie beweisen sollen: die wirksame Gegenwart Gottes in der menschlichen Seele. Es ist dabei zu beachten, daß die gesteigerte Selbsttätigkeit, welche das menschliche Leben in der Neuzeit gewann, das Denken schärfer vom sinnlichen Eindruck abgehoben und dadurch die Beweiskraft sinnlicher Daten für geistige Fragen aufs stärkste erschüttert hat. Wandte man sich aber, um einer Begründung von Innerem auf Äußeres zu entgehen, zur unmittelbaren Seelenlage und berief sich auf ihre Gefühle, Bedürfnisse, Forderungen als Erweise einer höheren Ordnung, so überschritt man im Grunde nicht den eigenen Kreis, sondern bewegte sich nur innerhalb seiner, eine übermenschliche Wahrheit war auf diesem Wege nicht zu erreichen. So floh denn der moderne Mensch bald von der Gemeinschaft zur Seele, bald von der Seele zur Gemeinschaft, über die Schranken beider kam er damit nicht hinaus. Demnach bleibt die Wahrheit des Ganzen ein offenes und schweres Problem, die Lebensbewegung der Neuzeit hat es immer schwerer gemacht. Denn die von ihr vollzogene Verschärfung des Gegensatzes zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Mensch und Welt, verhindert einen raschen Aufstieg zu einem ihm überlegenen Stande; indem sie den Menschen vollauf erkennen ließ, wieviel auch an dem subjektiv ist, was früher als objektiv galt, verbietet sie ihm alle rasche und freudige Hingebung, zwingt sie ihn immer von neuem, hinter sich selbst zurückzutreten, macht sie ihm auch seinen Glauben immer von neuem zur Frage.

Nicht mindere Verwicklungen als die Art des Beweises erweckt der Gehalt der christlichen Ordnung. Es galt hier den Aufbau einer neuen Welt, der gegenüber die alte Welt völlig zurücktrat und hinter uns blieb. Aber was die gewaltige Erregung schaffender Zeiten in kühnem Aufschwung vollbrachte, das fand im weiteren Verlauf immer mehr Gegenwirkung, das Zurückgedrängte gewann immer mehr Raum, drang immer weiter vor, drohte schließlich die ganze christliche Welt zu einer Nebenwelt herabzusetzen. Immer weniger ließ sich leugnen, daß die Gesamtwelt ein wesentlich anderes Aussehen zeigt, als die christliche Überzeugung fordert, daß sie sich dem von dieser vorgehaltenen Maße keineswegs einfach einfügt. Jener war die Welt in Natur und Menschenleben ein Ausdruck göttlicher Macht, Weisheit und Güte, dadurch ward sie fest zusammengehalten, daraus empfing sie Ziele, denen unbedingt nachzukommen war. Nun aber hat die Forschung uns mehr und mehr eine eigne Natur der Dinge, eine sachliche Wahrheit, erschlossen und uns zugleich ein Erklären aus ihr zur Pflicht gemacht, dabei zeigt sie die Welt als ins Unermeßliche ausgebreitet und aller straffen Konzentration entzogen, ferner als gleichgültig gegen die Zwecke und Werte, die uns am Herzen liegen, in Aufbau und Zerstörung als unbekümmert um unser Wohl und Wehe. Alles miteinander ergibt eine wissenschaftliche Behandlung gegenüber der religiösen und läßt ihre sachliche Notwendigkeit aller persönlichen Bewertung weit überlegen dünken. Die religiöse Deutung erschien dabei leicht als ein bloßer Mantel, den die menschliche Stimmung über das Weltall breitet, um seine unerbittliche Härte zu verdecken.

Ähnliche Verwicklungen zeigt das Gebiet des Handelns. Hier sollte ausschließlich die Liebe herrschen, aber kommt, wie die menschlichen Dinge liegen, das Leben ohne Gerechtigkeit aus? Zu einer verworrenen Welt haben wir einen leidlichen Aufbau gegen Stumpfheit, Trägheit und Bosheit mühsam zu vollziehen und mühsam aufrecht zu halten, es bedarf dabei eines unablässigen Kampfes zur Niederhaltung des stets zum Vordringen bereiten Gemeinen, ist dazu die Liebe imstande? Ist sie es aber nicht, stellen wir uns auf die Gerechtigkeit und gestalten nach ihr das Leben, so sind die christlichen Maße verlassen, so verfällt unser Handeln einem Zwiespalt, ja sogar einer Unwahrhaftigkeit, indem entgegengesetzte Bewertungen von der Gerechtigkeit und von der Liebe aus sich ineinanderschieben und sich gegenseitig stören. Es läßt sich nicht wohl leugnen, daß im Ganzen des menschlichen Lebens barmherzige Liebe und reine Güte sich nur wie eine Begleiterscheinung ausnimmt, die gewisse Härten mildert, gewisse Wunden heilt, aber damit keineswegs zur Herrin des Lebens wird. Die Schicksale der Menschheit aber zeigen so viel Dunkel und Härte, eine so unheimliche Macht kleiner und zufälliger Dinge, daß, wenigstens für unser Auge, ein Walten der Liebe, eine gütige Vorsehung darin nicht zu erkennen ist; wem die Kleinheit des Privatlebens das bisher verbarg, dem hält es der gegenwärtige Weltkrieg mit unabweisbarer Eindringlichkeit vor. Oder wollen wir uns zu der von Hegel verspotteten Kleinkrämerei des Glaubens flüchten, welche sich für den Einzelnen alles möglichst angenehm zurechtlegt, das Geschick der ganzen Menschheit aber unbedenklich dunklen Gewalten preisgibt? So erscheint denn ein Reich der Liebe mehr als eine menschliche Sehnsucht und Hoffnung denn als eine Wirklichkeit; mag die liebelose Welt uns entsetzlich kalt erscheinen, das Bewußtsein dabei zu frieren erzeugt noch lange keine Wärme.

Wenn hier wie vorhin bloß subjektiv zu werden droht, was früher als überlegene Tatsache, als volltätig schaffendes Leben galt, so erfährt das ganze Menschenleben eine ungeheure Erschütterung, es scheint viel zu klein zu werden, um Maße von der Welt und der Gottheit liefern zu können. Dahin wirkt auch dieses, daß die Neuzeit weit mehr als frühere Zeiten die besondere Art des Menschen mit ihren Schranken herausgestellt hat und einen energischen Kampf gegen das Eindringen dieser Art in das Bild der Wirklichkeit führt. Von hier aus kann eben das Zentraldogma des Christentums, die Lehre von der Menschwerdung Gottes und seinem stellvertretenden Leiden, als viel zu anthropomorph und daher als unhaltbar erscheinen. Jene Lehre lag der Denkart der Zeit, welche ihr die geschichtliche Fassung gab, weit näher, als uns heute nach der Weiterbewegung des Lebens und der Erweiterung aller Begriffe; das Bild eines zürnenden und dann durch das Opfer seines Sohnes beschwichtigten Gottes scheint uns einer überholten Lebensstufe anzugehören, wie auch die Vorstellung, daß eine Stellvertretung für die Schuld eines anderen möglich sei, als sei eine Schuld überhaupt durch eine Strafe zu tilgen. Denn dabei wird die Frage zu äußerlich gefaßt, zu wenig in die eigne Seele des Menschen verlegt. Die Tiefe und Wahrheit des Gedankens, daß echte Liebe sich namentlich in willigem Leiden für andere erweist, und daß von solchem Leiden ein Strom des Segens ausgeht, bleibt dabei unangetastet; aber er deckt sich nicht mit jenem Gedanken einer stellvertretenden Sühne.

Von der Bestreitung dieses Zentralpunktes aber geht eine kritische Bewegung durch die ganze christliche Gedankenwelt, nicht nur in dieser oder jener Lehre, sondern ihrer ganzen Ausdehnung nach erscheint sie erweiterten und vom menschlichen Stande mehr abgehobenen Begriffen, erscheint sie einer schärferen Scheidung von geistigem Gehalt und menschlichem Vorstellen und Empfinden, als zu eng, zu bloßmenschlich, zu sehr bloße Wünsche und Hoffnungen an die Stelle sachlicher Forderungen setzend. Damit gerät die ganze Gedankenwelt mit ihren persönlichen Größen in Unsicherheit. Der Mensch aber, der sich in den tiefsten Grund aufgenommen glaubte, wird damit auf sich selbst zurückgeworfen, so daß alle Größen und Werte der neuen Welt zu bloßmenschlichen Gebilden herabzusinken drohen, viel zu sehr scheint sein Denken von bloßen Wünschen und Phantasiebildern fortgerissen. Das bereitet den Boden für eine Denkweise vor, wie sie Ludwig Feuerbach in geistvoller Weise vertrat; die ganze Religion sei nur eine bloße Hinausspieglung subjektiv menschlicher Bedürfnisse in das All, damit aber ein bloßes Wahnbild.

