Rudolf Eucken
Mensch und Welt
Rudolf Eucken

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2. Die Überwindung niederer Stufen durch das schaffende Leben

Das schaffende Leben – man könnte es kurz das Urleben nennen – tritt nicht als eine besondere Art des Lebens auf, neben der gleichberechtigt andere Arten stünden, es gibt sich als den Kern und die Vollendung aller Wirklichkeit, es setzt damit andere Lebensformen zu niederen Stufen herab und muß auf ihrer Beherrschung bestehen. Solchen Anspruch rechtfertigen kann es nur durch eine tatsächliche Leistung, durch eine Durchbrechung der Schranken jener und durch Erweisung einer neuen Art, die nicht nur ein gewisses Mehr hinzufügt, sondern eine Umkehrung mit sich bringt. Diese Bewegung muß bei uns schon im Gange sein, bevor menschliche Tat einsetzt, aber für den Menschen kann sie volle Klarheit und Kraft erst durch ihre Aneignung, durch Versetzung des Selbst in sie erlangen; erst damit wird sich ihm in ein Ganzes zusammenfassen, was sich sonst in einzelne Züge zerstreut, erst damit kann eine positive Art erweisen, was sich zunächst als eine bloße Verneinung der niederen Stufe ausnimmt. Die Aneignung tritt hier nicht zur Bewegung nachträglich und nebensächlich hinzu, sondern sie ist selbst ein Stück der Bewegung und wirkt zu ihrer Steigerung; die Verwandlung in eigne Tat wirkt zugleich zu ihrer Bekräftigung und enthebt sie aufs gründlichste allem Zweifel.

Es hat aber solche Auseinandersetzung und Weiterbildung gegenüber drei Lebensstufen zu erfolgen, gegenüber der Natur, deren Gewebe weit auch in die Seele hineinreicht, gegenüber dem menschlichen Durchschnittsleben, gegenüber der Breite der Kultur; der Aufstieg wird dabei verschiedene Stufen durchlaufen, er durchbricht, wie sich zeigen wird, die Gebundenheit der Natur mit der Erweisung selbsttätigen Lebens, er vertreibt die Verworrenheit der Durchschnittslage mittels deutlicher Abhebung einer höheren Stufe, er bekämpft die übliche Zersplitterung der Kulturarbeit durch Anbahnung einer umfassenden Einheit. Die drei Stufen dieses Aufstiegs bilden aber Glieder einer durchgehenden Gesamtbewegung und verstärken sich in ihr gegenseitig.

a) Die Überwindung der Stufe der Natur

Die Naturstufe gibt die Wirklichkeit als ein bloßes und blindes Dasein, der einzelne Punkt ist hier ein bloßes Stück einer Gegebenheit und bleibt damit im Stande einer völligen Gebundenheit; diese Gebundenheit erscheint zunächst in dem dunklen Zwange der Selbsterhaltung, ferner in der völligen Bedingtheit alles Wirkens, endlich in der Begrenztheit durch die gegebene Lage; wir werden sehen, wie der Zug des Lebens Punkt für Punkt solche Gebundenheit durchbricht, wie er aber zugleich dem Menschen eine Aufgabe zuführt und durch ihre Lösung bei sich selber wächst.

a) Die Überwindung der blinden Tatsächlichkeit

Die Naturstufe gibt uns das Leben als ein Faktum, als einen Trieb, der aller Entscheidung vorangeht, wir haben es nicht gewählt, wir brauchen es nicht zu rechtfertigen; es ist hier aber nichts anderes als der Trieb zur Selbsterhaltung des einzelnen Punktes im Zusammensein der Elemente; das greift ins Seelische zurück, indem die Kraftentfaltung, die dabei entsteht, eine gewisse Lust mit sich bringt. Aber nicht wegen dieser Lust wird das Leben gewählt, sondern sie folgt dem überlegenen und von keiner Erwägung abhängigen Triebe nur nebenbei. So gewiß aber im Menschen ein Denken erwacht, das die verschiedenen Vorgänge überschaut und zusammenfaßt, Einsatz und Gewinn, Aufwand und Ertrag miteinander vergleicht, schließlich auch die Frage nach einem Sinn des Ganzen aufwirft, so gewiß verwehrt es dem Menschen eine willenlose Ergebung in jenen Lebenstrieb; es tut das um so mehr, je mehr der Fortgang der Kultur sowohl sein eignes Vermögen steigert als die Lebenserhaltung mühsamer macht; so viel Sorge und Arbeit, so viel Umstand und Verwicklung, und schließlich nichts anderes als die nackte Existenz. Von solcher Erfahrung aus kann jener an der bloßen Selbsterhaltung hangende Lebenstrieb als eine drückende Fessel, die Hingebung an ihn als gemein und niedrig befunden werden. Damit verwandelt sich das Leben aus einer Tatsache in ein Problem, es hat sich jetzt zu rechtfertigen, um unsere Kraft und Überzeugung zu gewinnen; dieses aber kann es nur durch die Aufweisung eines Wertes.

Schon die Frage danach enthält einen Bruch mit der bloßen Natur, aber sie versetzt die Menschheit zugleich in harte Zweifel und Kämpfe, sie treibt sie nach verschiedenen Richtungen auseinander. Im besonderen erscheint eine entgegengesetzte Stellung zu jenem Lebenstrieb: die einen halten ihn fest, wollen ihn aber veredeln und zugleich mehr in eigne Tat verwandeln, die anderen suchen ihn zu brechen und möglichst ganz auszurotten; dieses mehr der morgenländischen, jenes der abendländischen Denkart gemäß. Im besondern hat die Höhe des indischen Lebens mit der Verneinung jenes Lebenstriebes bittersten Ernst gemacht und in der radikalen Bekämpfung des »Durstes, der Macht hat über die Welt«, eine unbestreitbare Größe und Vornehmheit erwiesen. Der Westen dagegen hielt den Naturtrieb des Lebens fest, suchte dieses aber innerlich zu erhöhen und ihm damit einen Wert zu verleihen; dabei gingen die Wege weit auseinander und die Hauptepochen gaben eine grundverschiedene Antwort. Die Griechen suchten aus einer überlegenen Vernunft alle Mannigfaltigkeit durch ein ordnendes und abstufendes Wirken in ein Kunstwerk zu verwandeln und mit der dabei erfolgenden Gestaltung den ganzen Umkreis zu veredeln; die christliche Welt hob grundsätzlich in der Richtung auf die Moral über die bloße Natur hinaus, erklärte alle Leistung dieser als unzulänglich und gab ihr einen Wert erst von der höheren Stufe aus; die Neuzeit endlich suchte in der Richtung das Leben der Naturstufe zu entwinden, daß sie es von der Enge jener befreite und zu unbegrenzter Kraftentfaltung aufrief. Wie sehr alle diese Versuche den Lebensstand verändert und mit der Leistung zugleich ihr gutes Recht erwiesen haben, das steht allen deutlich vor Augen; sie alle zusammen bekunden unwidersprechlich eine Bewegung des Lebens über die bloße Natur hinaus. Aber diese Bewegung gelangt zu keinem Abschluß, solange sie in der geschilderten Weise auseinandergeht. Das schon deshalb nicht, weil sie die Menschheit in verschiedene Gruppen zerfallen läßt, die das volle Verständnis füreinander zu verlieren drohen. Denn bei der fundamentalen Art des Problems muß die Verschiedenheit seiner Beantwortung grundverschiedene Bilder und Ziele vom Ganzen des Lebens ergeben. Ferner aber auch deshalb nicht, weil die Antworten der Geschichte das Problem eines naturüberlegenen, auf eigne Entscheidung gegründeten Lebens mehr von einzelnen Seiten her als im Ganzen ergreifen und lösen, weil sie im besondern keine volle Ausgleichung zwischen dem Ja und dem Nein erreichen und zugleich die Erhebung über die Natur nicht voll zum Abschluß bringen. Die Verneinung verwandelt auf ihrer Höhe das Leben möglichst in eine Kontemplation, in weiche, freischwebende, alle Härte auflösende Stimmung, aber nicht nur hat sie es schwer damit das ganze Leben auszufüllen und seinen mannigfachen Aufgaben gerecht zu werden, es besteht auch die Gefahr, daß die Verneinung des Lebens wie jede Verneinung letzthin auf das ihr zugrunde liegende Ja bezogen wird und von ihm abhängig bleibt, daß so der niedrige Lebensdurst auch in der Zurückdrängung fortwirkt und immer von neuem hervorzubrechen und die Seele fortzureißen droht. Gefahren anderer Art enthält die abendländische Bejahung des Lebens, jede einzelne in besonderer Weise. Die griechische Bejahung bleibt mit ihrer Behandlung und Gestaltung der Natur noch zu sehr an diese gebunden, ihre Veredlung durch die Vernunft ergibt noch keine volle Befreiung, im letzten Grunde beharrt das Schicksal einer unaufgehellten Tatsächlichkeit. Diesen Erdenrest wollte das Christentum völlig vertreiben, und es hat das in Wahrheit im Gebiet der Moral getan, es hat hier das Leben von allem Schicksal befreit und ganz auf sich selbst gestellt. Aber die heroische Größe dieser Konzentration enthielt auch die Gefahr einer Verengung des Lebens, die Befreiung hat nicht genügend seinen ganzen Umfang ergriffen; so fehlte dieser auch oft eine sichere Begründung in einem Ganzen des Lebens, und die bloße Natur drang damit entstellend wohl auch in die ethische Sphäre ein. Die Neuzeit aber ist bei ihrem Aufruf des Lebens zu unbegrenzter Kraftentfaltung in großer Gefahr, die Überlegenheit gegen die Natur nicht genügend zu wahren und den Naturtrieb nicht sowohl zu überwinden als nur noch weiter zu steigern, damit aber ihrer eignen Absicht entgegenzuwirken.

Alles zusammen weist eben auch mit seinen Mißständen und Gefahren darauf hin, daß durch alle Verschiedenheit der einzelnen Seiten oder Richtungen eine Gesamtbewegung am Werke ist, daß der Mensch diese aber auch als Ganzes ergreifen muß, um jenen Gefahren gewachsen zu sein. So hat er das Ganze eines neuen Lebens herauszuarbeiten und darin sein wahres Selbst zu suchen; dem Selbst der Natur ist schließlich nur ein Selbst des Geistes gewachsen. Von solcher Grundlage aus ist eine Lebensgestaltung zu erstreben, welche weit genug ist, um jene verschiedenen Antworten als Seiten eines gemeinsamen Strebens zu verstehen, und gehaltvoll genug, um sie damit charakterhaft zu gestalten. So finden wir die Menschheit hier inmitten einer Bewegung, die um so dringlicher wird, je mehr das geschärfte historische Bewußtsein der Gegenwart uns die Eigentümlichkeit und zugleich die Grenzen der einzelnen Leistungen klar und deutlich vor Augen stellt; wir dürfen nicht zwischen den Gegensätzen stehenbleiben, wir müssen uns über sie erheben und sie im Umfassen zugleich umzubilden versuchen. Dazu bedarf es aber vor allem eines Vordringens des Lebens selbst, in das wir gehoben werden müssen, dem wir aber einen offnen und willigen Sinn entgegenzubringen haben. Verwandelt sich uns damit das Leben in eine Aufgabe bedeutendster Art, so werde zugleich im Auge behalten, daß es nicht aufhört ein harter Kampf zu sein. Denn der Naturtrieb mit seiner blinden Tatsächlichkeit verschwindet nicht mit der Erhebung über ihn, er behauptet sich und versucht immer wieder Raum zu gewinnen, er ist immer von neuem in seine Grenzen zu verweisen. Da er sich aber zugleich als etwas behauptet, das die menschliche Lage nicht wohl entbehren kann, so gewahren wir schon hier, was uns noch oft begegnen wird, daß das Leben beim Menschen an etwas gebunden bleibt, über das seine innerste Art es mit zwingender Gewalt hinaustreibt. So kann es nun und nimmer zu einem fertigen Abschluß gelangen.

b) Die Überwindung der Verkettung

Ähnliche Erscheinungen wie beim Grundtriebe des Lebens finden sich bei der näheren Gestaltung des Geschehens: auch hier herrscht zunächst das Naturgefüge, aber es entsteht eine Bewegung dagegen und ruft viel Leben hervor, ein Leben aber, das erst noch im Werden ist, und das einer Weiterführung bedarf, um einen festen Halt und ein deutliches Ziel zu gewinnen; so sieht der Mensch sich auch hier inmitten eines Stromes, der ihn aufnehmen und tragen muß, zu dessen Fortgang aber er selbsttätig mitzuwirken hat.

Auch das menschliche Seelenleben verläuft zunächst nach Art der Naturstufe in strenger Verkettung des Geschehens, das einzelne Element empfängt seine Beschaffenheit aus dem Zusammensein der Elemente, und sein Wirken bemißt sich nach der Art dessen, wovon es berührt wird; Vererbung und soziale Umgebung stellen uns, so scheint es, deutlich vor Augen, daß der Mensch bis in die Grundfasern seiner Seele hinein nichts anderes als ein Erzeugnis dessen ist, was vor ihm und was um ihn liegt. Für ein eigenes Wählen und Entscheiden ist hier ebensowenig Raum wie für irgendwelche Ursprünglichkeit; als Wahnbilder müssen alle Größen verschwinden, die etwas der Art verlangen, so Verantwortlichkeit und Gewissen, Gut und Böse, ja das Handeln selbst, sofern es sich vom bloßen Geschehen abheben möchte. Das bedeutet die gründlichste Umwandlung des üblichen Bildes vom Menschenleben.

Aber es liegen genügende Zeugnisse dafür vor, daß unser Leben die hier behauptete Schranke durchbricht und das Streben auf neue Bahnen führt. Schon daß der Gedanke einer Freiheit und Ursprünglichkeit überhaupt entstehen konnte, und daß er die Bindung der Natur als einen drückenden Zwang empfinden läßt, erweist die Regung eines neuen Lebens. Und jener Gedanke bleibt kein flüchtiger Einfall ohne Folge, er gewinnt einen Zauberklang für den Menschen, ja er vermag ihn zu höchster Anspannung seiner Kraft, auch zu schwersten Opfern in Heldentum und Martyrium zu begeistern. Alle Lebensverhältnisse sind durchtränkt von einem Verlangen nach Freiheit, sie finden die eigne Höhe erst in Befriedigung dieses Verlangens. So zunächst das Verhältnis von Mensch zu Mensch. Freiheit finden wir zunächst in der Austreibung aller Sklaverei, als eines des Menschen unwürdigen Standes; Freiheit fordern wir auf politischem Gebiet gegenüber allem bloßen Untertanentum mit seiner Forderung eines unbedingten Gehorsams, seiner Herabsetzung der Bürger zu völliger Passivität; Freiheit fordern wir mit besonderer Wärme als Unabhängigkeit unseres Volkes und Staates und finden da, wo sie fehlt, alles Leben entwertet. Das Freiheitsverlangen und die Freiheitsbewegung reicht aber auch in unser Verhältnis zum All und in unsere geistige Arbeit hinein. Das Leben und Schaffen des Einzelnen erlangt keine Größe, ja keine Seele, solange es sich lediglich einem vorhandenen Weltgefüge anschmiegt und auf eine Leistung dafür beschränkt, solange es sich nicht zur Selbständigkeit gegenüber dem Ganzen der Welt emporrafft, einen Zusammenstoß damit nicht scheut und sich in ihm nicht siegreich behauptet. Alle Höhen des Schaffens enthalten eine solche souveräne Selbstbehauptung des Individuums gegen die es umschnürende und unterdrückende Welt, eine Entwerfung neuer Möglichkeiten und ihre Durchsetzung gegen den überkommenen Weltstand; so der Reformator, der schaffende Künstler, der leitende Denker. Ja nicht nur das Geistesleben des Einzelnen, sondern das geistige Wirken und Schaffen als Ganzes fordert zu seinem Gelingen eine Erhebung über die vorhandene Welt und eine Befreiung von ihrer Verkettung, vornehmlich aber von dem höchst unzulänglichen Stande des menschlichen Daseins. Eine solche Befreiung vollzieht die wissenschaftliche Arbeit, indem sie die Wahrheit ihrer Lehren nicht davon abhängig macht, wie weit sie von den Menschen anerkannt werden, sondern ihnen ein selbständiges Gelten jenen gegenüber zuschreibt; ohne ein Unabhängigwerden vom menschlichen Stande und ein Vordringen des Lebens darüber hinaus gibt es keine große Kunst und kein wahrhaftiges Erkennen; die Phantasie mit ihrer freien Kombination hat dabei die Wege zu bahnen, aber sie würde zu einem leeren Spiele sinken, wäre sie nicht ein Werkzeug des Lebens, das durch sie hindurch einen Aufstieg vollzieht. Vor allem aber bedeutet auf dem Gebiete der Moral eine Anpassung an die gegebene Welt, eine Bemessung der Forderung nach ihrem Stande, nicht weniger als eine Zerstörung. »In Ansehung der sittlichen Gefahr ist die Erfahrung (leider!) die Mutter des Scheins, und es ist höchst verwerflich, die Gesetze über das, was ich tun soll, von demjenigen herzunehmen oder dadurch einschränken zu wollen, was getan wird« (Kant). So nach allen Seiten hin ein starkes Befreiung streben, durchgängig die Überzeugung, das erst in seinem Gelingen die Höhe des Lebens erreicht wird, bei aller Hemmung und aller Unzulänglichkeit dieses Strebens viel zu viel Taterweis, als daß sich das Ganze als bloße Einbildung wegdeuten ließe.

