Rudolf Eucken
Mensch und Welt
Rudolf Eucken

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Vorwort

Die folgenden Untersuchungen gehen von der Überzeugung aus, daß wir uns heute in einer geistigen Krise befinden, wie sie in solcher Tiefe und Weite die Menschheit noch niemals erlebt hat. Die alten Lebenszusammenhänge und mit ihnen die leitenden Ziele sind völlig erschüttert worden, und was als ihr Ersatz geboten wird, das genügt den geweckten Bedürfnissen bei weitem nicht, das ist meist von kläglicher Flachheit. Die Menschheit – nicht alle Einzelnen, wohl aber der Hauptzug des gemeinsamen Lebens – hat zuerst den Glauben an Gott verloren, dann den an eine der Welt innewohnende Vernunft, sie beginnt nun auch den an sich selbst und damit den letzten Halt zu verlieren; im Gesamtergebnis wäre damit das Leben einer völligen inneren Leere und Sinnlosigkeit ausgeliefert. Sich solcher Zerstörung aber wie einem unentrinnbaren Schicksal zu ergeben, dem widersteht schon die Erwägung, daß jene Auflösung selbst nicht ohne eine Hilfe positiver Kräfte möglich war. Denn es gibt keine erfolgreiche Verneinung, in der nicht irgendwelche, wenn auch zurückliegende Bejahung wirkt. Was im Leben der Gegenwart aber an Bejahung steckt, das bleibt einstweilen zerstreut, das faßt sich nicht zu einem Ganzen zusammen, das gewinnt daher weder eine ausgeprägte Gestalt noch eine genügende Stärke. Solche Lage treibt zu der Aufgabe, jenes Bejahende aufzusuchen und in eine Einheit zu fassen, was schwerlich ohne ein Überschreiten des Erfahrungsstandes, ohne ein Vordringen zu begründenden Kräften gelingen kann. Künstlich bereiten läßt sich nämlich jene Einheit nicht, sie muß irgendwie in uns angelegt sein, um unserem Leben eine Befestigung und eine Erhöhung bringen zu können. Solcher Aufgabe möchten nun nach besten Kräften auch die folgenden Untersuchungen dienen; sie können bei der waltenden Ungewißheit über das Ganze nicht einen fertigen Aufbau liefern, ein durchgebildetes System, sie haben sich zu bescheiden mit der Sicherung der Hauptrichtung des Suchens, mit der Ermittlung der Grundlagen des Baues, der Entwerfung der bestimmenden Umrisse; sie würden vollauf zufrieden sein, in dieser Richtung etwas zu bieten. Sie können dabei aber nur dem etwas sein, der mit ihnen die erschütternde Krise anerkennt und auch für sich selbst ein Problem darin findet; wer den gegenwärtigen Stand des Menschheitslebens, sei es befriedigt, sei es gelassen, hinnimmt, dem können sie nichts bedeuten, zu dem sprechen sie nicht. Aber sie sind überzeugt, daß nicht alle so leichtherzig jene Fragen von sich schieben, an denen die geistige Selbsterhaltung der Menschheit hängt.

Jena, im Juni 1918. Rudolf Eucken.


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