Alles zusammen erklärt vollauf eine starke Bewegung gegen das Christentum. »Warum sollen wir«, so heißt es, »uns länger einer Lebensordnung fügen, die in allen Hauptpunkten angreifbar ist, und die mit den Tatsachen der Erfahrung fortwährend zusammenstößt? Die Grundlage, die sie dem Leben durch den Glauben gibt, ist ganz und gar schwankender Art, mit dem Weltbilde verträgt sie sich nicht, für das Leben genügt sie nicht, ihre Begriffe sind zu eng geworden, den kleinen Menschen macht sie zum Mittelpunkt der Wirklichkeit und verzerrt diese damit aufs ärgste. Fordert nicht Wahrheit und Wahrhaftigkeit, das Ganze als eine Irrung abzuweisen, die, ein Erzeugnis verschüchterter und verworrener Zeiten, lange genug als ein schwerer Druck auf der Menschheit gelastet hat, nun aber nach größerer Klärung der Geister und nach einem Wiedererwachen frischen Lebensmutes endgültig weichen muß?« So sagen manche, und so denken wohl noch mehrere.

Wir meinen: Gemach, gemach, so einfach liegt die Sache nicht. Zunächst sind einige Mißdeutungen augenscheinlich. Wohl entstand das Christentum in einer matten und schwachen Zeit, und es trägt noch heute unverkennbare Spuren davon. Aber in der Hauptsache hat es der Schwäche nicht nachgegeben, sondern sie auszutreiben gesucht, es hat sie tatsächlich in weitem Umfang ausgetrieben, das aber nicht durch bloße Lehren oder auch Gefühle, sondern durch Weiterbildungen und Befestigungen des gesamten Lebens, die sich nicht so einfach wegdeuten lassen. Ferner heißt es, das Christentum habe die Welt gemäß menschlichen Wünschen zurechtgelegt. Aber sieht man denn nicht, wie einschneidende Wandlungen, wie harte Selbstüberwindungen, wie schwere Opfer das Christentum vom Menschen gefordert hat, wie es ihm keineswegs, so wie es ihn findet, das Leben behaglich macht, sondern ihm erst nach gänzlicher Umwandlung eine von allem bloßen Behagen grundverschiedene Seligkeit aus der Gemeinschaft mit Gott verheißt? Der Grundfehler jener völligen Verwerfung liegt an ihrem Verkennen des Kerns der christlichen Lebensordnung. Diesen Kern bildet die Eröffnung eines neuen Lebens, zugleich aber einer neuen Welt und volltätigen Wirklichkeit, da jenes Leben mit seinem Schaffen eine solche unmittelbar in sich schließt, in keiner Weise einen Vorgang am bloßen Subjekt bedeutet. Diese Welt trägt als ursprüngliche Tiefe ihre Tatsächlichkeit und ihre Wahrheit in sich selbst, nun und nimmer ist sie auf eine Begründung von außen her gestellt, sie ist nicht aus überlegenen Erwägungen zu beweisen, sondern wie alles Ursprüngliche nur als tatsächlich aufzuweisen. Aber nun entsteht eine große Verwicklung daraus, daß diese den Menschen über sich selbst erhöhende Welt ihm einerseits überlegen ist, andrerseits aber, um auch sein eignes Erlebnis zu werden, ihm irgendwie faßbargemacht werden muß. Dies kann aber nur nach dem Maße seiner Fassungskraft geschehen, und diese ist geschichtlich bedingt, in Wandel und Werden begriffen. Und hier fällt nun allerdings sehr ins Gewicht, daß zwischen der Zeit, wo das Christentum seine geschichtliche Gestaltung gefunden hat, und der Gegenwart eingreifende Wandlungen des Lebens erfolgt sind, Wandlungen nicht nur in der Weltanschauung, sondern auch im Seelenstande, und daß dadurch eine starke Spannung zwischen der geschichtlichen Gestalt jener Lebensordnung und den Forderungen, nicht des bloßen Menschen, sondern des Lebens eingetreten ist. Daß das Christentum einen Widerspruch mit dem nächsten Weltbefunde enthält, das war ihm von Anfang an klar, aber es konnte sich damals mit seinen Mitteln dem Widerspruch gewachsen fühlen; jetzt hat er sich mehr und mehr gesteigert und sich mehr vom Einzelnem ins Ganze gewandt; jetzt erfahren wir einen ungeheuren Abstand, einen peinlichen Konflikt zwischen dem, was Welt und Seele im unmittelbaren Dasein bieten, und dem was in innerster Tiefe des Lebens an Wirklichkeit aufsteigt. So verschärft sich gewaltig der Kampf, und die Menschheit wird vor eine folgenschwere Entscheidung gestellt, eine Entscheidung um ganze Welten. Nichts Geringeres steht in Frage als wo der Kern der Wirklichkeit liegt, und was die entscheidenden Ziele und Maße zu liefern hat; soll die Menschheit jene Innenwelt aufrechthalten trotz des harten Widerspruches der Außenwelt, oder soll sie sich für diese entscheiden und damit ihr eigenes Leben, das Persönlichsein mit all seinen Werten, seinen ethischen Zielen, seiner Freiheit und seiner Liebe für eine Einbildung erklären? Das hieße allen Sinn und Wert des Menschenlebens verloren geben und auf eine geistige Selbsterhaltung des Menschen wie der Menschheit verzichten. Und das ist doch ein zu hoher Einsatz. Wer sich aber für jene weltüberlegene Innerlichkeit entscheidet, der wird die ungeheure Schwierigkeit einer Auseinandersetzung mit der übrigen Welt und dem gesamten geistigen Stande vollauf zu würdigen haben, er muß eine geistige Krise offen anerkennen, die zwingend zu vordringender Arbeit ruft. Klärungen, Weiterbildungen, Wandlungen gründlichster Art sind schlechterdings unvermeidlich, wenn die Grundtatsache des neuen Lebens für uns wieder eine volle Nähe und Überzeugungskraft gewinnen soll; vieles wird dabei fallen müssen, was den Menschen lieb geworden ist, und was vielen unentbehrlich scheint; um solche Verluste voll zu ersetzen, wird es der Anspannung aller Kräfte, wird es einer Offenheit für ein Aufsteigen neuer Lebenstiefen bedürfen, das bloße Nein führt nicht weit. Aber bei allen Gefahren und Mühen bleibt die Aufgabe unabweisbar; jene Eröffnung einer Welt selbständiger Innerlichkeit, einer Welt persönlichen Lebens, kann wohl vom Einzelnen verkannt, nicht aber von der Menschheit verleugnet werden, sie bleibt das Allererste, Abergewisseste, Allerwichtigste, was unser Leben an Tatsächlichkeit kennt; so muß und wird sich auch ein Weg zur Verständigung mit dem übrigen Lebensinhalt finden lassen. Das aber wird von Tag zu Tag dringender, bei der Schroffheit der gegenwärtigen Spannung kann es ohne schweren Schaden nicht bleiben. Denn die jetzige Lage leidet an einer inneren Unwahrhaftigkeit, sie bindet unbedingt Notwendiges an Zweifelhaftes, ja Überholtes, sie zwingt uns eben bei den innerlichsten Fragen zugleich zu bejahen und zu verneinen, sie droht damit alle Kraft und Freudigkeit des Lebens zu lähmen. Aber so unfertig sich damit unsere Zeit ausnimmt, schon die Größe der Aufgabe gibt ihrem Streben einen Wert, und wo die Frage so sehr den Grundbestand des Lebens angeht, da werden sich schließlich auch die erforderlichen Kräfte finden.

Die Lebensbewegung der Neuzeit

Der Versuch, die Lebensbewegung der Neuzeit zu fassen, hat besondere Schwierigkeiten, er hat sie nicht nur deshalb, weil die Bewegung uns selbst umfängt und daher schwer einen Gesamtüberblick gewinnen läßt, er hat sie nicht nur, weil die früheren Lebensordnungen vielfach in diese Zeit hineinwirken und auf ihrem eignen Boden sich mit ihr durchkreuzen, er hat sie besonders, weil die Neuzeit kein einfaches Ganzes bildet, sondern in sich selbst verschiedene Schichten enthält, die sich nicht zusammenfügen. Sie beginnt nämlich mit einer Bewegung allgemeinerer Art und schafft damit einen eigentümlichen Boden, dann aber vollzieht sie darüber hinaus eine nähere Zuspitzung und erreicht in ihr eine geschlossene Lebensordnung, ein volles Wirklichkeitbilden. Aber diese Zuspitzung genügt ihr selbst für die Dauer nicht, sie strebt über sie hinaus und widerstreitet ihr vielfach, ohne aber dabei ein vollgewachsenes Lebenssystem zu erreichen und ihr dadurch überlegen zu werden. So bleibt sie bei sich selbst unausgeglichen, und es behält manches Macht über sie, worüber sie sich innerlich hinausfühlt; zwischen engerer und weiterer Fassung schwankt sie daher unsicher hin und her.