Wie ist nun diese Bewegung zur Freiheit zu verstehen, was geht im Grunde dabei vor? Von der Naturverkettung aus und auch vom bloßen Menschen her konnte sie unmöglich entspringen; eine so völlige Umgestaltung des Geschehens konnte unmöglich am einzelnen Punkte entstehen, sie ward hier nur möglich auf Grund der Eröffnung eines Ganzen des Lebens, als die Erweisung einer Welt der Freiheit und Ursprünglichkeit; dabei hätte schwerlich die Befreiung eine so hinreißende Macht über den Menschen erlangt, hätte er nicht in ihr ein höheres, ein gehalt- und wertvolleres Leben zu finden gehofft; der Glaube an ein solches neues Leben durchdringt alle Bewegung zur Freiheit. Rechtfertigen aber lässt er sich nur bei Anerkennung und Aneignung eines überlegenen Lebens, das zugleich in uns und über uns wirkt und damit unser Wesen umgestaltet. Nur aus der Kraft eines solchen können sich die einzelnen Züge in eine Welt der Freiheit zusammenfassen, nur damit kann die Freiheit sich von der Verneinung zur Bejahung wenden und dem Leben zu einem bis dahin vermißten. Inhalt verhelfen; nur als Gefäß und Bedingung eines neuen Lebens, das nicht in bloße Beziehungen aufgeht, sondern ein, Wesen im Wirken erzeugt und im Schaffen einer Welt sich selbst einen Wert verleiht, kann der Freiheitsgedanke die hervorragende Stellung begründen und behaupten, welche die Überzeugung aufstrebender Zeiten ihm zuweist. Eine Freiheit ohne Fundierung wird leicht zu einem leeren Gerede, die Fundierung aber kann ihr nur das Leben selber gewähren.

Diese Stellung und diesen Zusammenhang der Freiheit anerkennen heißt aber zugleich in ihr ein hohes Ziel erkennen; auch drängt es zur Prüfung und Sichtung dessen, was sich im Menschenleben als Freiheit gibt. Manches stellt sich dabei, wenn nicht als ein bloßer Schein, so doch als ungenügend heraus. Abweisen muss eine volle Anerkennung der Freiheit jeden Versuch, diese in besonderen Erscheinungen festzuhalten, sie aber im Ganzen zu leugnen, wie es z. B. geschieht, wenn bei manchen Formen des Liberalismus eine Begeisterung für Freiheit auf praktisch politischem Gebiet mit der Verwandlung des Alls in einen bloßen Mechanismus zusammengeht; abweisen muss sie auch die Neigung, auf die Elemente der gegebenen Welt ohne eine gründliche Umwandlung die Ansprüche der Freiheit zu übertragen und damit leicht nur den bloßen Naturtrieb zu verstärken; abweisen muß sie namentlich einen Abschluß bei der bloßen Form der Freiheit, statt über sie hinaus zu einem entsprechenden Inhalt fortzuschreiten. Diese letzte Irrung droht im besondern dem modernen Leben. Wie dieses Leben vornehmlich aus der Erweckung und Verstärkung des Individuums hervorging, so hat es die Freiheit über alle anderen Werte hinausgehoben und sie als die unterscheidende Haupteigenschaft der Vernunft erklärt, in deutlichem Gegensatz zur älteren Denkart, die vielmehr das Vermögen, in allgemeinen Begriffen zu denken und das Einzelgeschehen einem überlegenen Ganzen einzufügen, als jene Haupteigenschaft ansah. Wenn aber damit die nähere Fassung der Freiheit der modernen Welt zum Hauptproblem wurde, so gingen dabei nicht nur die leitenden Denker, sondern auch die ganzen Völker weit auseinander, jedes schuf sich seinen eignen Freiheitsbegriff und erklärte nach seinem Maße leicht als unzulänglich, was den anderen als Freiheit galt. Nichts bewegt die modernen Völker innerlich mehr als diese Zerwerfung beim Freiheitsbegriff. Alle hier versuchten Fassungen der Freiheit unterliegen aber der gemeinsamen Gefahr, die bloße Form für das Ganze zu geben und über der Sorge um sie die um einen begründenden Inhalt zu vergessen. Leicht erschien dann unser Leben als fertiger und mit weniger Verwicklung behaftet, als es in Wahrheit ist; auch mußte jene ausschließliche Sorge um die Form es einseitig gestalten und seine Höhe zu sehr in eine bloße Befolgung gewisser Gesetze verwandeln.

So drängt, was im Grunde der Freiheitsbewegung vorgeht, notwendig über den Punkt hinaus, wo der Durchschnitt abzuschließen pflegt; im besondern kann jene nicht als ein Werk des bloßen Menschen gelten, auch muß sie als ein Glied eines weiteren Zusammenhanges verstanden werden und daraus eine Tiefe empfangen.

Es hat bei uns aber die Freiheit nicht nur einen Kampf um ihre nähere Durchbildung, sondern auch einen solchen um ihre eigene Existenz immer von neuem zu führen. Denn mit der Erhebung über den Bereich der Gebundenheit verschwindet dieser keineswegs, und verliert die Bindung keineswegs alle Macht, sie beharrt und ist immer am Werke, das Reich der Freiheit zu sich herabzuziehen und in einen bloßen Mechanismus zu verwandeln. Ja, der von hier geübte Widerstand wird um so stärker empfunden, je mehr bei uns an Freiheit geweckt ist; eben ihr Wachstum lässt in der vorhandenen Lage viel schwere Hemmung, viel dunkles Schicksal erkennen, Schicksal im Leben des Einzelnen, Schicksal in dem Dörflern, Schicksal auch in dem der ganzen Menschheit. Aber wenn der daraus erwachsende Zusammenstoß von Freiheit und Schicksal mit seinem unsicheren Ausgang unserem Leben einen tiefen Ernst, oft auch einen tragischen Charakter gibt, so gibt er ihm zugleich als die Begegnung zweier Welten in uns samt dem Aufruf zu Eigner Entscheidung über sie eine unvergleichliche Grüße; mit Recht sagt daher Schelling: »Ohne den Widerspruch von Notwendigkeit und Freiheit würde nicht Philosophie allein, sondern jedes höhere Wollen des Geistes in den Tod versinken.«

Jedenfalls hebt der Kampf mit seiner gewaltigen Spannung über die bloße Natur hinaus und erweist in uns das Wirken einer Welt ursprünglichen Lebens, an dessen Weiterbildung in unserem Bereich wir mitzuwirken berufen sind.

c) Die Überwindung der Begrenzung

Soweit unser Leben und Tun der Naturstufe angehört, hat es festgegebene Grenzen, die sich ein wenig verschieben und erweitern, nicht aber wesentlich verändern oder gar aufheben lassen; diese Grenzen sind aber zwiefacher Art, sie erstrecken sich nach außen wie nach innen, in die Breite wie in die Tiefe, d. h. sie betreffen einmal den Umfang des Geschehens, das Verhältnis zu dem, was um uns liegt, sie betreffen weiter aber auch das innere Gefüge, das Verhältnis zu uns selbst, indem die Tätigkeit einen ihr vorangehenden Stand voraussetzt und fremde Bestandteile in sich trägt; so ist sie von außen und innen eingeschlossen, quantitativ und qualitativ, wie man sagen könnte, begrenzt. Nun zeigt aber der Anblick der Geschichte, daß das Menschenleben diese Begrenzung nicht wie ein Schicksal wehrlos hinnimmt, sondern daß es sich ihr mit heroischer Kraft entwindet und damit eine ungeheure Bewegung hervorruft, zugleich aber auch unsägliche Verwicklung erzeugt; es stellt sich damit als von einem starken Widerspruch durchzogen dar, aber der Widerspruch selbst mit seiner aufrüttelnden Kraft bekundet deutlich den Aufstieg eines neuen, dem bloßen Menschen überlegenen Lebens.

Jene Bewegung offenbart sich zunächst in der Richtung, daß der Mensch nichts außer seinem Lebenskreise duldet, nichts von seiner Tätigkeit unergriffen läßt, daß es ihn zwingend treibt, alles irgend Vorhandene an sich zu ziehen und in seine Tätigkeit aufzunehmen. So hat sich in Wahrheit der Lebenskreis des Menschen im Lauf der Geschichte immer weiter ausgedehnt, und zwar ebenso ins Große wie ins Kleine. Die treibende Kraft war dabei der Unendlichkeitsgedanke, der sich deutlich von dem der bloßen Endlosigkeit unterscheidet. Denn diese besagt nichts anderes, als daß sich zu einem gegebenen Stande immer weiteres hinzufügen läßt, damit wird aber die Grenze nicht sowohl aufgehoben als nur hinausgeschoben, es wird kein neuer Standort erreicht und kein starker Antrieb zur Umwandlung der gegebenen Lage geliefert. Diesem überwiegend negativen Begriff der Endlosigkeit haben die leitenden Denker der Aufklärung mit höchster Energie den Unendlichkeitsbegriff als eine positive Größe entgegengehalten. In ihm sahen oder suchten sie eine Erhebung über die gesamte Sphäre der gegenseitigen Begrenzung einzelner Elemente, eine Versetzung in ein ihr überlegenes und sie tragendes Ganzes des Lebens, eine Totalität, die nichts außer sich lässt. Eine derartige Unendlichkeit musste allerdings das Leben in eine starke Bewegung versetzen, indem ihr Zusammentreffen mit der naturgegebenen Endlichkeit des Menschenwesens einen unerträglichen Widerspruch hervorrief und höchste Kraft für seine Überwindung verlangte. So bezeichnet auf dem Boden der Geschichte das deutliche Hervortreten des Unendlichkeitsstrebens den Beginn einer neuen Epoche des Lebens. Jener Gedanke dürfte dem Abendlande vom Morgenlande, dieser Wiege der Religionen, zugeführt sein, eine wissenschaftliche Begründung hat er wohl zuerst durch Platin erhalten, zu voller Entfaltung aber hat ihn erst die Neuzeit gebracht und dabei selbst eine eigentümliche Art ausgebildet. Denn der für sie besonders bezeichnende Fortschrittsgedanke ist aus dem Zusammenstoß von unendlicher Forderung und begrenzter Leistung entsprungen und hat daraus die hinreißende Macht geschöpft, mit der er den modernen Menschen ergriff. Gleich der die moderne Bewegung einleitende Denker Nikolaus von Cues betrachtet das unbegrenzte Fortschritts streben als die höchste Auszeichnung des Menschen. »Immer mehr und mehr erkennen zu können ohne Ende, das ist das Abbild der ewigen Weisheit. Immer möchte der Mensch, was er erkennt, mehr erkennen, und was er liebt, mehr lieben, und die ganze Welt genügt ihm nicht, weil sie sein Erkenntnis verlangen nicht stillt«; »wie ein Feuer, das aus dem Kiesel erweckt ist, kann der Geist durch das Licht, das aus ihm strahlt, ohne alle Grenze wachsen«. Auch das gehört hierher, das der älteren Denkart als die Haupteigenschaft des göttlichen Wesens die Ewigkeit, der neueren dagegen die Unendlichkeit galt. So die Rastlosigkeit und die innere Unruhe, aber auch die Kraftsteigerung und das unablässige Vordringen der modernen Menschheit, ihre Unfertigkeit, aber auch Offenheit im Gegensatz zur geschlossenen Art des klassischen Altertums.

Dieser Zug ins Weite ist aber nur die eine Seite des Unendlichkeitsstrebens, umwälzender noch wirkt das Verlangen, alle innere Begrenzung der Tätigkeit zu überwinden, dieses aber dadurch, dass weder eine von ihr unabhängige Voraussetzung, noch etwas Fremdes und Dunkles innerhalb ihrer geduldet wird, sondern das die Tätigkeit, zu vollem bei sich selbst sein erhoben, sich selbst ihre Grundlage gibt und alles Fremde austreibt, das sie nicht in Eigenleben verwandeln kann. Hier entspringt der Begriff des Absoluten, und von hier aus erklärt sich die gewaltige Macht, welche er über die Menschheit gewann, hier entspringt letzthin auch der Begriff des geistigen Schaffens. Ein solches Schaffen ist ein der Religion unentbehrlicher Gedanke, mit dem sie steht und fällt; die Kulturarbeit hält ihn mehr im Hintergründe, aber auch sie nimmt an ihm teil. Schon der allgemeinste Begriff der Kultur enthält ein Überschreiten der naturgegebenen Grenzen, eine Verwandlung des Daseins in Selbsttätigkeit; jede Epoche aber hat diesem Streben eine eigentümliche Richtung gegeben und darin vornehmlich ihren unterscheidenden Charakter ausgeprägt. So fern der griechischen Art eine Unendlichkeit in quantitativem Sinne lag, insofern vollzog auch sie eine Überwindung der inneren Begrenzung und eine Verwandlung in Selbsttätigkeit, als sie durch eine ordnende Vernunft das überkommene Chaos in einen Kosmos verwandelte und das Verhältnis der einzelnen Teile aus einem selbsterrungenen Zusammenhange gestaltete. Tiefer noch griff die Bewegung gegen eine innere Begrenzung ein, welche das Christentum in der Richtung der Moral vollzog. Denn hier wird alles als unzulänglich verworfen, was der, wenn auch noch so veredelten Natur entstammt, kein sittliches Handeln gilt als echt, das nicht aus freier Entscheidung und schöpferischem Wollen hervorgeht. Der Neuzeit aber ist es das Grundverhältnis des Menschen zur Welt, das nicht als naturgegeben und damit als selbstverständlich hingenommen wird, sondern das sich aus der eigenen Arbeit des Geistes bestimmen soll. So tritt das moderne Erkenntnisstreben hinter sich selbst zurück und sucht sich vor sich selbst zu rechtfertigen; so erstrebt ein Leibniz das Warum des Warum, das Axiom der Axiome, so bildet ein Kant eine kritische Denkweise aus, die eine wesentliche Steigerung des Wahrheitsgehalts nur ergeben kann, wenn sie nicht eine neben der Arbeit befindliche Reflexion, sondern eine Zurückverlegung der Arbeit selbst, ein Durchdringen zu ursprünglichen Tiefen ist. Als bloß subjektive Erörterung wäre sie nie über Vorfragen hinaus an die Sache selbst gelangt, hätte sie nicht den Gehalt des Lebens weitergebildet. Über die einzelnen Systeme hinaus aber hat nur kraft jener gesteigerten Selbsttätigkeit das Denken seine führende Stellung im modernen Leben erlangt, und hat es der Menschheit neue Bahnen eröffnet.

So läßt sich der geistige Ertrag der gesamten Menschengeschichte als eine wachsende Verwandlung des Lebens in Selbsttätigkeit verstehen. Aber zur Selbsttätigkeit gehört notwendig ein Selbst, und dieses kann nicht dem bloßen Menschen, es muß dem Leben selbst angehören. Die ganze Bewegung wäre ein verlornes Unterfangen, ein unnützes Suchen, eine leere Aufregung, dränge nicht in ihr das Leben selbst zu größerer Ursprünglichkeit vor, und erschlösse es damit nicht mehr Gehalt und mehr durchwaltende Seele. Alles menschliche Streben in dieser Richtung fällt aus der Wahrheit heraus, wenn es nicht Anschluß an die eigne Bewegung des Lebens findet und daraus zu schöpfen vermag. Über den bloßen Menschen geht diese Bewegung hinweg, nicht er sucht sie sich aus, sondern sie wird ihm auferlegt und zieht ihn überwältigend an sich, auch enthält sie viel zu viel Mühe und Arbeit, Gefahren und Schmerzen, um ihm als der Weg zum Glück im üblichen Sinne gelten zu dürfen; wohl gewährt sie ihm eine Größe und in ihr eine Freudigkeit, aber das doch nur, sofern er die bloße Punktualität des Seins hinter sich läßt und sich als ein Glied schaffenden Lebens versteht. Was vor solcher Wendung den Menschen befriedigte, wird damit ihm unzulänglich; so konnte das Christentum die ihm vorangehende antike Moral nicht mehr als vollgültig anerkennen, so hat die moderne Erkenntnisarbeit die früheren Gedankenwelten zur niederen Stufe eines Dogmatismus herabgesetzt. Durchgängig stellt sich das Leben als mitten im Fluß und sein jeweiliger Stand als höchst unfertig dar. Ja es geriet insofern unter einen schroffen Gegensatz, als dem neu gewonnenen Standort des schaffenden Lebens gegenüber der des Menschen nicht einfach verschwinden kann. Denn die Begrenztheit hält ihn fest und zwingt auch das innerlich überlegene Leben, sich damit irgendwie auseinanderzusetzen. Daraus entsteht ein Gegensatz, der in der Kunst und der Literatur den Namen des Klassischen und des Romantischen trägt, der aber darüber hinaus auch die anderen Lebensgebiete durchdringt, z. B. in dem der Religion sich in Mystik und kirchlicher Ordnung verkörpert. Einerseits die Notwendigkeit, einen geistigen Gehalt zu umgrenzen und festzulegen, um ihn dem Menschen faßbar zu machen; andererseits die Forderung, auf ein Grundgeschehen zurückzugehen, in dem das Leben unmittelbar aufquillt; dort ein Streben zu gegliedertem Aufbau, hier ein freies Schweben in der Unendlichkeit der Stimmung; bei Isolierung beider Bewegungen dort die Gefahr einer Festlegung an ein seelenloses Formgerüst, hier eines Sichverlierens ins Unbemessene und Vage. Je nach der Art der Völker und der Lage der Zeiten wird das eine oder das andere überwiegen, das Ganze des Lebens aber hat beide Seiten gegenwärtig zu halten und durch den Gegensatz hindurch eine selbsttätige Wirklichkeit zu erstreben.

Die Überlegenheit der Gesamtbewegung über den menschlichen Stand erweist sich auch darin, daß, wo der Mensch die Zusammenhänge aufgibt und ein Unendlichkeitsstreben aus eigenem Vermögen unternimmt, alsbald schwere Verwicklungen erwachsen. Alsdann fällt nämlich alles Gegengewicht gegen den unablässigen Strom der Bewegung, und damit jede Möglichkeit eines Beharrens, einer Zusammenfassung und inneren Beseelung, das Leben wird ein ungestümes Weiter- und Weiterhasten ohne irgendwelches deutliche Ziel, man begeistert sich für den Fortschritt, ohne zu wissen, worin er besteht und wohin er geht, das blinde Drängen in die Zukunft zerstört alle wahrhaftige Gegenwart und gefährdet den Sinn des ganzen Getriebes. Unsere eigene Zeit stellt das Mißliche, ja Unerträgliche dieser Wendung mit voller Klarheit vor Augen. Sie gibt ein deutliches Bild der »schlechten Unendlichkeit« nach dem Ausdruck Hegels.

Weiter aber genügt es nicht, den Unendlichkeitsgedanken überhaupt nur anzuerkennen, ohne dabei zu einem die Unendlichkeit erfüllenden Leben fortzuschreiten. Denn damit entsteht die Gefahr eines Sichverlierens in inhaltleere Begriffe, das Leben wird wohl gewaltig aufgerüttelt und emporgehoben, aber es bleibt im Leeren schweben und findet nicht den Weg zu fruchtbarem Schaffen. So ist es der Mystik oft ergangen, wenn sie sich nicht versteckterweise aus reicheren Gedankenwelten ergänzte, so hat der Begriff des Absoluten oft Verwirrung angerichtet. Denn so notwendig er dem Erkenntnisstreben ist, er bezeichnet nur die Richtung, nicht den Abschluß des Suchens, mehr ein Problem als einen Besitz; für sich allein genommen wirkt er leicht zur Verflüchtigung des Lebensgehaltes. Das Mittelalter, das den Begriff des Absoluten an uns brachte, suchte ihm wenigstens irgendwelche nähere Bestimmung zu geben, im besonderen sprach es von einem absoluten Sein; der nachkantischen Spekulation blieb es vorbehalten, »das Absolute« zusatzlos zu verkünden und dabei die Gedanken festzulegen zur Minderung des Lebens und zur Verdunklung der Probleme.

So ist das Streben zur Unendlichkeit manchen Irrungen ausgesetzt. Aber die Irrungen selbst mit der Macht ihres Wirkens bilden ein Zeugnis dafür, daß es sich dabei nicht um Strömungen der Oberfläche handelt, sondern um Bewegungen, die aus der Tiefe des Lebens entspringen und den Menschen überwältigend weitertreiben.

 

So erscheint unverkennbar im Bereich des Menschen eine Bewegung des Lebens über den Naturstand hinaus; eine Überwindung seiner Gebundenheit, eine Erhebung zur Freiheit und Ursprünglichkeit. Aber diese Bewegung erfolgt nicht in der Weise an uns, daß wir nur zuzuschauen brauchten, sie verlangt von uns eigne Tat und Entscheidung. Denn wohl muß sie von vornherein in uns angelegt sein und irgendwie wirken, aber dies Wirken hebt sich nicht deutlich von dem der Naturstufe ab, beides rinnt vielfach zusammen, und dieser Stand der Verworrenheit gibt dem Neuen weder eine deutliche Ausprägung noch ein selbständiges Vermögen des Forttriebs. Dazu bedarf es der eignen Arbeit des Menschen, sie nur vermag eine Scheidung zu vollziehen, die Verworrenheit auszutreiben, das Neue in seiner selbständigen und eigentümlichen Art auch bei uns zur Wirkung zu bringen. Einem Abschluß freilich werden wir damit eher ferner als näher gerückt. Denn einmal bleibt in unserer Lage das Leben an eben das gebunden, über das es hinausstrebt und hinausstreben muß; sodann aber verbleibt, was am Neuem erreicht wird, das Mehr als die Natur, zunächst beim bloßen Umriß und ist stärker im Verneinen als im Bejahen. Eine Weiterbildung aber, die sich damit als notwendig zeigt, ist von keiner anderen Seite zu hoffen als von den Erfahrungen, die das Leben selbst im eignen Bereich der Menschheit macht; diese seien also näher ins Auge gefaßt.

b) Die Überwindung der Unzulänglichkeit des menschlichen Seelenstandes

Im Umkreis der menschlichen Seele erweist das Leben neue Züge und beginnt es den Aufbau eines eignen Reiches gegenüber der Natur, neue Lebensformen erscheinen und erweisen sich der Willkür und auch dem Vermögen des bloßen Menschen überlegen. Aber dieses Neue bleibt zunächst höchst unfertig, es ist noch mitten in unsicherem Werden begriffen und wird vielfach zu dem zurückgezogen, das es überwinden wollte; es erscheint in einer Zwischenstellung, die so, wie sie vorliegt, nickt haltbar ist, die ein Weitergehen unbedingt fordert, wenn nicht das Ganze zerfallen und sinnlos werden soll. Zur Überwindung oder doch Bekämpfung der Halbheit der ersten Lage bedarf es vornehmlich einer deutlichen Abhebung des Neuen, einer vollen Anerkennung seiner Selbständigkeit, einer Versetzung in seine Bewegung; das aber ist nicht möglich ohne eine Umkehrung des vorgefundenen Standes, zu einer solchen Umkehrung also ruft es uns durchgängig auf. Notwendig aber ist eine solche zur Austreibung des schwankenden Mittelstandes nach drei Hauptrichtungen hin: gegenüber dem Verhalten zur Zeit, als der Grundform des unmittelbaren seelischen Geschehens, gegenüber dem Nebeneinander des unmittelbaren Seelenlebens, gegenüber dem weiten Abstand des Menschen von zwingenden Forderungen seines eignen Wesens. Überall wird sich zeigen, daß der Durchschnittsstand ein unhaltbares Mittelding bildet, über das wir entweder hinausschreiten oder hinter das wir zurücksinken müssen; nur Mattheit der Gesinnung und Verworrenheit des Denkens kann bei ihm den letzten Abschluß suchen.

a) Die Überwindung der Zeit

Der Mensch lebt nicht bloß in der Zeit und treibt nicht wehrlos mit ihr dahin, er erlebt die Zeit und überschaut die Zeit; dies aber bringt ihn in große Verwicklung. Denn er kann jene nicht erleben, ohne ihre Flüchtigkeit, ja die Nichtigkeit alles Geschehens in ihr zu empfinden, gegen solche Nichtigkeit sträubt sich der ihm innewohnende Lebenstrieb, und der Kampf gegen das völlige Aufgehen in die Zeit wird ein Hauptstück der Lebensbewegung. Aber dieser Kampf bleibt aussichtslos, solange er den Boden der Zeit nicht überschreitet; nur eine Befreiung von diesem Boden, nur das Selbständigwerden einer zeitüberlegenen, ewigen Ordnung der Dinge kann ein Gelingen hoffen lassen; jene aber kann der Mensch unmöglich von sich aus erzeugen, er muß darin gehoben werden, und das kann nicht anders geschehen als durch die Eröffnung eines neuen Lebens. Wiederum finden wir uns inmitten einer Bewegung, die aus tieferen Quellen stammt und über uns hinausweist, an der aber unser eignes Wirken und selbständiges Entscheiden teilnehmen kann.

Daß der Mensch die Zeit erlebt, macht ihm zugleich die Zeit ungenügend, ja es treibt zu einem Kampf mit ihr. Denn nunmehr nimmt ihn nicht mehr der bloße Augenblick und seine nächste Umgebung völlig ein, nunmehr haften nicht bloß frühere Vorgänge als Spuren in seiner Erinnerung, sondern nunmehr vermag er sich über die besondere Stelle des Zeitlaufs zu erheben, in die Vergangenheit zurück- und in die Zukunft vorauszuschauen. Früheres und Späteres zu vergleichen, die einzelnen Vorgänge zu einer Kette zu verbinden und einen Sinn des Ganzen zu suchen. Dabei ergibt sich aber eine schwere Verwicklung. Denn nichts beharrt dauernd auf diesem Boden; was eben aufkam und oft einen ungestümen Lebensdrang zeigte, das muß rasch wieder verschwinden, die einzelnen Gestalten ziehen wie Schatten an uns vorbei, um in den Abgrund des Nichts zu versinken. Auch den Einrichtungen und Lehren ist kein anderes Los beschieden, auch über sie gehen wie in leichtem Spiel die Wogen der Zeit hinweg, um neuen Gestaltungen Platz zu schaffen. Schließlich teilt auch das Ganze der Menschheit diese Vergänglichkeit; denn voraussichtlich kommt eine Zeit, wo der Menschheit notwendige Lebensbedingungen auf diesem Planeten fehlen werden; dann war also alles Mühen der Weltgeschichte vergeblich, und die unermeßliche Aufregung endet in das Schweigen des Todes. Das ist es eben, worin wir einen ungeheuren Widerspruch empfinden: innerhalb der Zeit ein gewaltiges Kraftaufgebot, ein Jagen und Haschen nach Erfolg, ein rastloses Vorwärtsstreben von einem Punkte zum anderen, die zuversichtliche Hoffnung eines Weiter- und Weiterkommens, schließlich aber das Ganze vergeblich, also »viel Lärm um Nichts«. Was in solcher Erfahrung an schmerzlicher Enttäuschung liegt, das hat bei Dichtern und Denkern oft einen packenden Ausdruck gefunden; als Beispiel dessen seien hier nur die Worte Schellings angeführt: »Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt, um selbst wieder zu vergehen. Vergebens erwarten wir, daß etwas Neues geschehe, woran endlich diese Unruhe ein Ziel finde; alles, was geschieht, geschieht nur, damit wieder etwas anderes geschehen kann, das selbst wieder gegen ein anderes zur Vergangenheit wird; im Grunde also geschieht alles umsonst, und es ist in allem Tun und aller Mühe und Arbeit der Menschen selbst nichts als Eitelkeit: alles ist eitel, denn eitel ist alles, was eines wahrhaften Zweckes ermangelt.«

Unmöglich kann das Menschenleben mit einer solchen Verneinung enden, schon der Selbsterhaltungstrieb widersteht der Ergebung in einen derartigen Abschluß. So erwachte überall, wo das Leben die Gebundenheit der bloßen Natur überwand, ein Streben, sich irgendwie dem Bann der bloßen Zeit zu entwinden, sie überdauernde Werke hervorzubringen oder doch wenigstens in der Erinnerung der Menschen einen bleibenden Platz zu behaupten. So schuf man Denkmäler von Stein und Erz, so grub man Berichte von großen Taten in unzugängliche Felswände ein, so suchte man gierig ewigen Ruhm als den höchsten Preis des Lebens. Eine Lösung des Problems ergab aber das alles nicht. Denn aller Gewinn verblieb auf dem Boden der Zeit, und damit innerhalb der Schranken der Zeit, der Untergang wurde nicht abgewandt, sondern nur aufgeschoben, der Kampf, die Zeit im unmittelbaren Leben des Menschen zu bezwingen, glich dem Unternehmen von Kindern, kleine Sandbauten der aufsteigenden Meeresflut entgegenzusetzen. Selbst die Bilder der Zeiten, auch die Versuche, sie in ein Ganzes zusammenzufassen, liegen nicht fest, sie verschieben sich mit der Lage, aus der beobachtet wird, jede Zeit mißt die Vergangenheit im Einzelnen wie im Ganzen an ihrer eignen Art, die sich selbst unablässig verändert.

Eine Befreiung von solcher Übermacht der Zeit wäre schlechterdings unmöglich, ginge unser Leben gänzlich in die unmittelbare Daseinsform auf; daß es dies nicht tut, erweist alle geistige Arbeit, namentlich sofern sie größere Zusammenhänge bildet und uns entgegenhält. Von den unsteten Meinungen der Menschen hebt die Wissenschaft einen Sachgehalt ab und gibt ihn als aller Zeit überlegen, sub specie aeternitatis; auch die Kunst erstrebt Ähnliches mit ihrem Schaffen von Gestalten, die als klassisch alle Bewegung begleiten und messen; im besondern aber besteht die Religion auf einer ewigen Wahrheit gegenüber allem Wandel menschlicher Lagen und auf ihrer Herrschaft gegenüber allen Zeiten; daher duldete sie in ihrem Grundbestande keine Veränderung und fand sie keine Eigenschaft für das höchste Wesen notwendiger als die der Ewigkeit. Der Glaube an eine zeitüberlegene Wahrheit und an die Möglichkeit ihrer Aneignung beherrscht alle echte Kulturarbeit, er bildet ihre unerläßliche Voraussetzung und den stärksten Antrieb zur Kraftaufbietung.

Aber rechtfertigen läßt sich dieser Glaube nie vom bloßen Menschen her und für seine Lage, die zeitüberlegene Wahrheit muß in einem selbständigen Leben wurzeln und die Entfaltung seines Beisichselbstseins bilden, damit ein Beharren und ein Inhalt des Lebens möglich werde, es nicht wehrlos den Wogen der Zeiten unterliege. Nur ein solches Leben kann den einzelnen Strahlen der Wahrheit, die bei uns erscheinen, einen Zusammenhang und ein sicheres Heim verleihen, das Ganze vor einem Auseinandergehen und einem Zerfallen in flüchtige Erscheinungen behüten. Ist aber unser Leben in einer ewigen Ordnung gegründet, so nimmt auch die Geschichte einen anderen Charakter an, so vermag sich von der bloßen Zeitgeschichte eine Geistesgeschichte zu scheiden, und zwar als ein allmähliches Herausarbeiten einer ewigen Ordnung für uns. Denn diese ist uns Menschen weder fertig gegeben noch mit Einem Schlage erreichbar, mühsam hat Arbeit, Kampf und Erfahrung sie uns erst zu erringen; so bedarf es auch dafür notwendig einer Geschichte. Aber diese Geschichte ist grundverschieden von der bloßen Zeitgeschichte mit ihrem Wechsel der Lagen; die Leistung in der Zeit ist hier zugleich eine Überwindung der bloßen Zeit, eine Versetzung aus ihr in eine ewige Ordnung. Die Bewegung geht dabei nicht in eine dunkle Ferne, sondern als Suchen des eignen Wesens hält sie in der Bewegung den Ausgangspunkt fest und wird im Fortschreiten selbst ein Zurückkehren und Sichvertiefen, eine Selbsterweiterung und Selbstbefestigung. Hier versinkt, was in der Geschichte sich an geistigem Gehalt erschloß, keineswegs mit der Zeit, die es brachte, hier vermag es sich gegenüber aller Zeit zu erhalten, auch seine mannigfachen Eröffnungen mehr und mehr zum Zusammenhange einer Welt zu verbinden, der sicher und fest über dem Wandel menschlicher Dinge liegt, wie in dem älteren Weltbilde das unwandelbare Himmelsgewölbe über der unsteten Flucht der menschlichen Dinge.

Nur von einem solchen überlegenen Leben aus rechtfertigt und ermöglicht sich das Streben nach einer Einheit in und gegenüber der Mannigfaltigkeit des Geschehens, nach der Einheit eines Charakters und einer geistigen Individualität beim einzelnen Menschen, nach einer geistigen Einheit eines Volkes durch die Jahrtausende hindurch, nach Einheit in großen geistigen Komplexen wie vornehmlich in einer Jahrtausende erfüllenden Religion; erschöpfte sich unser Leben ganz und gar in das unmittelbare seelische Geschehen, so bestünde keine Möglichkeit einer solchen zusammenhaltenden Einheit, denn die seelischen Lagen wechseln unaufhörlich mit den besonderen Aufgaben der Zeiten bis in die elementarsten Gefühle hinein; nur wenn dem allen gegenüber eine ursprüngliche Tiefe des Beisichselbstseins in uns waltet und sich auch unserer Arbeit erschließt, wenn uns damit das Leben in all seiner Bekundung zur Selbstentfaltung wird, läßt sich durch alle Zeiten hindurch eine gemeinsame Art und ein gemeinsames Werk behaupten, können wir äußerlich weit entlegenen Zeiten uns innerlich nahe fühlen. Aber es gilt dies Leben von dem bloßen Zeitleben deutlicher abzuheben und weiter dahinter zurückzuverlegen als es gewöhnlich geschieht, zurückzuverlegen durch eine klare Herausarbeitung seines Geistesgehalts. Nicht geringe Gefahren entstehen aus dem Zusammentreffen der Überzeitlichkeit des geistigen Gehalts und der zeitlichen Art des Menschenlebens, Gefahren entgegengesetzter Richtung. Entweder nämlich wird die Zeitüberlegenheit, welche der Geistesgehalt verlangt, zu unmittelbar auf die Lage des Menschen übertragen und das Ewige damit an eine zeitliche Leistung gebunden, zur Verengung des Lebens und zur Hemmung aller Weiterbewegung, oder es wird die Beweglichkeit, deren der Mensch für die Erringung des Geistesgehaltes bedarf, auf diesen selbst übertragen, er damit aber dem Wandel der Zeit ausgeliefert; entweder also ein starrer Absolutismus oder ein zerstörender Relativismus, entweder das Menschliche zu rasch vergeistigt oder das Geistige zu sehr vermenschlicht, jenes die Gefahr des Altertums, dieses die der Neuzeit. Nur eine schärfere Scheidung beider Seiten, des geistigen Grundgehalts und der menschlichen Lebensform, läßt diesen Gefahren entgegenwirken, indem dann das Ewige für uns sowohl Tatsache als Aufgabe ist, Tatsache als Grundlage und Antrieb alles geistigen Lebens, Aufgabe als Ziel und Vollendung. Alsdann vermag sich auch von der leeren Zeit eine erfüllte abzuheben, d. h. eine solche, welche eine zeitüberlegene Wahrheit verkörpert und der Eröffnung des Ewigen bei uns dient, welche damit bei sich selber feste Zusammenhänge bildet; dabei hebt sich von der Gegenwart des bloßen Augenblicks eine zeitüberlegene Gegenwart ab, überschaut und verbindet die einzelnen Punkte zu einem Gesamtwerk und wird damit zum Standort aller echten Bildung.