Die Neuzeit gewinnt eine eigentümliche Art zunächst in der Auflösung des festen Zusammenhanges, den auf Grund der christlichen Überzeugung das Mittelalter gebildet hatte. Es war in jenem viel Kraft aufgespeichert, aber alle Kraft diente einem einzigen Ziel, über dessen ausschließliches Recht Zweifel entstehen konnten; solche Zweifel entstanden in Wahrheit; ein anschwellendes Lebensgefühl findet das dort gebotene Leben zu gebunden und zu eng, die einzelnen Bewegungen schütteln solche Bindung ab, wagen eigne Wege, bestehen auf voller Entwicklung einer eigentümlichen Art. Gegenüber dem Ordnungssystem des Mittelalters erhebt sich damit ein Freiheitssystem und fühlt sich ihm überlegen. So bricht nach allen Richtungen selbständiges Leben hervor; selbständiger werden die Individuen, selbständiger die Völker in ihrer geistigen Art, selbständiger auch die verschiedenen Lebensgebiete, wie Recht und Moral, Kunst und Wissenschaft; überall heißt es Emanzipation von bisher drückenden Fesseln. Das ergibt eine unermeßliche Fülle des Lebens, eine Offenheit für alle Eindrücke und Anregungen, einen Sieg universaler Denkart. Dem Wachstum der Selbständigkeit entspricht ein solches der Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit des Lebens. Dieses erscheint nicht sowohl als von höherer Macht verliehen, als ihre Gabe und Gnade, sondern als etwas, das aus dem eignen Wesen aufquillt und damit eine ungleichlich größere seelische Nähe, Frische und Kraft erlangt. So auf sich selbst gestellt, verlegt das Leben sich mehr in die Gegenwart, zugleich wächst die Bedeutung der Welt, in der es sieht und mit der es zu tun hat, der Mensch fühlt sich weniger über sie Hinausgetrieben als zu ihr hingezogen und von ihrem Reichtum erfüllt. Lange Dämmerung scheint endlich zu weichen, ein neuer Tag anzubrechen, dessen Licht neuen Glanz auch auf das wirft, was die Vergangenheit übermittelt. So ist es begreiflich, daß dieses Leben sich in freudigem Aufschwung fühlte; »die Geister erwachen, es ist eine Lust zu leben« (U. v. Hutten).

Wie solche Lebensentfaltung durchgängig das Eigentümliche der Dinge mehr hervortreibt und sie auseinandertreten läßt, so scheiden auch die Gegensätze sich deutlicher voneinander. Das gilt besonders für unseren Hauptgegensatz von Mensch und Welt. Die christlich-mittelalterliche Lebensordnung hatte Mensch und Welt eng miteinander verbunden und das eine oft unmittelbar in das andere überfließen lassen, jetzt aber erfolgt eine Scheidung und eine vollere Entwicklung der Eigentümlichkeit eines jeden. Die Welt erhebt sich selbständiger gegen den Menschen und eröffnet ihm einen weit größeren Reichtum, ein objektiver Bestand der Dinge macht sich geltend und fordert mehr Arbeit zu seiner Erfassung. Das lenkt den Blick ins Weite und Freie, es widersteht einem Sicheinspinnen in den bloßmenschlichen Kreis. Aber andererseits wächst auch der Mensch bei sich selbst, er beachtet sich mehr, und er findet auch bei sich mehr; er schließt sich fester im eignen Wesen zusammen und vermag so der Welt mit größerer Kraft zu begegnen. Aber solches Auseinandertreten reißt Mensch und Welt noch keineswegs schroff auseinander, bei aller Scheidung bleiben sie einander noch nahe genug, um ein Verhältnis fruchtbarer Wechselwirkung auszubilden und sich aneinander zu steigern, der Mensch wächst an der Welt, und seiner erhöhten Kraft enthüllt sie weitere Tiefen. Dabei scheinen Mensch und Welt sich nicht nur äußerlich zu berühren, sondern auch durch eine inneren Zusammenhang verbunden. Der ältere Begriff des Mikrokosmos kommt jetzt zu weiterer Verbreitung und Macht, die ganze Fülle der Wirklichkeit scheint im Menschen angelegt, so daß er in seiner Selbstentwicklung zugleich die Welt zu gewinnen glaubt; das erfüllt ihn mit starker Sehnsucht nach Einigung mit ihr und erweckt in ihm eine »heroische« Liebe zum All, die über alle kleinen Lebenssorgen hinaushebt.

Mit allem zusammen schwillt das Leben mächtig an, bei aller Schwere der Aufgaben unterliegt seine Bejahung nicht dem mindesten Zweifel. Hier ist ein fruchtbarer Boden für das Entstehen selbstwüchsiger schaffender Persönlichkeiten, sie stehen vor unserem Auge in unbegrenzter Mannigfaltigkeit. Aber in aller Verschiedenheit hat das hier entwickelte Leben gegenüber den älteren Lebensordnungen bedeutende Züge gemeinsam. Zunächst ist eine erhebliche Wandlung gegen die überkommene religiöse Lebensordnung unverkennbar. Wohl bleibt der Gedanke der Gottheit auch hier dem Leben unentbehrlich, aber er wirkt hier mehr zur Stärkung der Kraft und zur Einfügung des Menschen in einen großen Zusammenhang als zur Befreiung von drückender Not und Schuld, es fehlt das harte Nein, das früher einen unerläßlichen Durchgang zum endgültigen Siege bildete. Die Religion beherrscht hier weniger das Leben als sie es begleitet und vertieft; so muß der weltüberlegene Theismus einem weltdurchdringenden Pantheismus weichen.

Enthält die darin bekundete Hochschätzung der Welt eine Annäherung an das Altertum, so kann diese eine Veränderung in der Stellung des Menschen zur Welt nicht verdecken. Der antike Mensch verhielt sich zu ihr hauptsächlich anschauend und behandelte sie zugleich als eine geschlossene Größe. Dem modernen dagegen wird sie vornehmlich ein Vorwurf, an dem seine Kraft sich entfaltet, und wodurch sie weiter und weiter wachsen soll. Das wirkt dahin, auch die Welt selbst mehr im Werden und Wachsen zu sehen; so gewinnt der Fortschrittsgedanke an Raum, und die Ruhe tritt der Bewegung den Vorrang ab. Der Entwicklungsgedanke, der gleich mit Beginn der Neuzeit einsetzt (Nikolaus von Cues), gewinnt in ihrem Verlauf immer weiteren Raum und dringt immer kräftiger in den Bestand der Dinge ein. Ja die Möglichkeit eines unbegrenzten Fortschritts wird zum Hauptzeichen einzigartiger Größe des Menschenwesens. »Immer mehr erkennen zu können ohne Ende, das ist das Abbild der ewigen Weisheit. Immer möchte der Mensch, was er erkennt, mehr erkennen, und was er liebt, mehr lieben, und die ganze Welt genügt ihm nicht, weil sie sein Erkenntnisverlangen nicht stillt« (Nikolaus von Cues).

In dem allen vollziehen sich Wandlungen, welche über den besonderen Augenblick hinaus durch die ganze Neuzeit reichen und wesentlich ihren Charakter bestimmen. Das Leben zeigt hier das Vermögen, den Ausgangspunkt der Bewegung bei sich selbst zu nehmen und sich ganz auf sich selbst zu stellen, es nimmt seinen Inhalt nicht von draußen her auf, sondern will ihn bei sich selbst erzeugen. Die unmittelbare Gegenwart eines schaffenden Lebens im Menschen wird vollauf anerkannt und damit eine Wendung vollzogen, die sich schwerlich zurücknehmen läßt.

Aber alle diese Lebenssteigerung ergibt noch nicht eine alles beherrschende Konzentration und eine durchgebildete Lebensordnung. Das Ganze enthält manche unerwiesene Voraussetzung und viel Unausgeglichenes, der alles durchdringende Kraftgedanke entbehrt noch einer deutlichen Klärung, auch vermengt sich vielfach Altes und Neues. So empfanden überschauende Geister schließlich eine unerträgliche Verworrenheit, und zur dringendsten Forderung ward ihnen eine durchgreifende Klärung als die Grundbedingung eines selbständigen Neubaus. Eine solche Klärung ward in der Epoche vollzogen, welche von jenem Hauptstreben aus die Zeit der Aufklärung zu heißen pflegt, sie bringt wieder eine Uroffenbarung der Tatwelt, einen Versuch, den Menschen mit der Welt in eine sichere Verbindung zu bringen.