»Wer nicht von dreitausend Jahren
Sich weiß Rechenschaft zu geben,
Bleib' im Dunkeln unerfahren,
Mag von Tag zu Tage leben.« (Goethe)

Diese zeitüberlegene Gegenwart aber wird für uns immer von neuem zur Aufgabe, immer von neuem haben wir jene herauszuarbeiten und gegenüber der bloßen Zeit zu behaupten, die uns festzuhalten nicht aufhört. So verbleibt es bei dem mittelalterlichen Worte, daß der Mensch an der Grenze von Zeit und Ewigkeit steht; für sein persönliches Geschick erwachsen daraus schwerste Fragen und Verwicklungen, in seiner Lebensarbeit hat er jene als Schichten deutlich zu scheiden und doch in Verbindung zu halten, da für uns Menschen erst durch die Arbeit der Zeit das Ewige seinen Gehalt erschließt, ohne sie zur leeren Form sinken würde. Es gilt also nicht Beharren oder Bewegung, sondern Beharren und Bewegung, Beharren in der Bewegung; das aber ist nur möglich bei einer Abstufung des Lebens, wie die Anerkennung des Waltens eines selbständigen Lebens in uns sie einführt.

So befindet sich der Mensch auch hier in einer Mittelstellung, die so wie sie vorliegt unhaltbar ist. Wir leben in der Zeit, aber da wir sie zugleich erleben, so wird sie uns ungenügend, ja unerträglich, und es treibt uns zwingend zum Suchen eines Ewigkeitsgehalts. Den Weg dahin weist uns das Erwachen geistigen Schaffens bei uns, aber dieses hat zunächst weder einen deutlichen Zusammenhang noch einen festen Halt; einen solchen erstreben können wir nur auf Grund und unter Anerkennung des Wirkens eines überlegenen Lebens bei uns. Aber in dieses vermögen wir uns nicht einfach zu versetzen und es für uns in Einem Zuge aufzurollen, erst in der Arbeit der Zeit kann es sich uns weiter eröffnen, so daß es uns auch von hier aus immer wieder in die Zeit zurücktreibt und zur Auseinandersetzung mit ihr zwingt. Wir sahen, daß diese Bewegung eine Aussicht auf Erfolg nur hat, wenn sich das Leben bei uns hinter das unmittelbare seelische Geschehen zurückzuverlegen und eine neue Schicht des Lebens ihm gegenüber zu bilden vermag; wie das aber näher zu verstehen sei, damit haben wir uns gleich zu befassen. Jedenfalls sehen wir auch an dieser Stelle, was uns schon öfter begegnete: das vorhandene Streben selbst erweist eine größere Tiefe, eine Begründung des Menschen in weiteren Zusammenhängen, in seiner Halbheit aber zugleich einen starken Widerspruch; es gilt die Zusammenhänge zu ergreifen und in eigne Tat zu verwandeln, wenn das Leben jene Halbheit des nächsten Standes überwinden und dem Widerspruch gewachsen werden soll.

b) Die Überwindung des unmittelbaren Seelenstandes

Wir sahen das menschliche Seelenleben die Natur überschreiten und neue Bewegungen beginnen; es kommt dabei aber der Durchschnittsstand des menschlichen Daseins unmittelbar nicht in einen sicheren Fortgang und noch weniger zu einem Abschluß. Zu einer vollen Erhebung über die Natur gehört notwendig, daß die neue Art zur Selbständigkeit gelangt, daß die sich der Bindung nach außen entwindende Innerlichkeit eine eigne Welt hervorbringt. An solchem Selbstständigwerden und solcher Zusammenfassung des Neuen gebricht es aber der Durchschnittslage sehr. Eine Fülle von Tätigkeit erscheint, und die Vorgänge verflechten sich mannigfach, aber so gewiß sich Kräfte darin erweisen, sie entbehren eines deutlichen Zieles und einer sicheren Richtung, sie lassen daher das Handeln in arger Ungewißheit. Aber zugleich können sie nicht ruhen und rasten, sie drängen eifrig nach irgendwelcher Beschäftigung, ohne sie befriedigend finden zu können; so gleichen sie einem Kapital, das vergebens eine Anlage sucht. Da zugleich die Welt ihrem Treiben starr und unzugänglich gegenübersteht, so erregen und verzehren sie sich in immer neuen Versuchen. An diese Stufe gebannt wird das Leben als Ganzes ein ruheloses Hasten und Jagen, ein unablässiges Aufstecken neuer Ziele, ein Hin- und Herschwanken zwischen Begier und Enttäuschung, zugleich ein unablässiges Streben, das aufsteigende Gefühl der Leere, wenn nicht auszutreiben, so doch zurückzudrängen. Es gibt kaum ein Ziel, das dem Menschen so viel Scharfsinn, so viel Witz, so viel Erfindung abgelockt hat, als diese Bekämpfung der Leere; das ganze gesellige Leben mit seinen ausgeklügelten Einrichtungen und seinen unablässigen Abwechslungen dient vornehmlich diesem Streben, dieser Flucht des Menschen vor seiner eignen Leere. Mit besonderer Stärke erscheint diese Flucht in Zeiten überreifer Kultur, wo kein geistiger Gehalt die Kräfte genügend bindet, erscheint sie daher auch in unserer eignen so beschaffenen Zeit. Dichter und Denker, namentlich aber religiöse Naturen, haben dies unstete Treiben, das hastige Überspringen von einem Punkte zum anderen oft hart gescholten, dabei aber oft nicht genügend beachtet, daß diese Unruhe, dieses Unbefriedigtsein, auch ein Zeugnis der Größe ist, ein Zeugnis eines dem Menschen eingepflanzten Triebes nach einem Beisichselbstsein, und einem Gehalt des Lebens, ein Zeugnis des Wirkens einer ihm selbst überlegenen Macht. So fehlte es denn auch nicht an Bemühung, diesen Trieb zu befriedigen, neben der Kunst und der Religion hat sich auch die wissenschaftliche Arbeit dieser Aufgabe angenommen. Sie tat und tut es zunächst, indem sie in dem seelischen Gebiete Richtlinien aufzuweisen und die Mannigfaltigkeit des Geschehens einer beherrschenden Einheit unterzuordnen sucht; das sollte keinen Bruch mit dem unmittelbaren Geschehen, sondern nur eine Ordnung und Abstufung seiner bedeuten. Das ist der Standort, der sich kurz als der des Psychologismus bezeichnen läßt. Wie weit diese Betrachtungsweise ein gutes Recht und eine wertvolle Aufgabe hat, das gehört nicht an diese Stelle: so viel ist gewiß, daß sie der hier gestellten Aufgabe nicht gewachsen ist. Diese seelischen Vorgänge unterliegen aller Bedingtheit menschlicher Art und tragen diese in alles, was sie ergreifen, so auch in das Weltbild hinein; ferner haben nicht nur alle Versuche keine gemeinsame Wurzel ihrer aufzuweisen vermocht, die Bewegungen und die Ausblicke gehen hier nach der verschiedenen und wechselnden Art und Lage der Individuen weit auseinander, eine gemeinsame, den Individuen überlegene, den Gegenstand einschließende Welt der Wahrheit ist von hier aus nicht zu erreichen. Da aber der Welt- und Wahrheitsgedanke uns nicht verläßt und sein messendes Wirken nicht einstellt, so wird die Kleinheit, die Abhängigkeit, auch die Zufälligkeit jenes Geschehens deutlich empfunden und zugleich die Unmöglichkeit erkannt, mit den hier gebotenen Mitteln ein Beisichselbstsein des Lebens, eine selbständige Innerlichkeit aufzubauen.

Das deutliche Durchschauen dessen trieb zur Anerkennung eines jenem Getriebe überlegenen Denkens und erweckte die Hoffnung, in ihm einen festen und zur Entwerfung einer neuen Welt geeigneten Standort zu gewinnen. In Wahrheit fand sich hier vieles erreicht, was das Leben unabhängig und zugleich weltumspannend zu machen verspricht. Im Denken vollzieht das Leben eine Wendung zur Aktivität und damit eine Umkehrung des nächsten Standes, zugleich enthält es eine Ablösung von individueller Art und Lage, eine Ablösung auch von aller bloßsubjektiven Zuständlichkeit; vor allem aber vermag es den Begriff des Gegenstandes zu bilden, sich in den Gegenstand zu versetzen, ihm in seine Entwicklung zu folgen, seine Forderungen sich zu eigen zu machen. Auf dem Denken vornehmlich beruht das Vermögen des Lebens, sich zu einem Lebensraum zu erweitern, in dem Geschehnisse, ja ganze Komplexe vom unmittelbaren Leben abgelöst und ihm gegenüber festgelegt, zugleich aber einem weiteren Leben gegenwärtig gehalten werden; nur dieses Miteinander von Scheiden und Festhalten erklärt es, daß der Mensch nicht nur innerhalb Raum und Zeit lebt, sondern – was eine folgenreiche Wendung bedeutet – beide auch als Ganzes überschaut und erlebt. So wird hier erst die Möglichkeit des Erlebens einer Welt gewonnen, die Möglichkeit der Hervorbringung einer Welt, in der sich verschiedene Komplexe nebeneinander entfalten, sich verschiedene Stufen bilden, ja selbst gegenläufige Bewegungen möglich werden. Das besagt einen entschiedenen Fortschritt gegen das naturgebundene Seelenleben, die Anbahnung eines Reiches selbständiger Innerlichkeit.

Über die Anbahnung freilich führt das Denken aus eigner Kraft nicht hinaus. Auf sich selbst gestellt ergibt es nur ein Schema, das freilich alles Vorhandene zusammenzuhalten vermag, dem aber Fleisch und Blut erst zugeführt werden müßte, damit es volles Leben würde und echtes Leben weckte. Sonst müßte es Welt und Leben in ein bloßes Schattenreich verwandeln. Das Denken allein zeigt weit mehr Ziele als Wege zu ihnen, es stellt mehr Fragen als es Antworten gibt. Es will von einem Ganzen aus alle Mannigfaltigkeit entwickeln, aber dieses Ganze bleibt ihm eine bloße Form ohne alle nähere Bestimmung, es scheidet den Begriff als tätige Größe von der bloßen Vorstellung als einer gebundenen und kann ihn daher nun und nimmer von ihr aus durch bloße Verallgemeinerung ableiten wollen, aber seine positive Beschaffenheit und sein umbildendes Wirken vermag es von sich aus nicht zu erweisen; tatsächlich haben verschiedene Kulturepochen das Wesen des Begriffes verschieden verstanden, das antike Denken es z. B. in der Form, die Aufklärung in der Kraft gefunden. Selbst die Kategorien zeigen solche Unfertigkeit des bloßen Denkens. Das Denken fordert für seinen Weltaufbau als einen Grundbegriff den des Dinges, der Substanz; wo aber die Arbeit der Wissenschaft das Ding zu suchen habe, darüber dachten die Hauptepochen der Denkarbeit verschieden, und das steht noch immer im Kampf. Nicht anders ergeht es der Kausalität, der sachlichen Verkettung des Geschehens. So gewiß hier ein gemeinsames Verfahren durch alles Menschenleben geht, seine nähere Durchbildung bedurfte der Arbeit und der Erfahrung der Wissenschaft, sie erfolgte auf dem Boden der Geschichte unter nicht geringen Kämpfen. Diese Fortbildung erfolgte aber stets in weiteren Zusammenhängen des Lebens, die nicht das ausschließliche Werk des Denkens waren. Lehnt es solche Zusammenhänge und zugleich die Weiterbildung ab und will es allein aus eignem Vermögen Leben und Welt gestalten, so macht es aus der Wirklichkeit ein seelenloses Formgewebe, das nur durch eine versteckte Ergänzung aus gehaltvolleren Zusammenhängen einen leidlichen Schein erschleicht. Auch über solche Zuspitzung hinaus hat es mit seiner Selbstbewußtheit rationalisierend und verflüchtigend auf den Lebensbestand gewirkt. Die Überspannung aber drohte in einen Zusammenbruch umzuschlagen; je ausschließlicher das Denken sich auf sich selber stellt, desto stärker wird es, das dem Ganzen des Lebens zur Selbständigkeit verhelfen wollte, in seiner eignen Selbständigkeit bedroht. Es kann nämlich seine Stellung nur wahren, wenn überhaupt dem Reich der Natur gegenüber sich ein Reich der Innerlichkeit zu behaupten vermag; das aber zu sichern ist das Denken allein nicht stark genug; so ist es in großer Gefahr, alle Überlegenheit einzubüßen und ein bloßes Stück des seelischen Getriebes zu werden, über das es hinausheben wollte. Daß der Intellektualismus dem Geistesleben keinen genügenden Halt gewährt, daß er einerseits leicht in Subjektivismus, andererseits in Naturalismus umschlägt, das zeigt die Entwicklung des Hegelianismus deutlich genug. Namentlich erzeugt jene Überspannung der freischwebenden Denktätigkeit ein starkes Verlangen nach Positivität, und eine solche glaubt man dann zu Unrecht durch eine Hingebung an das unmittelbare Dasein erreichen zu können.

Aber den Intellektualismus ablehnen heißt nicht ihn überwinden. Trotz aller Angriffe und Zurückweisungen ist er immer von neuem hervorgebrochen, am meisten hat er wohl seine Macht darin erwiesen, daß er seinen vermeintlichen Überwinder selbst wieder in seine Bahnen zog; das geschah, indem der Widerspruch sich selbst wieder zu einer bloßen Lehre, einer Ansicht gestaltete. So ist es oft dem Christentum, so auch der Reformation ergangen, so ergeht es heute oft der kantischen Wendung zur praktischen Vernunft. Immer wieder verwandelt sich das Leben in eine bloße Lehre, wir scheinen uns dagegen wohl im Schwunge des Augenblicks aufbäumen, nicht aber ihrem Netze dauernd entziehen zu können. Solche Erfahrung zeigt deutlich genug, daß im Intellektualismus ein Wahrheitselement steckt, das sich nicht preisgeben läßt, das aber einer Aufnahme in weitere Zusammenhänge bedarf, um gegen ein Verfallen in Irrung gesichert zu sein; offenbar kann das keine Entgegensetzung, sondern nur eine Vertiefung leisten.

Wir sehen deutlich, wohin es uns treibt, es regt sich in uns und es drängt uns zu einem bei sich selbst befindlichen und in sich selbst befriedigten Leben. Ein solches Leben müßte, indem es ganz unser eigen wäre, uns dem Ganzen der Welt verbinden, ja uns zu ihm erweitern, es müßte in der Selbstbildung zugleich Weltbildung sein; es müßte den Gegensatz von Kraft und Gegenstand überwinden, und da, wie wir sahen, das nur durch ein wirklichkeitbildendes Schaffen, nur durch ein beide Seiten umfassendes und erhöhendes Werk erfolgen kann, so müßte auch an unserer Stelle ein solches schaffendes Leben wirken. Ein solches kann aber unmöglich erst im Verlauf des Lebens nachträglich, etwa durch eine Entwicklung von Beziehungen nach außen entstehen, es muß von Haus aus in uns gesetzt sein und nur der Herausarbeitung bedürfen. Da aber mit einem solchen Leben ein neues Weltgefüge eingeführt wird, so ist jene Setzung nur zu verstehen als ein Lebensakt des Ganzen, und es muß der Keim der Einzelwirklichkeit, der hier aufgeht, innerhalb der Gesamtwirklichkeit des schaffenden Lebens liegen, mit allem, was bei ihm geschieht, ein Stück ihrer Entfaltung bilden.