Zum Hauptträger des Lebens wird hier die Vernunft, eine geistige, aber unpersönliche Größe, sie entwickelt eine Tatwelt gegenüber dem Dasein und sucht dieses möglichst darin umzusetzen, auch enthält sie einen Antrieb und eine Weisung für die Anordnung aller Mannigfaltigkeit; so kann sie den Aufbau einer allumfassenden Wirklichkeit als eines Vernunftreiches unternehmen. So verstanden bedeutet die Vernunft nicht eine Eigenschaft des Menschen neben anderen, sondern sie ist es, die als überlegene Macht den Menschen beherrscht, ja ihn erst zum Menschen macht, die aber zugleich das All durchwaltet und damit den Menschen an einem Reich der Wahrheit teilnehmen läßt. Diese Vernunft entspricht der Gottheit der religiösen Überzeugung, auch sie erscheint als eine selbständige Weltmacht, aber sie kommt nicht an die Dinge als eine Offenbarung überlegener Höhe, sondern sie wirkt als ihr fester Grund und die sie belebende Kraft aus ihrem eignen Wesen heraus, ja sie bildet ihr tiefstes Wesen; ferner erstrebt sie nicht die Ausbildung eines persönlichen Verhältnisses von Lebenseinheit zu Lebenseinheit in Liebe und Glauben, sondern die Verwandlung der Welt in ein Begriffsgefüge, das alle Mannigfaltigkeit umspannt, jedem einzelnen seine Stelle zuweist und durch die ganze Ausbreitung hin den Gedanken des Ganzen gegenwärtig hält. Die seelische Verkörperung dieser Vernunft bildet das Denken, und zwar das erkennende Denken; es muß aber selbst eine besondere Art annehmen, um solcher Stellung fähig zu werden. Das tut es, indem es sich hier von der seelischen Lage des Menschen ablöst, bei sich selbst einen Sachgehalt entwickelt und damit zu volltätigem Schaffen wird, von solchem Sachgehalt aus bildet es fortlaufende Zusammenhänge, gewinnt es eine Gesetzlichkeit wie eine Triebkraft bei sich selbst, wird es eine souveräne Macht, die aus eignem Vermögen den Aufbau einer Wirklichkeit wagen kann. Seine Aufgabe wird nunmehr die, den ganzen Bereich, den es umspannt – und dieser Bereich ist unbegrenzt –, vollauf zu klären und damit zur eignen Vollendung zu führen, ihn wie der Einsicht so auch dem Vermögen des erkennenden Menschen zu unterwerfen, ja ihm zu eigen zu geben; es kann dies nicht, ohne mit dem Erfahrungsbefunde der Wirklichkeit hart zusammenzustoßen und ihn erheblich umzuwandeln. Daraus entsteht eine neue Art der Gedankenarbeit, freier und kühner als je zuvor, ein Ringen von Ganzem zu Ganzem, ein produktives, aus eignem Vermögen schaffendes Wirken. Die Arbeit scheidet sich in Vorerwägung und Ausführung, es gilt vor allem, den Weg zu ermitteln und in voraneilendem Entwurf die einzelnen Stufen zu überschauen, dann wird der verworrene Befund in einfachste Elemente zerlegt, diese untereinander zu fortlaufender Ordnung verkettet, schließlich das Ganze eines Systems erstrebt, das als wohlgegliedertes Gedankenreich alle Mannigfaltigkeit zu gemeinsamem Wirken verbindet und leitende Grundgedanken an jeder Stelle gegenwärtig hält. Alle Zufälligkeit der Individuen weicht hier einem durch die Sache bestimmten Verfahren, einer gemeinsamen Methode, ihr analytischer und systematischer Charakter unterscheidet das moderne Denken deutlich von aller früheren Leistung und verleiht ihm eine unvergleichlich größere Selbständigkeit, steigert es zu einer souveränen Macht. Mit seiner Erhebung der logischen Notwendigkeit über alle sinnliche Anschaulichkeit kann es wagen, mit dem naiven Weltbild zu brechen und ihm ein neues als das echte entgegenzusetzen, so daß wir nunmehr in zwei Welten zu leben haben, einer Gedankenwelt und einer sinnlichen Welt. So gestärkt kann das Denken nunmehr die Führung des Lebens übernehmen und dem Menschen eine eigentümliche Wirklichkeit zu vollem Besitz bereiten. Es tut das aber, indem es seine eignen Eigenschaften und Forderungen der ganzen Ausdehnung des Lebens auferlegt und sie ihnen gemäß gestaltet. Das ergibt in wichtigen Punkten tiefeingreifende Umwandlungen.

Das Denken bewegt sich in unsinnlichen Größen; so gibt es allem, was es ergreift, solche Größen zum Träger und versteht alles Sinnliche als ihre Erscheinung; das bewirkt ein Wachstum des Gedankengehalts und zugleich eine innere Befreiung, wie es namentlich das Gebiet der Religion und auch das des Rechts erfährt. Schien früher ein sinnlicher Faktor zur vollen Wirklichkeit eines Geschehens schlechterdings unentbehrlich, so genügt jetzt dazu das eigne Vermögen des Geisteslebens, und es kann dieses jetzt mit dem anderen nach seinem Belieben schalten. Zugleich werden mehr als je zuvor Ideen und Prinzipien zu lebenbewegenden Mächten, sie gehen voran und bahnen den Weg, sie erheben dabei den Anspruch, ihrer Art gemäß alle Wirklichkeit zu gestalten, sie senken sich im Verlauf der Geschichte immer tiefer in das Dasein ein und verwandeln es in ein Gedankenreich, ja in ein Reich der Vernunft. Wie ferner das Denken alle Subjektivität vertreibt und nur eine Notwendigkeit der Sache anerkennt, so verwandelt es alle Gebiete, die es ergreift, in selbständige Komplexe und läßt allein den Gehalt und die Triebkraft ihres Sachgehalts sie bewegen, in kräftiger Abwehr aller Einmischung kleinmenschlicher Affekte und Zwecke. Damit eine Emanzipation der einzelnen Lebensgebiete von der menschlichen Zuständlichkeit, ein Aufkommen und eine Wechselwirkung ausgedehnter Gedankenmassen, eine Erhebung des Lebens ins Weite und Große.

Das Denken gibt seine Wahrheiten als unabhängig von allen geschichtlichen Lagen mit ihrer Besonderheit, es entwickelt sie aus unmittelbarer Tätigkeit und fordert für sie eine absolute Geltung. So muß auch das von ihm beherrschte Leben eine solche Forderung stellen. Damit widerspricht es entschieden der bisherigen überwiegend von der Geschichte beherrschten Lebensführung, sowie der Autorität der geschichtlichen Tradition; was als wahr gelten soll, muß zeitüberlegen sein; »zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden« (Lessing). Die Ausführung dessen stößt mit dem Befunde des menschlichen Daseins aufs härteste zusammen. Scheint doch in diesen viel Vernunftloses, ja Vernunftwidriges eingeflossen und mit dem Vernunftgehalt bis zur Untrennbarkeit vermengt. So gilt es eine deutliche Scheidung: jener Befund wird zur Erweisung seines Rechtes vor den Richterstuhl der Vernunft geladen; was die Probe nicht besteht, wird rücksichtslos ausgetrieben, was aber sie besteht, gestärkt, fester zusammengeschlossen und zu erhöhter Wirkung gebracht. So eine durchgreifende Prüfung, Sichtung und Klärung des Kulturbesitzes der Menschheit, die bloße Tatsächlichkeit hört auf, ein Recht zu begründen, eine durchgreifende Rationalisierung des Daseins läßt eine »natürliche« (d. h. eine aus der Vernunft begründete) Religion, eine »natürliche« Moral, ein »natürliches« Recht, eine »natürliche« Erziehung entstehen; durchgängig wird viel Veraltetes ausgetrieben, mit überkommenem Wahn und Aberglauben gründlich aufgeräumt, namentlich aber zur Humanisierung des menschlichen Zusammenseins viel geleistet.

Das Denken in der Fassung der Aufklärung sucht die Wirklichkeit möglichst auf allgemeine Größen zu bringen, so wird auch dem von ihm beherrschten Leben das Allgemeine zum höchsten Wertbegriff und auch zur Norm für das Handeln. So wird es beim Menschen das Menschsein, welches einem jeden einen allen individuellen Unterschieden überlegenen Wert verleiht und zugleich zur Anerkennung einer wesentlichen Gleichheit führt; so wird es zur Forderung, das Handeln auf die Form der Allgemeinheit zu bringen, selbst in seinem inneren Gefüge erscheint es als ein logischer Schluß, als eine Anwendung eines allgemeinen Satzes auf den besonderen Fall, eine Überzeugung, die namentlich auf politischem Gebiet weitgehende Folgen gehabt hat und immer noch hat. Wie sich von der Vernunft aus durchgängig das Allgemeine in einen Wertbegriff verwandelt, so wird auch die logische Ordnung der Welt, ihre unverbrüchliche Gesetzlichkeit, eine Hauptzuflucht aus den Sorgen und Nöten des Lebens.

So erfolgt durchgängig eine große Wandlung, jene Rationalisierung macht das Leben wahrer und frischer, sie gibt dem Menschen mehr Macht über seine Umgebung wie auch über sich selbst, sie macht jenes in höherem Grade zu seinem eignen Leben. Mehr als je zuvor darf er sich als einen Herrn der Dinge fühlen. Unendlich viel ist hier geweckt, für unendlich viel das Auge geöffnet, unendlich vieles wird angreifbar, was früher unzugänglich schien. Eine Verbindung des Freiheits- und Machtgedankens gibt dabei dem Leben bei aller nüchternen Sachlichkeit eine nicht geringe persönliche Wärme.

Diese Lebensordnung erstreckt ihr Wirken auch in die einzelnen Lebensgebiete hinein, weist ihnen ihre Bedeutung zu und schreibt ihnen ihre Bahnen vor. Die unbestrittene Führung hat dabei die Wissenschaft, die Wissenschaft als aufhellende und weitertreibende Macht (scientia est potentia), als eine Verwandlung der Welt in ein logisches Gefüge; die intellektuelle Leistung bestimmt am meisten die Art wie die Bedeutung der einzelnen Gebiete. So wird die Religion vornehmlich zur Weltanschauung, zur Beruhigung über die Vernunft des Alls; sie ist aber dem Denken selbst unentbehrlich, um ihm einen Weltcharakter zu sichern und die menschliche Vernunft in einer universalen zu verankern. Die Moral, eine aus dem eignen Wesen des Menschen hervorgehende, auf klare Erkenntnis gegründete Moral, wird die Führerin des Lebens, und das wichtigste Hilfsmittel zur Hebung des Menschen wird die Erziehung, eine vornehmlich auf Steigerung klarer Einsicht bedachte Erziehung. Auch die Kunst erstrebt vornehmlich Klarheit und logische Gliederung, ein Verfallen ins Lehrhafte liegt ihr nahe, über eine Nebenrolle kommt sie nicht hinaus. Besonders soll das menschliche Zusammensein von der Vernunft durchleuchtet und ihren Forderungen unterworfen werden, die als allgemeingültig und zeitüberlegen erscheinen. – Alles miteinander ergibt einen Lebensstand, dessen logische Energie und Steigerung menschlichen Vermögens, dessen Austreibung aller Verworrenheit sich dauernd in die Geschichte der Menschheit eingegraben hat; auch wer der Aufklärung widerspricht, kann nicht umhin, ihre Wirkung anzuerkennen und sich mit ihr auseinanderzusetzen; sie behauptet in der Neuzeit eine überlegene Stellung im besonderen dadurch, daß sie allein eine zusammenhängende Wirklichkeit aufgebracht und in ihr der Menschheit das Bewußtsein eines festen Zusammenhanges mit dem Weltall gegeben hat.

Aber alle Anerkennung dessen läßt keinen Zweifel darüber, daß die Lebensbewegung die Neuzeit selbst über die hier abgesteckte Wirklichkeit mit starken Antrieben hinausgedrängt hat. Die Größe dieser Lebensordnung ist mit einer scharfen Begrenzung eng verbunden. Hier darf es nichts Unvermitteltes, nichts Unzerlegbares geben, hier gilt aller Mißstand als Folge einer Unwissenheit oder Irrung, hier ist kein Platz für ein Böses in der Seele des Menschen, noch auch für schwere Verwicklungen im Weltbestande, energischem Denken und zielbewußter Arbeit scheint sich alles ins Gute zu wenden; namentlich aber darf über den Weltcharakter der Vernunft, über die souveräne Stellung des erkennenden Denkens und sein produktives Vermögen nicht der mindeste Zweifel sein. Denn nur so verstanden kann es die Kluft zwischen der Welt und dem Menschen schließen und dem Leben einen vollgenügenden Inhalt gewähren. Das war ein froher und zuversichtlicher Anblick des Lebens; die Erfahrung hat gezeigt, daß die Dinge minder einfach liegen.

Angriffe kamen nicht bloß von älteren Lebensordnungen, die Neuzeit selbst führte bald auf neue Bahnen, die bei aller Verschiedenheit im Widerspruch gegen die Aufklärung zusammengingen. Zunächst erzeugte die Aufklärung selbst einen Strom, welcher dem Tatbestande der Erfahrung mehr Selbständigkeit gegen das Denken zuerkannte; enthielt dieser, vornehmlich in England mächtige Strom zunächst eine unausgeglichene Mischung von Rationalismus und Realismus, so schüttelte er im Positivismus eines Hume bald alles der Grundrichtung Fremde ab und stellte zugleich dem Absolutismus der Aufklärung einen Relativismus entgegen; diesem Gedankengange fiel aller innere Zusammenhang des Menschen mit dem All. Von innen her aber kam zunächst der Widerspruch vom Gefühl, das durch Rousseau eine Großmacht des gesamten Kulturlebens wurde; hier verlangte und erstritt die Unmittelbarkeit des seelischen Geschehens ein größeres Recht und die Anerkennung eines innigeren Zusammenhanges mit der Welt. Riß diese Wendung die Gemüter überwältigend mit sich fort, so griff in den Sachbestand am tiefsten die Kantische Leistung ein, indem sie das produktive Vermögen des Denkens als an besondere Bedingungen geknüpft erwies, welche die Gesamtstellung des Menschen zur Wirklichkeit unentschieden ließen; wohl erwies das erkennende Denken dabei ein großartiges Gewebe, aber über eine besondere Welt des Menschen führte es nicht hinaus. Demgegenüber drängte zu einem innigeren Verhältnis von Mensch und Welt eine künstlerische Bewegung, welche die antike Grundanschauung auf den modernen Boden verpflanzte und in Goethe ihre Höhe fand, hier zu wunderbar reicher Entfaltung eines reinen Menschentums. Am schroffsten und bewußtesten widersprach der Aufklärung die Romantik mit ihrem Zurückgehen auf die Unendlichkeit des Gefühls und ihrer Verfechtung einer individuellen Gestaltung des Lebens; in engem Zusammenhang mit ihr steht die Wendung zur geschichtlichen Denkart, welche durch die liebevolle Versenkung in die Mannigfaltigkeit der Zeiten einen unermeßlichen Tatbestand aufdeckt und das Leben auf eine breitere Grundlage stellt, zugleich aber der Anschauung den Vorrang vor aller begrifflichen Zergliederung, der Individualität vor allen allgemeinen Formen gibt. Über die Aufklärung weit hinaus fühlt sich endlich die deutsche spekulative Philosophie, indem sie ihre Stellung in einem Gesamtgeiste nimmt und aus seiner Bewegung die ganze Wirklichkeit zu entwickeln sucht, damit aber durchgängig die Maße ins Große, Weite, Übermenschliche verschiebt. Auf ihrer Höhe, der Hegelschen Philosophie, wird der Gegensatz von Rationalem und Historischem überwunden, da sich hier die Geschichte selbst in eine Selbstentfaltung der Vernunft verwandelt.

Das in allen diesen Bewegungen erwiesene Leben überschreitet so sehr die Maße der Aufklärung, daß diese leicht als volle Vergangenheit erscheinen kann. Das aber ist sie keineswegs. Sie behauptet eine Macht schon deshalb, weil keine der späteren Bewegungen eine volldurchgebildete Lebensordnung aufgebracht und dafür größere Kreise der Menschheit gewonnen hat; sie behauptet sie weiter, weil sie Züge und Forderungen enthält, die einmal belebt nicht wieder entschwinden können; sie behauptet sie endlich, weil die Zurückdrängung aus der Führung des geistigen Lebens ein Fortwirken in der Breite der Gesellschaft keineswegs verhindert hat. In Wahrheit übt die Aufklärung trotz aller Angriffe und Zurückweisungen noch immer eine große Macht, in besonderen Richtungen und für einzelne Lebensgebiete hat sie noch immer die Führung. So ist es z. B. eine Wirkung der Aufklärung, wenn eben heute gewisse Staatsformen, etwa die Demokratie, eine parlamentarische Regierung usw., unbekümmert um alle geschichtliche Erfahrung, für absolut gültig erklärt und jedem einzelnen Volk aufgedrängt werden; aus dem Geiste der Aufklärung kommt es ferner, wenn der heutige Monismus von einer neuen Natur- und Weltanschauung, also einer bloß intellektuellen Leistung, eine neue Epoche der Menschheit erwartet. Freilich beharrt bei allem solchen Fortwirken der Aufklärung bei den Menschen ihr Zurückbleiben hinter der weltgeschichtlichen Lage, sowie ihr heutiges Unvermögen, in der produktiven Weise der älteren Zeit die Kluft zwischen Mensch und Welt zu schließen und ihn damit über sein Sonderleben hinaus in ein Leben aus dem Ganzen zu heben.