So stehen wir auch hier, am letzten Ursprungspunkte unseres Seins, innerhalb des großen Lebensstromes; was wir sind, sind wir von ihm aus; von hier aus müssen wir als Grundelemente gesetzt, zur Bildung eines eignen Lebenszentrums, einer selbständigen Lebensenergie berufen sein. Zugleich aber ist klar, daß uns dabei nicht eine fertige Rolle aufgedrängt wird, die wir sklavisch auszuführen hätten, sondern aus möglichen Lebensenergien kann uns zu wirklichen machen nur eigne Aufraffung und Tat, ein erhöhendes Weiterbilden dessen, was in uns angelegt ist. Nur so kann aus dem Lebenskeim ein Lebenskern werden und unserem Leben einen festen Halt, ein Beisichselbstsein gewähren. Das aber macht das Leben allererst zu wahrhaftigem Leben; alles was diesem vorangeht, muß von hier aus ein bloßes Halbleben, ja ein bloßer Schein des Lebens dünken. Mit solcher Forderung, ein selbständiges Lebenszentrum, eine Eigenwirklichkeit zu werden, steigert sich unermeßlich die Aufgabe, die uns obliegt. Denn nun haben wir nicht um dieses oder jenes am Leben uns zu bemühen, um seine Erweiterung oder Verbesserung nach besonderen Richtungen hin, sondern nun steht das Ganze auf dem Spiel, nun handelt es sich um wahrhaftiges Leben überhaupt, alles andere hat sich dem einzufügen und danach zu gestalten. An dieser Stelle geht ein großer Riß durch die Menschheit: wo jene Wendung, jene Bildung eines Lebenskerns, zustande kommt, da bleibt durch alle daraus erwachsenden Sorgen und Nöte hindurch dem Leben ein Gehalt, ein Sinn, eine Größe gewahrt; wo sie aber nicht zustande kommt, wo die Möglichkeiten echten Lebens unverwirklicht bleiben, da werden aus dem Menschen bei allem Aufputz und aller Aufregung des äußeren Lebens bloße Figuranten, wandelnde Schatten, tote Seelen. Vanitas vanitatum, unermeßlich viel Lärm um Nichts.

Doch es liegt uns an dieser Stelle nicht ob zu erörtern, wieweit die dem Menschenwesen gestellte Aufgabe gelöst wird; hier gilt es vielmehr zu erwägen, wie viel in ihr liegt, und wieviel sich mit ihr verändert. Zunächst ist das gewiß, daß ihre Ergreifung eine Umwälzung gegenüber der nächsten Lage verlangt, daß sie die Forderung eines neuen Standorts enthält, der das, was bisher das Ganze des Lebens schien, zur bloßen Umgebung und zugleich zum Probleme macht. Soweit aber die Umwälzung gelingt, gewinnt das Leben eine Grundlage und eine Tiefe dadurch, daß nun alle einzelne Betätigung das Ganze eines Tatlebens hinter sich hat und zum Ausdruck dieses Ganzen zu werden vermag. Damit erst gewinnen Größen wie Gesinnung und Überzeugung eine Berechtigung und einen sichern Grund, freilich schrumpft zugleich sehr zusammen, was sich an solchen Größen gibt; so kann auch in der Gedankenwelt die einzelne Funktion ein Ausdruck des Ganzen und seiner Eigentümlichkeit werden, nur daß auch hier diese Durchdringung des Einzelnen vom Ganzen sich auf einzelne Spitzen beschränkt, ja diese Spitzen zu Spitzen macht. Aber die Forderung bleibt, wie immer sich die Menschen zu ihr stellen, und es erhält ein volles Licht von jener Bildung einer Eigenwirklichkeit aus erst der Sinnspruch Schillers:

»Edle Naturen zahlen mit dem, was sie sind,
Gemeine mit dem, was sie tun.«

Dem Gewinn des Lebens an Tiefe entspricht aber ein solcher an Größe, indem es nunmehr aus einem bloßen Stück eines Weltgetriebes zu einem Kampf um Welten, zu einer Bewegung im All-Leben wird. Betrachten wir das Lebenswerk eines Luther, eines Kant, eines Goethe; was ist es, das dabei vornehmlich anziehend und erhebend auf jeden unbefangenen Betrachter wirkt? Doch wohl dieses, daß die Seele eines solchen selbstwüchsigen Menschen eine innere Notwendigkeit, das heißt aber im Grunde nichts anderes als eine Eigenwirklichkeit in sich trug, und daß diese aufstrebende Wirklichkeit mit der Umwelt aufs härteste zusammenstieß und sich ihren Weg gegen sie zu bahnen hatte, daß aber dieser Kampf zum Siege führte, und daß die innere Notwendigkeit der Umwelt ihr Gesetz auferlegte; es war das ein Triumph des Geistes über die stumpfe Gegebenheit, ein Vordringen der Qualität gegen die bloße Masse, der Wahrheit gegen den Schein. Aber wie konnte das geschehen und so viel bedeuten, hätte in jener Bewegung bloß eine Sonderart des Individuums sich rücksichtslos durchgesetzt? Wäre dann solche Durchsetzung nicht ein sträflicher Eigensinn gewesen, wie es tatsachlich solchen erscheint, die sich in jene inneren Zusammenhänge nicht hineinzuversetzen vermögen? Zwischen hoher Schätzung und völliger Verwerfung gibt es hier kein Mittelding; jene Schätzung aber rechtfertigt sich nur, wenn auch von innen heraus das Ganze wirkt und damit die Lebensbewegung der einzelnen Stelle unmittelbar eine Bewegung des Ganzen, einen Aufstieg des Ganzen bedeutet; nur das erklärt auch die Kraft, den Widerstand einer Welt zu brechen.

So sehr aber dieser Charakter des Lebens mit voller Deutlichkeit erst auf überlegenen Höhen hervorbricht, Wirkungen erstrecken sich von hier über das Ganze des Lebens. Wie sich von hier aus auch an der einzelnen Stelle das Leben vornehmlich zum Suchen seiner selbst gestaltet, so erklärt sich auch damit erst recht die Hochschätzung, die wir der Treue gegen sich selbst erweisen, erklärt sich weiter auch die der Pflichtidee unter gleichzeitiger Befreiung vom Kultus leerer Allgemeinheit. Die tiefste Wurzel der Pflicht liegt darin, daß die einzelne Stelle keineswegs bloß sich selber lebt, sondern daß sie auch im Ganzen und für das Ganze etwas bedeutet, daß dieses Ganze zum eignen Wesen des Einzelnen gehört, ja geistig dieses Wesen erst begründet. So geht auch die Pflicht nicht auf gewisse Leistungen, nicht auf die Befolgung gewisser Gesetze und Formen, sondern auf das Ganze eines neuen Lebens. So nur kann sie sich vom bloß Regulativen ins Produktive wenden und mit innerer Freudigkeit zusammengehen. Steht schließlich doch ein wahrhaftiges Selbst, ein wesenhaftes Leben dabei in Frage. Nur als eine Pflicht gegen sich selbst erhält schließlich alle Pflicht ein Recht und eine Macht; stets muß bei ihr der leitende Gedanke nicht das Allgemeine, sondern das Ganze sein.

Mit dem neuen Anblick stellt aber das Leben sich in gesteigertem Maße als eine Aufgabe dar, auch wenn wir uns die Umkehrung, die Ergreifung des Lebenskeimes, den Beginn der Ausbildung eines Lebenskernes vollzogen denken. Wenn die Bildung eines solchen Kernes zunächst eine Scheidung des Lebensbestandes in Zentrum und Umgebung bewirkt, so kann es bei solcher Scheidung unmöglich verbleiben; dem widerspricht nicht nur das Verlangen nach Einheit, auch der Kern selbst ist nicht fertig, er hat sich erst zu entwickeln, und er kann das nur in Auseinandersetzung mit dem übrigen Lebensbestande und im Versuch, diesen an sich zu ziehen. Schon darin liegt eine Aufforderung zu unablässiger Tätigkeit. Aber die Aufgabe beschränkt sich nicht auf eine solche Forderung einer vollen Herausarbeitung und näheren Durchbildung des Kerns, auch seine innere Beschaffenheit ist nicht mit raschem Zugriff erreichbar; die geschichtliche Erfahrung zeigt unwidersprechlich, daß darüber viel Streit entstehen kann, und daß verschiedene Fassungen möglich sind; so gilt es auch hier eine Entscheidung zu treffen, auch die Grundlage des Lebens wird uns nicht fertig dargeboten, wir haben sie erst in der Lebensbewegung und Lebenserfahrung zu erringen, wobei Verschiebungen von Ganzem zu Ganzem sich als möglich, ja wirklich zeigen. Mit dem Problem verlegt sich aber auch der Bereich unserer Freiheit zurück, und zugleich wächst die Bedeutung der Geschichte, indem sie nun ein Sichselbersuchen des Lebens wird, ein Sichselbersuchen für die Menschheit, ein solches aber auch für den Einzelnen. Von hier aus erklärt sich auch die Beweglichkeit, die in der Geschichte der einzelnen Zweige geistigen Schaffens erscheint: Religion, Philosophie und Kunst gehen nicht auf gegebener Grundlage in ruhigem Fortgang weiter und häufen nicht Leistung auf Leistung unablässig zusammen – wie weit müßten wir dann gelangt sein! –, sondern immer wieder kommen Zeiten, wo die Bewegung in die letzten Grundlagen zurückgreift, wo diese unsicher werden, wo es zu prüfen und durch vordringende Tat zu erneuern gilt. So haben wir nicht nur um einzelne Punkte, sondern um den Gesamtcharakter des Lebens zu kämpfen; auch hier gilt es eigne Tat, die nicht nachlassen kann ohne das Ganze zu gefährden.

Von hier aus ergibt sich ein eigentümliches Bild des Lebens, das eine entschiedene Abweisung gewisser Fassungen enthält, die weite Kreise der Menschheit für sich gewonnen haben. Weder die Anpreisung der Lebensharmonie, wie sie vom Altertum her durch die Zeiten wirkt, noch die Voranstellung des Entwicklungsgedankens können sich vor dem hier gewonnenen Bilde und Maße behaupten. Die Forderung der Harmonie setzt voraus, daß eine bloße Anordnung und Abstufung der Elemente für die Lösung des Lebensproblems genügt, daß die Elemente selbst aber keine Probleme stellen und keiner Wandlung bedürfen. Wie wenig das zum wirklichen Befunde des Lebens mit seinen Gegensätzen und Kämpfen stimmt, das bedarf keiner Darlegung. Nachdem diese einmal mit voller Klarheit hervorgebrochen sind, kann die Erhebung der Harmonie zur Hauptforderung nur zur Abschwächung der großen Probleme und damit zur Verflachung des Lebens wirken. Dabei mag der Gedanke der Harmonisierung des Lebens innerhalb gewisser Schranken ein gutes Recht behalten, zum Beherrscher des menschlichen Lebens taugt er sicherlich nicht. Nicht anders steht es mit dem Entwicklungsgedanken, in den sich die Neuzeit verliebt hat. Er hat – das ist ein unbestreitbares Verdienst – die Bedeutung der Bewegung und eine Gesetzlichkeit in der Bewegung zur Anerkennung gebracht, aber indem er die Bewegung als eine schon vorhandene und dem Menschen auferlegte versteht, zerstört er im tiefsten Grunde alle Freiheit, und nimmt er mit dem Tatcharakter dem Leben zugleich alle Seele, verwandelt er es in einen seelenlosen Mechanismus, mag er die Entwicklung mit Darwin als eine Ansammlung einzelner Elemente, mag es sie mit Hegel als ein Hindurchgehen des Ganzen durch eine Schraubenlinie von Gegensätzen fassen. Bewegung und Tat können recht weit auseinanderliegen; wer in der Tretmühle steht, hat Bewegung genug, man wird ihn deshalb nicht auch als frei bezeichnen dürfen. Wir aber wollen uns von seelenlosen Theorien, sei es naturalistischer, sei es spiritualistischer Art, nicht das Ganze des Lebens in eine Tretmühle verwandeln lassen.

Das ist groß und unverlierbar an den Religionen, daß sie die fundamentale Bedeutung einer großen Entscheidung verfechten, die unser ganzes Leben durchdringt und aller besonderen Leistung überlegen ist; dieses aufgeben heißt im Grundbestande des Lebens Jahrtausende rückwärts tun. Nur haben sie die Sache meist zu eng gefaßt und leicht das Ethische als ein Sondergebiet vom übrigen Leben abgelöst, während es sich auf sein Ganzes zu beziehen und sein Ganzes zu erhöhen hat.

Nach dem Bilde, das sich uns ergibt, kann der Ertrag des menschlichen Lebens als sehr geringfügig erscheinen: überall ein Suchen und Kämpfen, durchgängig der weiteste Abstand des Zieles und unserer Leistung, viel Mühe und wenig Erfolg. Aber nachgeben kann solchem Eindruck nur eine einseitige Betrachtung der Sache. Ja, wir erscheinen als klein, aber doch nur weil Großes bei uns vorgeht, und weil wir uns an diesem Großen messen, zu messen nicht lassen können. Auch dies Große aber ist uns nicht fremd, es ist in uns gesetzt und wirkt in uns als unser eignes Wesen; die starke Empfindung der Kleinheit wird damit ein Zeugnis unserer Größe. Das freilich bleibt unbestreitbar, daß unser Stand höchst unfertig ist, unfertig nicht nur in der Ausdehnung, sondern auch dem Gehalte nach; auch die Betrachtung des gesamten Menschengeschlechts sowie seiner Geschichte kann diesen Eindruck nur bestärken. Aber unfertig heißt nicht bedeutungslos; eine Bedeutung wird außer Zweifel stehen, wo anerkannt wird, daß die Gesamtbewegung nicht unser Sonderwerk ist, sondern vom Ganzen des Lebens her an uns kommt, und am Ganzen dieses Lebens teilhat. Wir haben weniger, als wir oft zu besitzen glauben, aber wir haben an dem Wenigen mehr, als eine oberflächliche Betrachtung meint.

Aus solcher Grundüberzeugung läßt sich auch der Meinung entgegentreten, als überliefere die Notwendigkeit eignen Suchens und Kämpfens mit den davon untrennbaren Zweifeln unser Leben und Streben völliger Ungewißheit. Das würde nur geschehen, wären wir lediglich auf uns selbst und unsere grübelnde Reflexion angewiesen, wirkte in uns nicht mit sicherem Zuge ein überlegenes Ganzes des Lebens, vor dem Irrtum warnend, zur Wahrheit leitend. Hätten wir freilich keinen Teil an einem solchen Ganzen des Lebens, dann bliebe nur die Wahl zwischen einer völligen Verflüchtigung und einer blinden Unterwerfung unter irgendwelche Autorität. Wir meinen, daß es noch ein Drittes gibt.

Wie durchgängig so genügt es aber auch hier nicht, die Tiefe nur anzuerkennen, es gilt sie sich anzueignen und in ihr den Standort des Lebens und Strebens zu nehmen. Was bei uns vorgeht, wäre nicht möglich ohne jene Tiefe, aber der jetzige Stand bleibt im Widerspruch stecken, wenn wir nicht mutig weitergehen, indem wir in ein Eignes verwandeln, was zunächst fremd scheinen mag. Diese Aneignung aber muß zu einer gründlichen Auseinandersetzung mit dem Durchschnittsstande des Lebens führen, im besondern fordert sie eine deutlichere Scheidung zwischen der Eröffnung selbständigen Lebens und der menschlichen Aneignung; bei weiterem Auseinandertreten beider Reihen zwingt sie uns von zwei Seiten aus zu arbeiten, dabei aber unbedingt die geistige Seite der menschlichen voranzustellen. Das ergibt eingreifende Folgen wie für alle einzelnen Lebensgebiete so im besonderen für die Geschichte und die Gesellschaft. Die Geschichte wird nunmehr ihren tiefsten Kern nicht mehr im Ergehen des bloßen Menschen, sondern in den Eröffnungen und Erfahrungen des überlegnen Lebens zu suchen haben; so allein ist ihr ein Sinn zu entringen. Ebensowenig darf das gesellschaftliche Zusammensein die menschliche Wohlfahrt zum Ziel der Ziele machen, vielmehr zieht es letzthin seinen Wert aus dem, was sich an geistigem Gehalt, an echter Wirklichkeit in ihm entwickelt. Nur das hebt das menschliche Leben und Streben über die Niederungen empor, die es sonst festhalten, ohne es je befriedigen zu können. Daß in solcher Abweisung alles bloßen Menschentums auch eine eigentümliche Gestaltung der politischen und sozialen Verhältnisse vorgezeichnet liegt, bedarf kaum der Erinnerung.

Nach der methodologischen Seite hin aber muß das weitere Auseinandertreten von Lebensentfaltung und menschlicher Aneignung zur deutlichen Scheidung eines noologischen und eines psychologischen Verfahrens dienen. Das noologische Verfahren hat uns später näher zu beschäftigen, es wird dabei auch ein gutes Recht des psychologischen anzuerkennen sein. Sein Anspruch, von sich aus den Geistesgehalt des Menschenlebens zu erklären, ist aber schon hier zurückzuweisen. Ein solcher Anspruch wird erhoben, wenn ganze Lebensgebiete als ein Erzeugnis besonderer seelischer Funktionen, etwa die Religion des bloßen Gefühls, die Kunst der bloßen Anschauung, verstanden werden. Er wirkt auch da, wo ganze Epochen der Geschichte auf das Vorherrschen besonderer Seelenvermögen zurückgeführt werden, etwa die Aufklärung auf den zergliedernden Intellekt, die Romantik auf Phantasie und unmittelbare Anschauung. In Wahrheit waren es überall Wendungen des Geisteslebens, welche diese oder jene seelischen Kräfte in den Vordergrund zogen; von diesen bloßen Kräften aus ist nie ein Gehalt des Lebens erreichbar; er wird verkannt und geschädigt, wenn jene zweite Betrachtung sich zur ersten aufwirft.

So entsteht überall die Forderung der Anerkennung und Aneignung, der Scheidung und der Umwälzung. Aufgaben über Aufgaben strömen damit auf uns ein. Alles miteinander aber zeigt uns inmitten einer Bewegung, die wir nicht hervorgebracht haben, und die doch unser eigen wird, die uns demütigt, aber zugleich erhebt. Aus träger Ruhe werden wir damit unbarmherzig aufgerüttelt, aber zugleich eröffnet sich der Ausblick auf ein wahrhaftiges Leben, und allem Versinken in Zweifel widersteht fest und sicher die Überzeugung, daß in uns die Kraft des Ganzen wirkt und uns auf Wege zur Wahrheit leitet.

c) Die Überwindung der moralischen Verwicklung

Der Mensch erschöpft sich nicht in die Leistung nach außen hin, er nimmt auch innerlich Stellung zu dem, was er tut und was an ihn kommt; über die einzelne Handlung hinaus erstreckt sich das auf das Ganze seines Verhaltens, nicht nur die Handlung als Leistung, sondern die Absicht des Handelnden bei ihr, der Mensch in der Richtung seines Strebens wird zum Problem; so erwachsen die Begriffe von gut und böse, so entsteht die moralische Bewertung und schließlich das Reich der Moral. Dies zusammen enthält eine folgenreiche Wendung, es erzeugt schwere Fragen und Verwicklungen. Solche Verwicklungen verrät schon das weite Auseinandergehen von Individuen und Zeiten in der Beurteilung des moralischen Standes der Menschheit. Einerseits ein fester Glaube an eine edle Grundgesinnung des Menschen, das Vertrauen, daß ein Zurückgehen auf sie ursprüngliche Quellen des Lebens erschließe und aller Verirrung, Verengung, Verschnörkelung gegebener Verhältnisse überlegen mache; andererseits ein völliger Unglaube an die moralische Haltung des Menschen, ein Hervorkehren seiner Unzulänglichkeit, ja Verderbtheit, die viel zu tief wurzeln, um sich je wesentlich ändern zu können. Das treibt nicht nur die Lebensstimmungen, sondern auch die Ziele des Handelns weit auseinander: dort frohe Zuversicht eines sicheren Weiter- und Weiterschreitens, hier das Hinnehmen des gegebnen Standes als eines unüberwindlichen Schicksals, jenes die Überzeugung aufsteigender Zeiten und auch aufsteigender Bevölkerungsklassen, dieses die alternder Zeiten und erstarrter Lebenslagen; dort der Gedanke der Freiheit, hier der der Ordnung voran; durchgängig entgegengesetzte Wertungen und Wege, zugleich aber die Unmöglichkeit einer Verständigung auf einer mittleren Linie, die Notwendigkeit einer unumwundenen Entscheidung. Zur Anbahnung einer solchen bedarf es aber zunächst eines Auseinanderhaltens verschiedener Schichten des Lebens, da ihre Vermengung nicht wenig zur Unsicherheit des Urteils beigetragen hat; es wird sich zeigen, daß wiederum die Anerkennung und Aneignung eines dem Menschen überlegenen, aber ihm gegenwärtigen Lebens, eines selbständigen Geisteslebens, erforderlich ist, um Klarheit zu gewinnen und unerträglichen Verwicklungen des Erfahrungsstandes gewachsen zu werden.

Eine Oberflächenschicht entsteht zunächst im geselligem Zusammensein, in den äußeren Berührungen und dem Alltagsverkehr der Menschen; diese Fläche strebt danach, das Leben möglichst glatt und gefällig zu gestalten, alle Gegensätze abzuschleifen, alle Reibungen fernzuhalten, allen Verwicklungen auszuweichen. Darum bemüht, pflegt der Mensch sich dem Menschen möglichst angenehm und liebenswürdig darzustellen, man vertreibt sich gegenseitig möglichst genußreich die Zeit, eine leichtgeübte Höflichkeit versteckt alle Ecken und Kanten, auch fehlt nicht eine gewisse Teilnahme, eine gewisse Gutherzigkeit. So mag hier ein anmutendes Bild vom Verhalten des Menschen entstehen. – Aber nur kindliche Unerfahrenheit oder sträfliche Flachheit kann dieses Bild seine Gesamtschätzung beherrschen lassen. Denn so wenig jenes Benehmen nur Schein und Heuchelei ist, so sehr es sogar ein gewisses Recht darin hat, dem Leben überflüssige Störungen fernzuhalten: wie wenig tief dieses Verhalten geht, das kann keinem Zweifel unterliegen; herbe Enttäuschungen sind dem unvermeidlich, der die bloßen Spielmarken des Lebens für echte Goldmünzen nimmt; einem von diesen Eindrücken genährten Optimismus gegenüber darf der Pessimismus sich als ein Vertreter der Wahrheit gegenüber dem Scheine geben.

Denn beim Betreten des Gebietes des Ernstes, der Schicht der Interessen und der Arbeit, erscheint ein völlig anderes Bild: kein freundschaftliches Zusammenhalten, sondern ein völliges Auseinandergehen, ja eine innere Verfeindung der Menschen, ein Reich des Streites, Neides und Hasses. Als weitüberlegene Macht zeigt sich hier ein schrankenloses Streben der einzelnen Punkte nach Selbsterhaltung und Gelingen, in dem sie unbekümmert umeinander, ja in geradem Gegensatz zueinander nur die eignen Ziele verfolgen. Mag dieses Streben sich mannigfach verstecken, durch alle Verhüllung scheint dem schärferen Betrachter leicht seine wahre Natur hindurch. Es wechselt seine Formen, aber es verändert dabei nicht sein Wesen, es wird durch äußere Einrichtungen wohl eingedämmt, aber in seinem Grunde nicht gebrochen, es begleitet das menschliche Leben auf alle Höhen und erscheint an diesen Höhen gemessen ganz besonders in seiner moralischen Niedrigkeit. Nirgends konnte die weltgeschichtliche Arbeit ausgeprägte Ideale erzeugen, ohne die moralische Unzulänglichkeit des Menschen eigentümlich zu beleuchten. Die Höhe des griechischen Altertums forderte für das Leben festes Beharren und abgrenzendes Gleichmaß, sie fand den Menschen in unablässiger Veränderung begriffen und mit seinen Begierden ins Unbegrenzte gehend; das Christentum verkündete die beherrschende Macht der göttlichen Liebe und forderte eine willige Hingebung und innere Erneuerung des Menschen durch diese Liebe, es fand einen trotzigen Eigenwillen und ein starres Sichverhärten in Selbstsucht; die Neuzeit verfocht das Ideal fortschreitender Kraftentfaltung, eine Steigerung des Lebens ins Unendliche zu äußerer und innerer Beherrschung der Welt, sie verlangte dafür frischen Lebensmut, volle Regsamkeit, kühne und tapfere Wagelust, sie fand statt dessen im Übergewicht Trägheit, Stumpfheit und Feigheit bei den großen Lebensaufgaben. So waren bei allem Auseinandergehen die verschiedenen Richtungen einig in der Geringschätzung des moralischen Verhaltens des Menschen; allen gemeinsam war auch die Klage, daß der Mensch sich weit besser und edler darzustellen liebe, als er in Wirklichkeit ist, sowie daß er in seinen eignen Dienst zu ziehen und zu eignem Nutzen zu verwenden suche, was ihn über sich selbst hinausheben und auf neue Wege führen sollte. Durchgängig erschien dabei nicht ein bloßes Zurückbleiben hinter den Forderungen, sondern ein schroffer Widerspruch zu ihnen, und durchgängig beschränkte dieser Widerspruch sich nicht auf einzelne Punkte, sondern er schien den Gesamtstand des Menschen zu durchdringen. Daß innerhalb dieses Standes erhebliche Unterschiede bestehen, daß von der überwiegenden geringen Art sich bisweilen eine edle abhebt, das läßt sich dabei ganz wohl anerkennen, aber einmal verändert das nicht den Gesamtstand, und dann wuchs jener Minderzahl Edlerer mit der Vertiefung auch die Strenge der Beurteilung; so pflegten jene sich nicht im mindesten gegen eine Teilnahme an der gemeinsamen Not und Schuld zu sträuben, ja so empfanden sie stark die eigene Unvollkommenheit; »die Heiligen pflegen sich für Sünder, und die Sünder für Heilige zu halten« (Pascal).

Solche Eindrücke und Erfahrungen machten den moralischen Pessimismus dem Optimismus weit überlegen. Jener schien klarer zu sehen, genauer zu beobachten, richtiger zu schätzen, er vermochte das Leben tiefer in alle Verzweigung zu verfolgen und es gründlicher von allem anhaftenden Schein zu befreien; so haben denn allezeit als die besseren Menschenkenner die Pessimisten gegolten.

Aber die Schicht, aus der diese Art von Menschenkenntnis schöpft, bildet nicht den ganzen Menschen, ein dauernder Abschluß beim Pessimismus hat sich der Menschheit stets als unmöglich erwiesen, im Grunde auch den Pessimisten selbst, sofern sie ein Ganzes des Lebens erstrebten und sich nicht wehrlos der verworrenen Lage ergaben. Nicht nur würde ein absoluter Pessimismus das Leben zu völligem Stillstand verdammen, – und das Leben geht doch nicht in Egoismus und Glücksgier auf, es steckt doch wohl mehr in ihm –, er läßt vieles bei uns unerklärt, was eine andere Richtung weist. Schon daß wir den vorgefundenen moralischen Stand so stark als unzulänglich, ja unerträglich empfinden, zeigt, daß wir ihm nicht gänzlich verfallen sind, daß wir nicht wie eine Giftpflanze oder wie ein reißendes Tier nur eine starre Natur befolgen. Wie immer es mit der moralischen Haltung des Menschen stehen mag, und wie weit die Fassungen der Moral auseinandergehen mögen, eine moralische Bewertung machte sich überall geltend, wo die menschliche Entwicklung eine gewisse Höhe erreichte; überall wurden gewisse Handlungen unabhängig vom Vorteil des Einzelnen für gut, andere für böse erklärt, und solche Beurteilung rief auch manches Handeln hervor, mochte dessen Ausführung noch so mangelhaft bleiben. Auch das bekundet eine Macht der Moral, daß der Mensch dem Bösen selbst den Schein des Guten zu geben und es damit nicht nur vor anderen, sondern auch vor sich selbst zu rechtfertigen sucht; warum sucht es diesen Schein, wenn er nicht von ihm eine Stärkung der Macht erwartet? Auch in den Beziehungen und den Zusammenstößen der Völker erschien ein eifriges Streben, wenigstens den Schein des Rechtes für sich zu gewinnen, als befestige das die eigne Stellung, schwäche dagegen den Feind. In Wahrheit hat das Bewußtsein, eine gerechte Sache zu verfechten, in den politischen, nationalen und geistigen Kämpfen eine gewaltige Macht geübt. Auch sei nicht übersehen, daß das Durchschnittsleben, mochte es in der Gesamthaltung noch so unzulänglich sein, nach besonderen Richtungen hin viel Uneigennützigkeit, viel Hingebung, ja Aufopferung unablässig erweist, so in der Familie, so im Beruf, so jetzt namentlich bei der Nation. Vor allem aber brach in großen Erschütterungen und Nöten, sei es Einzelner, sei es ganzer Völker, eine völlig andere, eine unvergleichlich edlere Gesinnung hervor, als sie der Durchschnitt des Lebens zeigt, ein deutliches Zeugnis dessen, daß dieser Durchschnitt nicht das ganze Leben ausmacht, daß hinter ihm eine tiefere Schicht vorhanden ist, die in freudigem Kraftaufgebot und völligem Selbstvergessen den Menschen ganz anders darstellt. Der Pessimismus gerät ins Unrecht, wenn er das alles herabzuziehen und auf unlautere Beweggründe zurückzuführen sucht; durch jenes alles wird seiner völligen Verneinung unverkennbar eine Grenze gesetzt.

Aber so hoch wir das alles anschlagen mögen, die Verwicklung hebt es nicht auf, eher führt es noch tiefer in sie hinein. Jenes Wirken vom Grunde des Lebens her pflegt bei matten Umrissen zu verbleiben, auch ist es bei sich selbst ungeklärt und unterliegt daher manchem Zweifel und Angriff; es für ein a priori nach heute beliebter Weise erklären, heißt keineswegs es begründen; ferner gibt jene Erweisung nach besonderen Richtungen und in einzelnen erregten Augenblicken der Moral nicht die Kraft, den ganzen Menschen zu durchdringen und den Aufbau seines Lebens zu gestalten. Vielmehr erscheint das Höhere als eine bloße Umsäumung und als ein Ausnahmsfall, damit mehr geeignet das Ungenügen des Durchschnittsstandes empfinden zu lassen, als ihm gegenüber einen neuen Lebensstand zu begründen. Wir ahnen mehr eine größere Tiefe als wir ihr eine Selbständigkeit zu geben vermögen. Aus dem Zusatz des Höheren zum Niederen ergibt sich ein Stand der Vermengung, der Halbheit, der inneren Unwahrhaftigkeit. Das Handeln nimmt ein gewisses moralisches Element in sich auf, aber als untergeordnet und nebensächlich; es gibt das aber für die Hauptsache aus und verquickt es zugleich so sehr mit dem Niederen, daß die Grenzen ineinander verlaufen und das Höhere alle Selbständigkeit einbüßt. So erwächst der Stand des Gemenges, der Unlauterkeit und der moralischen Schwäche, welcher der Menschheit so oft vorgerückt ward, und diesen Stand hat der Fortschritt der Kultur mit der steigenden Verwicklung der Verhältnisse eher ins Schlechtere als ins Bessere verschoben. Dies Durchwachsen sein der Kultur mit moralischer Unwahrhaftigkeit samt der Aussichtslosigkeit, sich auf ihrem Boden je davon zu befreien, war es, was wiederholt den leidenschaftlichen Versuch eines Bruches mit aller Kultur und eines wieder aufnehmen vermeintlich reiner Naturanfänge hervorgerufen hat. Aber einmal waren diese Anfänge nur flüchtig betrachtet reiner Art, und dann lässt die Kultur uns keineswegs so einfach wieder los, sie hat aus uns andere Menschen gemacht, sie lässt sich unmöglich wie ein aufgezwungenes Gewand abwerfen. So bleibt die moralische Verwicklung und droht uns immer tiefer in sich zu verstricken, zugleich aber nimmt sie aller Kulturbewegung die innere Freudigkeit und auch allen starken Antrieb. Wir arbeiten unermüdlich weiter und weiter, aber wir treiben dabei immer mehr in die Verwicklung hinein, bei unablässigem Gewinn an der Peripherie droht das Zentrum unseres Lebens zu verlieren; wir reden zuversichtlich vom Fortschritt der Entwicklung und gewahren nicht, dass diese Entwicklung zugleich eine innere Verzehrung ist. Das ist die Tragik wohl aller Kultur: sie baut emsig und zuversichtlich weiter, und im Weiterbauen zerstört sie den Grund, der sie selber tragt. In dieser unerträglichen Notlage, die nur flachste Denkart wegzudeuten versuchen kann, hat die Religion als Erlösungsreligion, im besonderen die christliche, der Menschheit ihre Hilfe angeboten, indem sie eine völlige Befreiung von der alten verrotteten Art und die Schöpfung einer neuen durch göttliche Liebe und Gnade verhieß; sie gab dem Problem damit den denkbar stärksten Ausdruck und vertrat die unabweisbare Wahrheit, daß, wenn eine Wandlung an dieser entscheidenden Stelle überhaupt möglich ist, sie eines Wirkens und eines Ergreifens weiterer Zusammenhänge bedarf. Aber in der kirchlich-dogmatischen Formulierung gibt sie jener Wahrheit eine sehr angreifbare Fassung. Bestrebt, die Verantwortung des Menschen aufs höchste zu steigern, bürdet sie ihm alle Schuld der Verwicklung auf, läßt sie seine Sünde die ganze Welt verwirren, wo doch deutlich genug zutage liegt, daß jene Verwicklung weit über alle bewußte Tat und Entscheidung des Menschen hinausreicht und die Versuchung alle Verhältnisse durchdringt. Die Natur zwingt uns einen Kampf ums Dasein auf, und die Enge des Raumes läßt uns hart mit einander zusammenstoßen, der Vorteil der einen gestaltet sich hier unvermeidlich zum Nachteil der anderen. Unerbittlich hält diese niedere Lebensstufe den Menschen fest und zieht das Aufstreben zu sich zurück. Die Kultur hebt Versuchungen gröberer Art, aber sie führt dafür feinere ein, die wohl noch verlockender sind; sie ruft Kräfte in weitem Umfang wach, ohne sie zu richten und zu binden; sie reizt zu Genußsucht, Habgier und Übermut, indem sie die Genüsse steigert und dem Besitz wie der Macht einen höheren Wert verleiht, sie umfängt dabei, wie wir sahen, den einzelnen mit überlegener Macht und reißt sein Wollen mit gewaltigem Zuge fort. So scheiden sich in der Wirklichkeit des Lebens Gut und Böse nicht so deutlich voneinander, wie in den dogmatischen Lehrsystemen. Natur und menschliche Lebensverhältnisse verweben aufs engste Schicksal und Schuld und lassen sie oft unmerklich ineinander übergehen. Bei solcher Lage nun gar für allen Kampf und alles Leid im All dem Menschen die Schuld aufbürden, das mochte naiveren Zeiten möglich scheinen, das ist uns mit der Erweiterung und Klärung der Begriffe schlechterdings unmöglich geworden. Anthropozentrisch denken heißt nicht schon tief und ethisch denken, ja hinter der geflissentlichen Hervorkehrung menschlicher Sündhaftigkeit kann arger geistlicher Hochmut stecken. – Wie aber die herkömmliche kirchliche Erklärung des Schadens, so kann auch die dort vertretene Art seiner Heilung dem geistigen Stande der Gegenwart nicht mehr genügen. Jene erfolgt zu sehr bloß am Menschen als Objekt, zu wenig durch den Menschen als Subjekt; das Wunder verwandelt sich nicht genügend in eigene Tat, in Aktivität der ganzen Seele, zugleich droht die Wendung nickt den ganzen Bereich des Lebens zu durchdringen; ja einer strengeren Fassung der Lehre fallen alter und neuer Mensch so sehr auseinander, daß selbst die moralische Identität der beiden unsicher wird. So wesentliche und so unentbehrliche Wahrheiten daher die religiöse Lösung des moralischen Problems enthält, ihre herkömmliche Fassung widerspricht der durch den Verlauf der Jahrtausende errungenen Denkart zu sehr, um das gemeinsame Bekenntnis der Menschheit bleiben zu können; eben damit die in ihr enthaltene unabweisbare Wahrheit zu voller Wirkung gelange, müssen wir eine Befreiung von diesem Widerspruch fordern. Sehen wir, was in dieser Richtung die Gedankenwelt des absoluten Lebens fördern kann.