Mit der Aufklärung ist freilich keineswegs über das Ganze der modernen Lebensbewegung mit ihrer Richtung auf das All und ihrer Betätigung des Menschen an ihm entschieden. Aber nicht nur empfinden wir jetzt stark die Unfertigkeit und vielfache Unausgeglichenheit dieser Bewegung, auch ihrem Grundzug widerspricht immer schroffer die eigne Erfahrung des Lebens. Aus einem frohen Lebensglauben war die Neuzeit entsprungen, das geistige Vermögen des Menschen schien keine Grenze zu kennen, moralische Verwicklungen wurden keineswegs geleugnet, aber sie störten nicht das Gesamtbild des Lebens. Nun sind sie zu mächtig hervorgebrochen, um sich weiter übersehen zu lassen, das aber nicht nur bei den Individuen, sondern auch bei den Völkern und beim Ganzen der Menschheit; am Menschenwesen ist uns so viel kleine, niedrige, unwahre Gesinnung entgegengetreten, daß uns aller Menschenglaube aufs gründlichste ausgetrieben ist, und daß das Heil auf den bloßen Menschen stellen uns jetzt wie ein Bauen auf flüchtigen Sand erscheint. So gewaltig sich ferner das Vermögen des Menschen nach außen in der technischen Bewältigung seiner Umgebung erweist, in so staunenswerter Weise jetzt die Naturkräfte menschlichen Zwecken unterworfen werden, nach innen sind starre Grenzen bemerklich geworden, wir scheinen an die Außenseite der Dinge gebannt und auch in der Seele selbst einer dunklen Natur unterworfen. Dazu steht uns deutlich vor Augen die Gleichgültigkeit des Weltgeschehens gegen das menschliche Wohl und Wehe, ein schroffer Riß scheint das Ganze der Wirklichkeit zu spalten, da was im eignen Kreise der Menschheit an geistigen Größen und Werten auf kommt, ohne Verbindung mit dem großen All und daher von ihm aus angesehen völlig verloren scheint; aus dem Kampf um des Einzelnen Seelenheil ist damit ein Kampf um das Ganze des menschlichen Geisteslebens, um eine Rettung der scheinbar verlassenen Menschheit geworden. Gegen die daraus erwachsenden Zweifel und Nöte gewährt die moderne Lebensbewegung keine genügende Wehr; von ihnen aus muß es scheinen, als greife sie nicht tief genug in den Grundstock des Lebens ein und setze sie eben den Gehalt schon voraus, den sie selbst erst hervorbringen wollte. Die moderne Welt erstrebte ein Freiheitssystem gegenüber dem Ordnungssystem des Mittelalters, von der Wendung zur Unabhängigkeit nach außen und zur Ursprünglichkeit des Innern erwartete sie volles Gelingen des Lebens. Aber bürgt die bloße Form der Unabhängigkeit und Ursprünglichkeit schon für seinen Vernunftgehalt, wird hier nicht vorausgesetzt, daß mit der Wendung dahin ein tiefergegründetes Leben durchbricht, daß also die Freiheit wohl eine unerläßliche Bedingung, nicht aber den schaffenden Grund des echten Lebens bildet? Durch derartige Zweifel geschwächt finden die geistigen Mächte nicht die Kraft, dem ungeheuren Anschwellen der sinnlichen Seite des Lebens genügend zu widerstehen, und es erklärt sich vollauf die schwankende, haltlose Lage der Menschheit, welche den Ausgangspunkt unserer Untersuchung bildete. Sie sei in keiner Weise unterschätzt und abgeschwächt, aber vergessen wir zugleich nicht, daß das Menschenleben und Menschenwesen nicht in die augenblickliche Lage aufgeht, daß wir uns nur von ihr zur Gesamtleistung der Geistesgeschichte zu wenden brauchen, um einen hoffnungsvolleren Anblick und festere Anhaltspunkte zu gewinnen.

Rückblick und Ausblick

Wir stehen am Ende unserer Durchwanderung der Geschichte, einer Durchwanderung, die vornehmlich das Verhältnis von Mensch und Welt im Auge hatte. Fragen wir nach dem Gesamtergebnis, so mag der erste Eindruck es wenig befriedigend finden, ja er mag dem Zweifel am Ganzen zunächst das Wort verleihen. »Was ist bei aller Bewegung an sicherem Gewinn herausgekommen? Zeigt nicht die heutige Unsicherheit, zeigt nicht der unbestreitbare Mangel einer gemeinsamen Beantwortung jener Frage und zugleich einer gemeinsamen Stellung zur Welt, daß alles Suchen nicht über das bloße Suchen hinausgeführt hat? Augenscheinlich haben wir Unmögliches gewagt und müssen uns bei einer Gesamtrechenschaft von dieser Unmöglichkeit überzeugen. Auch die nähere Betrachtung der einzelnen Versuche verstärkt solche Überzeugung. Schon die mehrfache Beantwortung der Hauptfrage zeigt, daß keine überlegene Notwendigkeit der Sache uns einem festen Ziele zutreibt; auch gehen die Antworten weit auseinander und widersprechen einander eben in den Hauptpunkten. Vor allem tun es die Fassungen des Grundverhältnisses des Menschen zur Welt, wie sie einerseits die antike und die moderne Lebensordnung, andererseits das Christentum bietet. Jene erwarten alles Gelingen des Lebens von einer engen Beziehung und einer unablässigen Befassung mit der Welt, das Christentum dagegen glaubt nur durch einen Bruch mit ihr der Seele Heil erringen zu können. Muß das nicht alles Streben grundverschieden gestalten und auch den entscheidenden Punkt der Wahrheitsbildung an weit abweichenden Stellen suchen lassen? Aber auch die Schätzung und Behandlung der Welt und die daraus erwachsende Gestalt des Lebens zeigt eine schroffe Kluft zwischen alter und neuer Art. Jener erscheint die Welt als ein geschlossenes und vollendetes Ganzes, dessen Anschauung reinstes Glück ergibt; hier gilt es nur den schon vorhandenen Grund zu erfassen und alles Einzelne im Ganzen zu sehen, um aller Fährnis überhoben zu sein; die Neuzeit dagegen betrachtet die Welt und zugleich den Menschen als im Fluß und Kampf befindlich; hier gilt es Macht zu erweisen, Kraft zu entwickeln, die vorgefundene Lage den Forderungen der Vernunft gemäß zu gestalten, der Fortschrittsgedanke reißt die Gemüter mit sich fort, die Bewegung, welche von den Alten in eine niedere Sphäre verwiesen war, wird nun zur Hauptfreude des Lebens. Wo findet unter solchen Widersprüchen das menschliche Streben Ziel und Halt? Bekundet eine so tiefgehende Spaltung nicht die Verfehltheit des Unternehmens, bildet sie nicht einen indirekten Beweis für den Positivismus mit seinem vollen Verzicht auf eine dem menschlichen Vorstellungskreis überlegene, ihn der Wirklichkeit innerlich verbindende Wahrheit?« So die Zweifel mit ihrer Berufung auf den ersten Eindruck. Aber so unbestreitbar dieser ist, die Zusammenhänge unserer Arbeit geben uns nicht nur Waffen gegen ihn, sie zwingen uns ihn zurückzuweisen. Vor allem sind jene Lebensordnungen nicht bloße Ansichten von der Welt, nicht menschliche Deutungen eines Tatbestandes, sondern sie sind Lebenseröffnungen und als solche Wirklichkeitsbildungen, Tatbestände, die sich unmöglich einfach wegwischen lassen. Oder ist das erhöhende und veredelnde Gestalten des Griechentums etwas, das nur klügelnde Theorie ausgeheckt, nicht etwas, das sich mit starken Zügen in das Menschenleben eingegraben hat? Und hat solches Gestalten nicht etwas zur vollen Ausprägung und Anerkennung gebracht, das, wenn auch verschieden deutlich, überall durch Welt und Leben geht, das wir nirgends entbehren können? Ist ferner die seelische Tiefe, das volle Selbständigwerden und der Selbstwert einer Innenwelt persönlichen Lebens mit seinem moralischen Ernst, wie das Christentum es erschloß, ein bloßes Raten und Deuten, ist es nicht eine überwältigende Tatsächlichkeit, die sich dem einzelnen Menschen verdunkeln, dem Leben der Menschheit aber nun und nimmer verloren gehen kann, die uns immer wieder zu sich zurückruft? Auch die Ursprünglichkeit des Lebens, seine Steigerungsfähigkeit, die eindringende und klärende Denkenergie, welche die Neuzeit aufgebracht hat, sind ein unentbehrliches Stück des menschlichen Lebens geworden, hinter allem anhängenden Irrtum wirkt auch hier ein unverlierbarer Wahrheitsgehalt. Wenn wir heute über das alles unsicher geworden sind, so liegt vermutlich die Schuld an uns selbst, sie liegt daran, daß wir in diesen Dingen kleinmütig geworden sind und nicht die Kraft zur Erhebung auf die Höhe finden, wo jene Tatsächlichkeit aus dem Nebel des Alltagsgetriebes emporsteigt; so müssen wir die Bewegung nur von außen betrachten und wie etwas Fremdes behandeln, so können wir uns nicht in sie versetzen, sie nicht als eine eigne Angelegenheit betreiben, nicht was in ihr vorgeht, mit der Klarheit und der Kraft einer Selbsterhaltung erleben. Der Verlauf unserer Arbeit hat gezeigt, daß aus dem bloßen Dasein heraus uns nie ein inneres Verhältnis zu den Dingen, ja zur eignen Seele zugehen kann, daß dort unser Denken an die Oberfläche gebannt bleibt und zum eignen Leben der Welt keinerlei Zugang findet. Aber er hat auch gezeigt, daß eine Befreiung von jener Bindung, daß eine Umkehrung des Lebens möglich ist, daß eine Tatwelt bei uns aufkommt, eine neue Art der Wirklichkeit einführt, ja diesen Begriff überhaupt erst vollauf rechtfertigt; denn das bloße Nebeneinander des Daseins mit seinen gegenseitigen Berührungen der Elemente bildet nur eine Vorstufe echter Wirklichkeit, ergibt höchstens eine halbe Wirklichkeit. Erst wo das Leben mittels jener Umkehrung ein Beisichselbstsein erlangt und in dieses alle Mannigfaltigkeit hineinzieht, kann echte Wirklichkeit entstehen; jede einzelne Leistung wird dann ihre Kraft durch die Zugehörigkeit zu jenem Beisichselbstsein zu erweisen haben. Alle jene Lebenseröffnungen aber, welche der Verlauf der Geschichte zeigte, sind Erweisungen einer Tatwelt, sind Zeugnisse dafür, daß eine solche auch beim Menschen in Wirkung sieht und seine eigne Welt werden kann. Auch erschienen durch alle Verschiedenheit der Lebensordnungen hindurch gemeinsame Züge. Überall erfolgte eine Losreißung vom Dasein und ward eine Auseinandersetzung mit ihm unternommen, überall erschien ein dem Menschen überlegenes Leben mit einem neuen Standort, überall erfolgte eine eigentümliche Durchbildung des gesamten Lebensbereiches und die Ausprägung eines durchgehenden Charakters; alle diese Tatsachen wirken freilich nicht mit sinnlicher Handgreiflichkeit zu uns, sondern es muß das Auge für sie erst gebildet werden; aber sie verschwinden nicht dadurch, daß besonderen Zeitlagen ihr geistiges Auge verschlossen ist, denn »wenn die Fledermaus bei Tage nicht sieht, so ist das nicht Schuld der Sonne« (indisches Wort). Wir müssen uns dem Irrtum entwinden, als ließe sich ein Tatbestand geistiger Art von draußen her zuführen, als verlangte nicht seine Ergreifung eine besondere seelische Verfassung und geistige Anspannung; daß eine solche möglich ist, das hat die Erfahrung der Geschichte zur Genüge gezeigt; ob wir heute zu ihr gelangen, das ist eine andere Frage.