Zunächst läßt sich von ihr aus unzulänglichen Fassungen der Moral entgegenwirken und zugleich die ihr gezollte Schätzung besser begründen, als es meist geschieht. Es kann nämlich nur die Macht der Gewohnheit die Moral als eine einfache, ja selbstverständliche Sache erscheinen lassen, da sie in Wahrheit ein schweres Rätsel bildet, ein schwereres als die Religion. Aus dem gesellschaftlichen Zusammensein geschichtlich erwachsen, ist sie durch die steigende Verinnerlichung des Lebens weit über jenes hinausgewachsen; die wirksamste und volkstümlichste Gestalt gab ihr später die Religion, aber nicht nur rief die hier gebotene Begründung manche Zweifel hervor, auch die Selbständigkeit und die Ursprünglichkeit der Moral schien damit schwer gefährdet; verstand demgegenüber das moderne Leben diese oft als eine Einfügung des Individuums in die Kulturarbeit, den die Menschheit durchwaltenden Kulturprozeß, so schied sie damit aus dem Kern des geistigen Schaffens aus und sank zu einem bloßen Übergangsvorgang oder einer nebensächlichen Begleitung. Die ihr notwendige Schätzung kann die Moral nur rechtfertigen, wenn sie nicht eine Erscheinung am bloßen Individuum, sondern eine das ganze Leben durchwaltende und erhöhende Macht bedeutet; dies aber kann sie nur, wenn jenes nicht als ein durch äußere oder innere Notwendigkeit getriebener Prozeß, sondern wenn es als ein Beisichselbstsein verstanden wird, ein Beisichselbstsein, das sich durch fortlaufende Tat immer neu zu behaupten und zu erhöhen hat. Für den Menschen gilt es dann bei der Moral eine Versetzung in dieses bei sich selbst befindliche, wirklichkeitbildende Leben, ein Teilgewinnen an der Ursprünglichkeit und am Gehalt des Ganzen, ja den Gewinn eines neuen Selbst aus dem Einswerden mit diesem Ganzen; solche Wendung muß notwendig auch alle Verzweigung des Lebens umgestalten. Zugleich erhellt, daß solcher Gewinn eines neuen Lebens alle Leistung nach einer besonderen Richtung weit überwiegt, daß die Vollendung der Leistung selbst, sofern sie geistiger Art ist, durchgängig jene Wendung im Ganzen voraussetzt, so z. B. die Bildung einer Individualität, so auch der Zusammenschluß zur Nation. An dem selbsttätig schaffenden Leben der absoluten Einheit hängt letzthin das Leben und der Lebensgehalt jeder einzelnen Stelle, es stammt schließlich aus jener Quelle. Nun aber liegt es in dem Wesen der Selbsttätigkeit begründet, daß jenes Selbstschaffen des Lebens der einzelnen Stelle nicht von außen her zufließt, sondern daß seine Aneignung ihrer eignen Tat bedarf; damit tritt ein Element der Freiheit ein, es wird eine Frage gestellt, die sich verschieden beantworten lässt. Hier aber ist die Tatsache ebenso unerklärlich wie unbestreitbar, daß die uns umfangende Welt weithin eine Lockerung des Zusammenhanges und eine Ablösung der Lebenselemente von ihrem Grunde aufweist, damit aber ein wurzelloses und dabei doch nicht völlig nichtiges, nickt völlig machtloses Leben. So reicht eine Spaltung und Verwerfung in das Leben selbst hinein, soweit die Welt der Erfahrung es aufweist. Das zeigt schon die Natur, die mit ihrer Zerstreuung der einzelnen Elemente und ihrer Verbindung formaler Gesetzlichkeit mit unablässigem Kampf, ihrer Zweckmäßigkeit im Einzelnen und scheinbaren Zwecklosigkeit im Ganzen eine Mischung von Vernunft und Unvernunft bildet; so zeigt es in gesteigertem Maße das Menschheitsleben. Denn wie sich hier einerseits die Möglichkeit eröffnet, die schaffende Lebenseinheit durch erhöhende Tat als eignes Selbst zu gewinnen, so besteht hier auch die andere Möglichkeit, die von der Wurzel abgelösten Kräfte jener Einheit direkt entgegenzusetzen und die Abwendung zur bewußten Gegenwirkung und damit zum Bösen zu steigern. Dabei beschränkt sich, wie schon früher ersichtlich wurde, solche Verfeindung der Kräfte mit ihrer Wurzel nicht auf einzelne Stellen, vielmehr besteht eine Atmosphäre des Widerspruches oder doch der Unlauterkeit, es zeigt sich deutlich, daß der Aufstieg des Lebens in unserem Weltbereich eine durchgehende Hemmung erfährt und sich gegen harte Widerstände aufzuarbeiten hat. Alle Versuche, diesen Stand der Zerklüftung zu erklären oder gar wegzudeuten, haben sich als verfehlt erwiesen; auch was die geschichtlichen Religionen in dieser Richtung versuchten, hat das Problem nicht sowohl gelöst als nur umschrieben. Jeder Versuch, eine so tief wurzelnde und so ausgebreitete Strömung von der einzelnen Stelle aus zu heben oder auch nur an dieser Stelle irgendwie gegen sie aufzukommen, ist schlechterdings aussichtslos; einer Verwicklung, die das Ganze betrifft, ist nur eine Gegenwirkung aus dem Ganzen gewachsen. Diese kann aber nur erfolgen, wenn das Ganze des Lebens nicht in jenen Stand der Entzweiung aufgeht, sondern in seinem Grunde ihm überlegen bleibt und von jenem aus sich weiter zu erschließen vermag; für uns Menschen aber in der weiteren Überzeugung, daß eine solche Erschließung einer neuen Lebenstiefe auch uns zugeht und uns ein von der Spaltung und Zerrüttung unberührtes Leben eröffnet. Dies neue Leben könnte aber nie zur Haupttriebkraft unseres Strebens werden, es könnte eine innere Fremdheit nie überwinden, würde es uns nur von außen her eingegossen, könnte es nicht unmittelbar unser eignes Leben werden, sich uns in ein Selbst verwandeln. Damit erst, daß das Übermenschliche zugleich ein Innermenschliches wird und bei seiner Überlegenheit zugleich als Allernächstes und Allergewissestes wirkt, den Hauptstandort des Lebens bildet, ergibt sich die Möglichkeit einer moralischen Lebensgestaltung, und rechtfertigt sich zugleich die Überzeugung, daß das Wirken dafür gegenüber den ungeheuren Widerständen nicht völlig verloren ist. Denn wirkt in jener Wendung die Kraft des Ganzen, so wird damit ein Boden gewonnen, auf dem was sonst in der Luft zu schweben scheint, sich fest zu begründen, und was sich sonst in einzelne Vorgänge zerstreut und zersplittert, einen Zusammenhang zu bilden vermag. Nun kann jene tiefere Schicht wesenhafter Seelenbildung, die sonst gegenüber der Schicht der Arbeit und der Interessen keine Selbständigkeit erlangte, eine solche ganz wohl gewinnen und sich zu einem eignen Reich gestalten; nun rechtfertigt es sich auch, das Menschsein als einen hohen, ja als einen allen übrigen Lebensentfaltungen überlegenen Wertbegriff zu behandeln, indem hier allein das Leben ein reines Beisichselbstsein wird, es auf seine ursprünglichsten Quellen zurückgeführt und dadurch stets in frischem Fluß gehalten wird. Von hier aus muß alles als eine Verengung und Erstarrung erscheinen, was in dem Menschen an erster Stelle ein Glied des Staates oder der Gesellschaft sieht, aber auch das, was ihn an erster Stelle zum Diener bloßer Kulturarbeit macht. Aber das alles gilt nicht sowohl für das, was der Mensch unmittelbar schon ist, als für das, was bei ihm vorgeht und was durch den Zusammenhang mit der Lebenseinheit aus ihm werden kann; auch gilt es nicht für den ganzen Umfang des Lebens, sondern zunächst nur für eine seelische Tiefe, neben der die Welt der Unlauterkeit und der Zerrüttung fortbesteht. So bleibt das Gesamtleben des Menschen mit einem schroffen Gegensatz behaftet und daher in starker Spannung, fortdauernd ist gegenüber dem menschlichen Zusammensein und dem Reich der Kultur ein selbständiges Reich wesenhafter Seelenbildung durch Aneignung des neuen Lebens zu schaffen und aufrechtzuhalten; da sich das nicht auf den einzelnen beschränkt, sondern auf das Ganze der Menschheit geht, so bedarf es notwendig der Bildung eines besonderen Lebenskreises, der sich jener Aufgabe annimmt, gegenüber dem meist kläglichen Durchschnittstreiben des bloßen Menschentums die Aufgabe der Einigung mit dem schaffenden Leben vertritt und das Streben nach dieser Richtung zusammenhält; wir bedürfen eines solchen Lebenskreises, der an erster Stelle nicht für das Befinden der Menschheit, sondern für die Entfaltung absoluten Lebens in der Menschheit und damit für eine innere Erhöhung der Menschheit wirkt. Die mittelalterliche Kirche hat sich dieser Aufgabe in großem Stile angenommen, aber sie hat dieselbe zu sehr als eine bloße Erziehung von oben her, zu wenig als eine Sache eigner Entscheidung und freier Tat verstanden, sie besitzt zu wenig innere Mannhaftigkeit, sie ist daher vielfach ins Enge und Starre geraten. Aber solche Unvollkommenheit der Ausführung erschüttert das Recht, ja die Notwendigkeit des Grundgedankens nicht; zu ihm wird die Menschheit immer wieder zurückgetrieben werden, wenn sie das trübe Gemenge des Daseins, die Verquickung von Vernunft und Unvernunft, von Gutem und Bösem nicht als den letzten Abschluß betrachten und damit bei wachsender Austreibung schönfärbender Illusionen nicht völliger Hoffnungslosigkeit verfallen will. Wohl macht, wie wir sahen, auch das Ergreifen des überlegenen Lebens den Bereich des Menschen nicht schon zu einem Reiche reiner Vernunft. Aber der Mensch ist nunmehr nicht mehr jener Sphäre gänzlich ausgeliefert, er kann ihr gegenüber eine neue Art des Lebens gewinnen, sich in ihr mehr und mehr befestigen, dem Leben eine hohe Aufgabe stellen. So wenig wir hoffen dürfen, daß je ein tausendjähriges Reich bei uns verwirklicht werde, es könnte gar wohl sich mehr und mehr selbständiges Leben bei uns entfalten und unserem Streben wie ein festes Ziel so auch einen unverwerflichen Wert verleihen. Dann läßt sich die Unfertigkeit unserer Lage ganz wohl ertragen, dann wird sie nicht zur Vergeblichkeit, dann wird der Pessimismus in der Wurzel gebrochen, der den Menschen ganz und gar in die zwiespältige Lage aufgehen läßt. Damit unser Streben nickt mit dem Optimismus ins Flache und mit dem Pessimismus ins Matte gerate, bedarf es der Möglichkeit, die Mängel des menschlichen Daseins vollauf anerkennen und allen Versuch einer Abschwächung fernzuhalten, zugleich aber den Glauben an die Weltmacht des Guten und den Mut zum Leben vollauf zu wahren. Eine solche Möglichkeit liefert aber allein die Gegenwart und die Aneignung des schaffenden Lebens.

c) Die Überwindung der Zersplitterung des Geisteslebens

Das schaffende Leben läßt sich nicht, wie es sich uns als notwendig erwies, gegenüber dem menschlichen Stande als selbständig anerkennen und ihm als ein hohes Ziel entgegenhalten, ohne daß viel Arbeit und Verwicklung aus dem Streben nach seiner Erreichung entsteht. Im besonderen zeigt jede nähere Betrachtung, daß wir uns jenem Ziel nur allmählich zu nähern vermögen, und daß wir dafür verschiedener Angriffspunkte und Bewegungsrichtungen bedürfen. Diese sind notwendig, weil für uns Menschen alle Geistigkeit bei einem matten und kraftlosen Umriß verbleibt, wenn sie sich nicht zu irgendwelchem Schaffen einer Wirklichkeit zu verdichten vermag, und das ist für uns unmittelbar nur in besonderer Richtung und in begrenztem Kreise erreichbar; nur in der Beschränkung wird uns das Leben zu vollem Leben. Aber zugleich entsteht die Gefahr, ja die Notwendigkeit, daß sich verschiedene Bewegungen bilden, weit auseinandergehen, ja in einen schroffen Gegensatz treten, dadurch aber das menschliche Leben zerreißen und die Bewegung zur Geistigkeit unsicher machen. Das bildet auch ein wesentliches Stück des menschlichen Geschickes, daß sich bei uns nicht nur eine höhere Art gegen die niedere durchzusetzen hat, sondern daß die nähere Gestaltung der höheren Art erst zu erringen ist und unsäglich viel Spaltung und Streit erzeugt, ja die Menschheit in feindliche Lager scheidet. Die Geschichte zeigt deutlich genug, daß der Kampf innerhalb des Geisteslebens oft mehr Bewegung und Erbitterung hervorrief, als der Kampf nach außen hin. Es handelt sich dabei nicht bloß um verschiedenartige Theorien, um abweichende Deutungen eines gemeinsamen Tatbestandes, sondern der Tatbestand selbst kommt in Frage, es entstehen verschiedene Lebensentfaltungen, Lebensströme, die notwendig verschiedene Gedankenwelten und verschiedene Methoden mit sich bringen. Das alles läßt unsäglich viel Verwicklung erwarten, es löst auch die geschichtliche Bewegung in verschiedene Fäden auf. Trotzdem sei das Auseinandergehen nicht als eine Irrung verworfen und möglichst einzustellen gesucht; die Differenzierung ist unerläßlich, damit sich die Fülle des Lebens herausarbeite und sich seine verschiedenen Seiten entfalten; viel Hemmung und schwerer Druck ist daraus entstanden und entsteht fortwährend daraus, daß eine der Bewegungen ausschließlich gelten und herrschen will, daß sie sich als das Ganze des Lebens gibt. Das entzweit nicht nur die Menschheit bis zur völligen Verständnislosigkeit, es muß das Leben selbst durch die Bindung an eine besondere Art und durch die Zerlegung in besondere Kreise verengen und von seinen tiefsten Quellen entfernen. Dem läßt sich nur widerstehen, wenn vom Ganzen her der Zersplitterung eine zusammenhaltende Kraft entgegenwirkt; um das zu leisten, darf das Ganze kein passiver Boden, kein leerer Raum verbleiben, in dem die Lebensströme einander begegnen, sondern es muß auch als Ganzes einen Charakter erweisen und von ihm aus eine Prüfung und Weiterbildung der verschiedenen Lebensströme vollziehen, zugleich aber eine Verständigung ihrer erstreben, ohne den eigentümlichen Gehalt der Mannigfaltigkeit aufzugeben. Nur so wird sich eine Einförmigkeit mit ihrem starren Druck vermeiden lassen, ohne daß ein Zusammenhang aufgegeben wird; nur so kann auch dem besonderen Kreise in der Ausbildung seiner Eigentümlichkeit zugleich der Gedanke des Ganzen mit vertiefender Kraft gegenwärtig sein. Es wird sich zeigen, daß in dieser Richtung die Gedankenwelt des selbständigen schaffenden Lebens die notwendige Hilfe bringt; sie macht sowohl die Differenzierung begreiflich als sie der Entzweiung entgegenzuwirken gestattet; so wenig diese Gegenwirkung einen fertigen Abschluß bringt, sie kann eine fruchtbare Bewegung erzeugen und vor einer Erstarrung behüten.