Aber mag der Glaube an ein Wirken ursprünglicher Lebenstiefen nicht dadurch ins Wanken geraten, daß einer besonderen Zeit ihre Mattheit den Weg zu diesen Tiefen versperrt, es bleibt die Verwicklung unerledigt, die das Nebeneinander und der Widerspruch verschiedener Lösungen bereitet. Wenn ein Schaffen der Tatwelt bei uns vorgeht, wie kann es sich so sehr spalten? Aber, so erwidern wir, haben wir Menschen das Recht zu fordern, daß das Leben der Tatwelt uns in Einem Zuge seinen ganzen Umfang und Inhalt erschließe, daß uns ein kühnes Aufraffen unmittelbar wie vom Schlaf ins Wachen in volle Wahrheit versetze? Kann nicht die Sache so liegen, daß die Tatwelt sich uns erst nach und nach eröffnet, daß sie sich erst allmählich mit einzelnen Seiten und Richtungen zu erkennen gibt, und wir erst durch eignes Erleben und Erfahren hindurch an den Punkt gelangen, wo weitere Erschließungen möglich werden? Das Auseinandergehen und der Streit erklärt sich dann einfach daraus, daß wir Menschen die besondere Eröffnung als die allumfassende nehmen und von ihr aus das Gesamtbild entwerfen, von ihr aus alle Größen und Güter gestalten und sie damit einseitig gestalten; so führen wir menschliche Zutat ein und geraten unvermeidlich in Irrung. Aber mag daraus in der menschlichen Gedankenwelt eine Mischung von Wahrheit und Irrung entstehen, der Wahrheitsgehalt des Lebens wird damit keineswegs aufgehoben, nur müssen wir ihn erst herausarbeiten, nur gilt es in Weiter- und Weiterstreben eine freiere Stellung zur Sache zu gewinnen und das Wahre von der Irrung zu scheiden. Daß der Mensch erst allmählich in das Reich der Tatwelt vordringt, und daß etwas, das zunächst seine volle Hingebung fand, ihm später zur Sache argen Zweifels werden kann, ja muß, das macht ihm die Arbeit schwer, aber das steigert auch deren Bedeutung und Wert, das verbindet uns weit enger der Lebensbewegung und macht ihren Gehalt weit mehr zu unserem eignen Besitz. Es erwächst daraus die Forderung, immer von neuem die Überlegenheit zu erringen, die eine solche Auseinandersetzung möglich macht; von dieser Forderung aus können wir auch die eigentümliche Verwicklung unserer Zeit verstehen und zugleich uns ihrem Druck entwinden. Daß wir uns heute unsicher fühlen, ist keineswegs bloß die Schuld des Menschen, der am bloßen Dasein klebt und nicht den Mut und die Kraft zur notwendigen Umkehrung findet, sondern es liegt hauptsächlich an der Bewegung des Lebens selbst, das frühere Lagen überholt hat und an einen Punkt gekommen ist, wo eine Weiterbildung notwendig wird, eine Weiterbildung aber, die noch mitten im Flusse ist und den Menschen zunächst mehr das Nein als das Ja empfinden läßt. Zum Unsicherwerden über die bisher gebotenen Lebensordnungen und ihr gegenseitiges Verhältnis wirkt zunächst die Weckung eines historischen Bewußtseins, denn dieses stellt uns die Mannigfaltigkeit und die Verschiedenheit der einzelnen Gestaltungen so deutlich vor Augen, daß ein unmittelbares Überfließen zu uns damit verhindert wird; wir sehen zunächst weit mehr was uns scheidet als was uns verbindet. Als notwendig ergibt sich damit die Forderung, einen Standort zu gewinnen, der das eine gegen das andere abwägen und die unerläßliche Scheidung zwischen geistigem Gehalt und menschlicher Zutat vollziehen läßt. Nach welcher Richtung das zu geschehen hat, das zeigt die eigne Erfahrung der einzelnen Lebensordnungen deutlich genug. Wenn die einzelnen Lebensordnungen bei allem, was sie an geistiger Eröffnung brachten, eine Alleinherrschaft nicht zu behaupten vermochten, so wirkten dahin zwei eng verwandte Gründe zusammen: einmal nahm das Grunderlebnis, die geistige Umwälzung, das Gegenwärtigwerden eines schaffenden, den Gegensatz von Mensch und Welt überwindenden Lebens den Menschen nicht so völlig ein, um seine Seele ganz zu gewinnen und damit seiner Überzeugung eine ausschließliche Sicherheit zu geben; weiter aber zeigte sich, daß die von jenem Grunderlebnis aus bereitete Lebensordnung nicht den ganzen Bereich des geistigen Lebens umspannte, daß seine Weiterbewegung einen wachsenden Widerstand leistete und schließlich zur Durchbrechung des dargebotenen Rahmens führte. Jede der einzelnen Lebensordnungen trug in sich selbst Voraussetzungen, die sie selbst nicht erklärte, die vielmehr eine Einfügung in weitere Zusammenhänge forderten. Das Gestalten der antiken Lebensordnung, so sahen wir, konnte eine weltdurchdringende und welterhöhende Macht nur werden bei sicherer Erhebung über alles Dasein, bei vollem Selbständigwerden; diese Überlegenheit aber schöpfte es nicht aus sich selbst, sondern gewann sie nur als Entfaltung eines tragenden und beseelenden Lebens, das sich in ihr faßt und vollendet; das Bestehen eins solchen Lebens aber ward nicht genügend geklärt und gesichert. Die christliche Lebensordnung hat als beherrschenden Mittelpunkt das im tiefsten Sinne verstandene ethische Problem, das persönliche Verhältnis der einzelnen Lebenseinheit zur absoluten, des Menschen zu Gott, ihr Streben wird ganz und gar von der hier vorhandenen Verwicklung und dem Verlangen nach ihrer Lösung eingenommen. Das Bestehen solcher ethisch-persönlicher Lebenseinheiten und die Schätzung ihres Verhältnisses als des Kernes aller Wirklichkeit ist dabei die grundlegende Voraussetzung; daß aber diese Voraussetzung sich bestreiten läßt, bestreiten auch innerhalb des Geisteslebens, das zeigt die moderne Welt, die jener persönlichen Lebensführung eine unpersönliche entgegensetzt und jene damit erschüttert hat. In Wahrheit hat nichts so sehr die Antworten des Christentums der Menschheit unsicher gemacht als das weite Zurücktreten der Hauptfrage, der Frage des ethischen Standes und der ethischen Rettung der Menschheit. Nur wenn diese Frage wieder als die Hauptfrage anerkannt wird, kann das Christentum volles Gehör für seine Wahrheiten finden, kann es nicht bloß eine Zuflucht der einzelnen Seelen bilden, sondern die Führung des Geisteslebens übernehmen. Auch die Neuzeit, welche gern ihre Voraussetzungslosigkeit rühmt, weist bei näherer Prüfung über sich selbst hinaus. Ihr wird zum Kern des Lebens die Entfaltung der Macht an der Welt, der Macht, die sich in der Aufklärung näher als eine intellektuelle bestimmt. Aber es kann die Machtentfaltung das Leben nur erfüllen und befriedigen, wenn sich in ihr eine Selbstentfaltung vollzieht, wenn im Wachstum der Macht die Weiterbildung eines Beisichselbstseins erfolgt und sich damit der Erfolg nach außen auch nach innen wendet. Sonst wird in jener Entfaltung das Leben ausschließlich nach außen gekehrt, und die Tätigkeit beläßt hinter sich eine Leere der Seele, die schließlich auch zur Empfindung kommen und alle Machtentfaltung auch bei vollem äußeren Gelingen unzulänglich machen muß. Dies Sinken der Machtentfaltung zur bloßen Kraftsteigerung hat neuerdings schon den weitesten Umfang gewonnen und verschuldet zum guten Teil die heutige geistige Krise. Denn so entsteht eine Kultur, die als Arbeitskultur ihre großen Vorzüge und Verdienste hat, die aber zur Befestigung und Vertiefung des inneren Lebens überaus wenig leistet.

So kommen wir durchgängig zu dem Ergebnis, daß die geschichtlichen Lebensordnungen etwas hinter sich liegen lassen, was durch die Bewegung des Lebens selbst, nicht vom bloßen Beobachter her, zum Problem geworden ist. zu einem Problem, dessen Lösung zur Wiederbefestigung unseres Lebens schlechterdings notwendig ist. Wir haben bisher vornehmlich um besondere Gestaltungen des Lebens gekämpft, wir müssen uns nunmehr überzeugen, daß, so unerläßlich jenes ist, wir zunächst um das Leben selbst, um ein Leben wahrhaftiger Art, als um die notwendige Grundlage aller besonderen Gestaltung zu kämpfen haben; dieses Leben hätte die verschiedenen Lebensordnungen zu umfassen, aber es müßte dabei mehr sein als ein bloßer Raum, in dem jene zusammenträfen, denn das würde die Unterschiede und Gegensatze ohne alle Ausgleichung lassen. Notwendig ist vielmehr, daß von einem gemeinsamen Leben aus und für dieses Leben ein neuer Aufbau erfolgt, zu dem die verschiedenen Lebensordnungen beizutragen vermögen, den sie nach verschiedenen Seiten hin auszuführen haben. Dafür aber weist der Gesamtverlauf unserer Untersuchung einen Weg; zeigte er doch, daß es vor allem nicht dieses oder jenes vom Leben zu leisten, sondern echtes Leben überhaupt erst zu gewinnen gilt; das aber ist nur möglich durch die Wendung zu einem Beisichselbstsein des Lebens, zu einer Wesenserzeugung in ihm, die zugleich über die Leistungen hinaus die Bildung eines Selbst vollzieht, alle Mannigfaltigkeit mit einer Einheit beherrscht und durchdringt, durch alles Handeln hindurch etwas bei sich selber wird. Nur damit kann eine volle, in sich selbst gegründete Wirklichkeit entstehen, der sich die verschiedenen Lebensordnungen einfügen oder anschließen können, und der sie sich durch ein vordringendes Schaffen zu bewähren haben, das unter mehr oder minder erheblicher Umwandlung ihres geschichtlichen Befundes. Im besondern müßte die Gedankenwelt, die sie von sich aus entworfen haben, sich manche Veränderung gefallen lassen, sie könnte aber dafür ihren Wahrheitsgehalt um so reiner und unbestrittener entfalten. So namentlich bei der religiösen Lebensordnung. Wir sahen, welchen Widerstand die Weiterbewegung des Lebens der dogmatischen Fassung von dem über unsere Sünden erzürnten und erst durch das Opfer seines Sohnes zur Gnade gestimmten Gottes leistet, aber die Tatsache einer in das zerrissene und von überwiegender Selbstsucht beherrschte Menschenleben hineinwirkenden erlösenden und erhöhenden göttlichen Liebe wird dadurch keineswegs angefochten, sie bleibt die Grundbedingung alles geistigen Aufstiegs, ja der geistigen Selbsterhaltung der Menschheit. So tun durchgängig gründliche Scheidungen von Wesensgehalt und menschlicher Einkleidung not, aber sie bringen bei aller Mühe und Gefahr den Vorteil, uns zur Bewegung der Geschichte freier zu stellen und ihren Befund mehr in eigne Tat zu verwandeln, auch aus dem Verlauf der Zeit ein zeitüberlegenes Leben herauszuheben. Nur wenn so das Leben auf sich selbst, d. h. auf den Ausbau einer volltätigen Wirklichkeit im eignen Bereich gerichtet wird, kann es seinen Schwerpunkt in sich selber finden, kann es eine Unabhängigkeit von allem Fremden und Äußeren, ein volles Beisichselbstsein erreichen. Eine Bewegung dahin geht durch die ganze Geschichte. Die antike Ordnung band das Leben an eine gegebene Welt und verwandelte es dadurch zu sehr in eine, wenn auch veredelte Natur; das Christentum empfand das in der Moral als eine unerträgliche Schranke, es befreite davon, indem es eine übernatürliche Welt eröffnete und zugleich die freie Tat das Leben bestimmen ließ, aber jene Welt ward nicht aus dem Leben entwickelt, sondern erschien als ihm gegenüber vorhanden und ihm aus überlegener Höhe mitgeteilt, was unvermeidlich viel Zweifel hervorrief und auch manche Bindung erzeugte. Die Neuzeit vollzog eine große Weiterbildung dadurch, daß sie das Leben selbst zum Ausgangspunkt machte und von ihm aus den Aufbau der Wirklichkeit unternahm, nicht von der Welt zum Leben, sondern vom Leben zur Welt sich bewegte, aber sie faßte das Leben zu sehr als eine bloße Funktion und Leistung, zu wenig als Wesenserzeugung, sie gab ihm daher kein volles Beisichselbstsein und auch keine volle Selbständigkeit; so geriet sie in die Gefahr, es entweder doch wieder abhängig zu machen oder es in bloße Gedankenbilder zu verflüchtigen; damit geriet sie in die Zwickmühle von Naturalismus und Intellektualismus, die einander weder verdrängen noch auch vertragen konnten. Demnach ist ein Schritt darüber hinaus zu einem wesenschaffenden Leben unbedingt erforderlich, von ihm aber muß sich ein neuer Durchblick unseres gesamten Bereiches ergeben. Dieser soll uns gleich näher beschäftigen; zum Abschluß der geschichtlichen Betrachtung sei hier nur darauf hingewiesen, wie sich beim System der Wesenserzeugung die Überwindung der Kluft zwischen Mensch und Welt darstellt. Diese Überwindung wird hier in dem gesucht, daß mittels einer Umkehrung des Lebens eine Versetzung in volltätiges Schaffen erfolgen und dieses damit unmittelbar zu unserem Selbst werden kann; darin geht das Wunderbare vor, daß der Kern unseres Wesens in ein Gesamtleben aufgenommen wird, aber nicht darin verschwindet, sondern im Ganzen ein selbständiges Zentrum wird, eine Lebensenergie nach unserer Bedeutung dieses Wortes. Aus einem Naturwesen mit einzelnen geistigen Eigenschaften wird damit der Mensch ein Geisteswesen unter den Bedingungen der Natur. Er kann das aber nur, indem an seiner Stelle das Gesamtleben gegenwärtig wird und einen neuen Lebenskeim in ihm setzt, indem somit im Menschen selbst etwas über dem Menschen entsteht. So läßt sich in ihm auch etwas erleben, was über ihn hinaus reicht; die Teilnahme an einem schaffenden Leben macht es möglich, daß Kraft und Gegenstand nicht von außen her zusammenkommen, sondern sich aus einer Volltätigkeit entfalten und auch bei dem notwendigen Auseinandertreten dadurch fest zusammengehalten und sicher aufeinander bezogen werden. Das ist die Grundfunktion, die alle Hauptfunktionen der einzelnen Lebensordnungen trägt, die sie nur weiter ausführen, nur nach besonderen Richtungen wenden, von der sie sich aber nicht ablösen dürfen, ohne ihre eigne Sicherheit zu gefährden. Nur wenn so das schaffende Leben dem Menschen zu einer Eigenwelt wird unter Überwindung jener Kluft, nur von seinem Beisichselbstsein aus kann ein Inhalt des Lebens entstehen und damit der Durst nach Realität befriedigt werden, der unverkennbar die Gegenwart erfüllt. Wir sind der freischwebenden Allgemeinbegriffe gründlich satt geworden und empfinden schmerzlich die Schattenhaftigkeit des daraus erwachsenden Lebens, wir sehen deutlich die Gefahr, daß eine davon erfüllte Kultur ein bloßer Anhang des Lebens werde und mit der Kraft auch ihre Wahrheit verliere. Um dem zu entgehen, flüchten wir uns zur Außenwelt und hoffen von ihrer bunten Fülle eine Befriedigung jenes Verlangens nach vollem und echtem Leben, aber wir werden von da immer wieder auf uns selbst zurückgeworfen und müssen uns überzeugen, daß sich ein solches Leben nicht von draußen her aufnehmen, sondern nur von innen her aufbauen läßt. Daß sinnliche Handgreiflichkeit und Eindringlichkeit noch lange keinen Lebensgehalt ergibt, das prägt uns der Verlauf der modernen Kultur immer energischer ein. Nur in Überwindung des Gegensatzes der schattenhaften Geistigkeit des Intellektualismus und der sinnlich gefärbten des Naturalismus, nur in der Wendung zur Wesenserzeugung und Selbstbildung läßt sich jenes unabweisbare Verlangen nach einem Lebensinhalt, nach vollem und echtem Leben erfüllen.


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