In drei Richtungen gilt es vornehmlich eine Mannigfaltigkeit anzuerkennen und eine Zersplitterung zu verhüten. Zunächst bei der Fassung des allgemeinsten Begriffs des Lebens, dann bei seinen Haupteigenschaften, endlich bei seiner Gestaltung in der geschichtlichen Arbeit. Die Mannigfaltigkeit nimmt sich bei diesen verschiedenen Arten verschieden aus, sie erscheint bald mehr als eine zu durchlaufende Stufenfolge, bald als ein zu gegenseitiger Ergänzung berufenes Nebeneinander; immer aber gilt es in der Scheidung eine Bewegung des Gesamtlebens anzuerkennen und voll zur Wirkung zu bringen.

a) Der Aufstieg des Lebens durch seine Hauptstufen

Das Leben stellt sich uns zunächst in lauter einzelnen Vorgängen dar, diese Vorgänge erfüllen die Mühen und Sorgen des Alltags. Aber über dies wirre Nebeneinander drangt ein Lebenstrieb hinaus und besteht auf Herstellung eines Zusammenhanges, auf Einfügung alles Einzelnen in ein Gesamtbild. Aber dieser Trieb herrscht nicht unbedingt, schon hier liegt ein Punkt der Entscheidung: der Mensch kann bei der Zerstreuung bleiben, er kann sie zu überwinden suchen; er kann sich von Punkt zu Punkt bewegen, er kann sich über ihr Nebeneinander erheben und alle Mannigfaltigkeit des Strebens einer gemeinsamen Aufgabe unterordnen. Für das Letztere aber bedarf es eines überlegenen Standorts, und dafür ergibt sich dem Menschen sofort ein sich ausschließendes Entweder-Oder. Wir entwickeln uns aus der Natur heraus und bleiben ihr vielfach verhaftet, und es regt sich in uns ein neues Leben, das eigne Kräfte und Gesetze zu haben behauptet; jenes in der Ausdehnung weit überlegen, dieses sich innerlich überlegen fühlend. Nur hier oder dort kann der Hauptstandort des Lebens liegen; je nach der Entscheidung entliehen die Lebensgestaltungen, die hier der Kürze halber Naturalismus und Idealismus heißen mögen. Der Naturalismus erweitert die Natur zum All, er möchte allen Zusammenhang von den Elementen her ableiten, er sieht alles Gemeinsame nur am Einzelnen; er vertritt ein gutes Recht, wenn er die Macht des Naturgeschehens und sein Hineinreichen auch ins Innere der Seele verficht; er überspannt dieses Recht und verwickelt das Leben in einen Widerspruch mit sich selbst, wenn er alle geistige Leistung einem erweiterten Begriff der Natur einfügt. Denn das Streben nach einem Ganzen, das auch den Naturalismus beherrscht, setzt ein Selbständigwerden des Denkens und Lebens gegen das Nebeneinander der bloßen Natur voraus, ein strenges Binden an dieses würde wie allen Versuch einer Zusammenfassung so auch den Naturalismus selbst unmöglich machen; so untergräbt seine Behauptung den Boden, auf dem er selber steht. Dieser Widerspruch muß ein inneres Zerwürfnis und zugleich eine Unbefriedigung des hier erwachsenden Lebens erzeugen. Das überschauende Denken muß ein Leben aus dem Ganzen und für das Ganze fordern, geboten werden aber kann hier nur eine zerstreute Fülle einzelner Erlebnisse; das ergibt eine innere Leere, die sich immer mehr auch der Empfindung aufdrängen muß. So kann ein Kraft entfaltendes Leben sich unmöglich diesen Abschluß gefallen lassen, es wird über ihn hinaus auf die andere Seite gedrängt und kommt damit auf die Bahn des Idealismus, der nicht den Geist von der Natur, sondern die Natur vom Geist, nicht die Tatwelt vom Dasein, sondern das Dasein von der Tatwelt her zu verstehen sucht und gestalten will. Dieser Versuch aber führt alsbald zu einer neuen Frage und fordert eine neue Entscheidung. Wird die Tatwelt stark genug sein, das Dasein ganz an sich zu ziehen und die eigne Schätzung der Dinge ausschließlich durchzusetzen, oder begegnet sie einem Widerstand, den sie nicht glatt und rein überwinden kann, der vielmehr ihr gegenüber beharrt und Macht übt? Die Entscheidung für jenes ergibt einen absoluten Idealismus, der aber, wie sich gleich zeigen wird, unvermeidlich in einen formalen und abstrakten ausläuft; die andere einen Idealismus pessimistischer und skeptischer Art. Wie der absolute Idealismus alle Wirklichkeit aus der eignen Bewegung des Geistes hervorgehen läßt, so setzt er volles Vertrauen auf ein spekulativ-deduktives Verfahren und sieht in aller Mannigfaltigkeit des Einzelnen nur Stufen und Seiten einer Gesamtbewegung. Es entsteht hier ein eifriges Streben, Weltbegriffe zu gewinnen, welche alle Wirklichkeit umfassen und sie als ein Reich der Vernunft erweisen; es gelingt ihm das bei gewissen Grundformen des Geschehens, im Aufzeigen eines Kausalzusammenhangs und eines Wirkens durchgehender Gesetze, auch gewisser Bewegungsrichtungen; aber die Stärke wird zur Schwäche, wenn diese Grundformen alles sein sollen und alles Sorgen um einen Gehalt der Wirklichkeit verdrängen. Denn statt einer lebensvollen Wirklichkeit wird dann ein bloßes Formengerüst, ein Schema der Wirklichkeit geboten, das dem Leben unmöglich das erstrebte Beisichselbstsein gewähren kann, das zu einem bloßen Schatten zu sinken droht. Das Durchschauen dessen ergibt leicht eine Wendung des Idealismus zum Skeptizismus und Pessimismus. Diesem scheinen die Widerstände zu gewaltig, um sich von uns erfolgreich bekämpfen zu lassen, unserem Erkennen scheint die eigene Natur der Dinge verschlossen, unser Handeln an die Oberfläche gebannt und vom Kern unseres Wesens ausgeschlossen, der doch nach unserem moralischen Urteil sehr der Umwandlung bedarf. Diese Denkweise schärft den Blick für den Tatbestand von Menschen und Dingen, sie würdigt unbefangener ihre Dunkelheit und Starre, die der absolute Idealismus zu unterschätzen oder gar wegzudeuten neigt, sie ist stark in scharfer Kritik und feinsinniger Reflexion. Der Widerstand mag namentlich dann unüberwindlich scheinen, wenn er sich nicht sowohl als eine Beschränkung nach außen hin, sondern als eine innere Zerrüttung ausnimmt; denn jene ließe sich ganz wohl ertragen, ohne daß der Grund der Überzeugung wankend würde, bei dieser dagegen ist eine Erschütterung unvermeidlich. So würde das Leben völlig stocken, bildete diese Überzeugung den letzten Abschluß. Aber auch sie enthält einen Widerspruch, über den das Leben selbst hinausdrängt. Unzulänglich, ja verwerflich erscheint der Lebensstand nur wegen des hohen Maßes, das an ihn angelegt wird; dieses Maß aber wird uns nicht von außen aufgedrängt, sondern es geht aus dem Leben selbst hervor und bekundet damit dessen Tiefe. Nur deshalb genügt unser Erkennen uns nicht, weil unser Denken einen Einblick in das eigne Wesen der Dinge fordert, nur deshalb nicht unser moralischer Stand, weil wir auf Lauterkeit der Gesinnung bestehen und bestehen müssen. Aber erweist solche Forderung selbst nicht das Walten eines höheren Leben in uns, und widersteht ein solches Leben nicht sicher einer völligen Ergebung in die Unvernunft? Nur ist, was hieran solchem Leben anerkannt wird, zu matt, um weiterzuführen, es nimmt den vorhandenen Stand als endgültig hin und muß daher mit einer Dissonanz schließen. Über diesen Abschluß aber drängt ein Idealismus hinaus, der ein positiver heißen könnte; er tut das aus der Überzeugung, daß der innere Stand des Lebens einer wesentlichen Erhöhung fähig ist; er kann aber solche Überzeugung nur haben, wenn über das Vermögen des einzelnen Punktes hinaus ein neues ursprüngliches Leben beim Menschen durchbricht; damit aber führt die Bewegung durch die verschiedenen Stufen hindurch wiederum zum schaffenden Leben; ohne den Abschluß mit ihm würde sie ins Leere verlaufen, so hängt an diesem Punkt das Gelingen der ganzen Kette. Dieser positive Idealismus wird sowohl einen ethischen als einen geschichtlichen Charakter tragen, einen ethischen, insofern zur Umwandlung des Anfangsstandes eine erhöhende Lebenstat und eine menschliche Aneignung dieser Tat nötig ist, einen geschichtlichen, sofern das Leben selbst eine Weiterbewegung vollzieht, deren näheren Inhalt lediglich die Erfahrung aufweisen kann. Die Anerkennung und Aneignung dieser Fortbewegung in sich selbst bringt das Leben wieder in Fluß und entzieht es dem lähmenden Zweifel, ohne daß der Widerstand irgendwie abgeschwächt zu werden braucht. Fehlt aber jene Wendung des Lebens gegen sich selbst und die Eröffnung einer neuen Welt im eignen Wesen, so bleibt die Hemmung unüberwindlich, und alles menschliche Streben ist schließlich verloren.

Alles miteinander zeigt eine fortlaufende Weiterbewegung des Lebens, das aber nicht in geradem Aufstieg, sondern durch verschiedene Wende- und Entscheidungspunkte hindurch. Das Leben treibt sich durch sich selber weiter, aber im Ringen mit der Welt und mit sich selbst kommt es an Punkte, wo sich verschiedene Möglichkeiten bieten und eine Entscheidung verlangen. Eine Hauptlinie wird weiter verfolgt und bewirkt eine fortschreitende Determination des Lebens; Nebenrichtungen zweigen sich ab, lassen sich aber nicht fortentwickeln. Das Auseinandergehen der Menschen und die Scheidung in Parteien erfolgt dadurch, daß an verschiedenen Stellen und auf verschiedenen Stufen abgeschlossen wird; überblicken wir aber das Ganze, so läßt sich jeder Stufe ein Wahrheitsgehalt zuerkennen und zugleich ein gemeinsames Streben in dem Ganzen anerkennen. Die vorzeitige Festlegung mit den Irrungen, die sie erzeugt, erscheint hier als ein Mangel an Kraft des Lebens, als eine Ermattung vor Erreichung der letzten uns möglichen Höhe; aber das Hinausstreben über die früheren Stufen macht diese keineswegs überflüssig. Vielmehr müssen sowohl die gemeinsame Grundlage als der Widerstand als die einzelnen Stufen des Sichemporringens mit ihren Entscheidungen wie ihren Erfahrungen gegenwärtig bleiben, damit das Ganze in frischem Fluss verbleibe und der Abschluß als eigne Tat seine volle Wahrheit behalte. Diese Wahrheit wird gefährdet, wenn die höhere Stufe sich von der niederen ablöst und sich allein auf sich selber stellt. Das ist eine Hauptwurzel, ja die Hauptwurzel des Dogmatismus, daß als abgeschlossen und selbstverständlich behandelt wird, was einer fortlaufenden Prüfung und Entscheidung bedarf. Alles miteinander aber zeigt eine Bewegung eines dem Menschen überlegenen Lebens, und alle Hoffnung, daß diese Bewegung nicht im Sande verlaufe, beruht darauf, daß inmitten aller Verwicklungen und Hemmungen des menschlichen Daseins jenes Leben aus eigner Kraft eine innere Weiterbildung vollzieht, daß bei uns nicht nur eine grundlegende und eine kämpfende, sondern auch eine überwindende Geistigkeit wirkt. Darin liegt zugleich, daß uns das Leben nie ohne Schaden zu einem fertigen und ruhigen Besitze wird, daß wie die Bewegung und der Kampf, so auch der Zweifel immer wieder in die früheren Stufen, ja bis in die tiefste Grundlage zurückgreifen kann; aber das ist nun einmal unser Geschick, und das gereicht uns vielleicht zum Wohl; denn wie wir beschaffen sind, würde ein fertiger Besitz alsbald zur Trägheit und Erschlaffung führen, während so unser ganzes Leben durchgehend auf eigne Tat gestellt wird.

b) Die Überwindung der Gegensätze des menschlichgeistigen Lebens

Das selbsttätige Leben erwies sich uns als ein Überwinden von Gegensätzen, zwischen denen das Durchschnittsleben unsicher hin und her schwankt; es überwindet den Gegensatz von Kraft und Gegenstand, von Subjekt und Objekt, es überwindet auch den von Umwelt und Dasein. Denn nur jene Überwindung ermöglicht die Bildung eines Lebensgehalts und zugleich das Selbständigwerden des Denkens mit seiner Sachlichkeit und seiner zwingenden Kraft gegenüber dem subjektiven Vorstellungsgetriebe, und nur in Überwindung des Gegensatzes von Tatwelt und Dasein entsteht eine bei sich selbst befindliche Wirklichkeit. Aber jede nähere Prüfung des geistigen Lebens beim Menschen läßt ersehen, daß auf seinem eigenen Boden jene Gegensätze in höherer Potenz wiederkehren, indem das Schaffen unter den überwiegenden Einfluß der einen oder der anderen Seite gerät. Daraus entstehen große Verwicklungen, denen nur eine Verstärkung des Grundlebens und eine von ihm ausgehende Klärung gewachsen machen kann.

Eine volle Ausgleichung von Kraft und Gegenstand innerhalb des Schaffens konnte von der Höhe des griechischen Lebens vollzogen scheinen. Denn Mensch und Welt waren hier genügend auseinandergetreten, daß jedes eine Selbständigkeit ausbilden konnte, und sie blieben zugleich einander so eng verbunden, daß zu gegenseitiger Erhöhung sich Leben von hier nach dort unablässig mitteilen konnte; die Welt ward vom Menschen zusammengeschaut und belebt, sie aber wirkte als Kosmos auf die Seele erweiternd, befestigend, klärend zurück. Die energische und allseitige Durchführung dessen ergab eine hohe Kultur, deren Klarheit und Schönheit uns immer von neuem bezaubert. Aber der weitere Verlauf der Geschichte hat die hier gewonnene Ausgleichung als unzulänglich erwiesen, er hat die beiden Seiten des Lebens weiter auseinander getrieben: einerseits steigerte das seelische Leben sich zu einer völlig selbständigen weltbeherrschenden Innerlichkeit, andererseits haben Natur und Welt sich zu voller Entfaltung eigener Art vom Seelenleben völlig abgelöst und eine durchaus unpersönliche Art entwickelt; jenes ist von der christlich-mittelalterlichen Welt, die uns keineswegs bloße Vergangenheit ist, dieses auf dem Boden der Neuzeit geschehen. Hier wie da ging das Verlangen auf eine beide Seiten umspannende Wirklichkeit, aber indem ihre Gestaltung dem überwiegenden Einfluß der einen oder der anderen Seite folgte, schieden sich eine persönliche und eine unpersönliche Welt, und schieden sich zugleich die Ziele, Größen und Güter. Jede der beiden Ordnungen hat Neues von großer Bedeutung gebracht und das Ganze des Lebens in Hauptstücken weitergebildet, aber hier wie da haben sich Verwicklungen ergeben, welche einen endgültigen Abschluß verhindern. Die Gestaltung der Wirklichkeit vom persönlichen Leben her, durch den Aufbau einer eigentümlichen Welt grundverschieden von allem bloßsubjektiven Getriebe, hat das Innenleben allererst zu voller Selbständigkeit gebracht und mit der Aufdeckung neuer Tiefen in Religion und Moral eine Welt des Gemütes eröffnet. Sie hat dabei mit strengem Ernst der Forderung Wärme und Weichheit der Gesinnung verbunden, sie hat das Leben durch die ausschließliche Beziehung auf die weltüberlegene Persönlichkeit Gottes aufs gewaltigste konzentriert und die alles beherrschende Aufgabe auch das Weltbild ausschließlich bestimmen lassen. Aber da die stürmische Bewegung der Seele kein Gegengewicht an einer gegenständlichen Ordnung fand, so war die Einmischung subjektiver Elemente nicht genügend fernzuhalten; das ergab nicht nur ein zu rasch abgeschlossenes und zu anthropomorphes Weltbild, das färbte auch das geistige Schaffen stark subjektiv und ließ das Seelenleben zu sehr von der affektiven Seite her gestalten; kommen solche Mängel einmal klar zum Bewußtsein, so mußte jenes Leben zu eng und zu sehr in menschlichen Formen verlaufend erscheinen, ja es konnte, wenn auch mit Unrecht, als eine bloße Ausstrahlung von Forderungen und Wünschen des menschlichen Herzens angefochten werden. Das deutliche Gewahrwerden dessen bezeichnet den Beginn der Neuzeit, ihr Boden erzeugt alsbald eine entgegengesetzte Bewegung, indem der Mensch sich zu äußerer und innerer Erweiterung seines Lebens möglichst in das Gegenständliche zu versetzen sucht und von ihm aus auch das aufbringen möchte, was bis dahin aus der Einheit der Seele hervorquoll. Nun entspann sich ein energischer Kampf gegen die Besonderheit seiner Art als viel zu eng und klein gegenüber den Forderungen geistigen Schaffens, ein Kampf für ein lauteres Leben aus der Weite und Wahrheit der Dinge. In Durchführung dieses Strebens ist zunächst aus dem Bilde der Außenwelt alles seelische Element als eine subjektive Zutat entfernt, um jene ganz auf eigentümliche seelenlose Kräfte und Bewegungen zu stellen und von da aus auch das menschliche Leben umzugestalten; tiefer noch griff in das innere Gewebe ein, daß beim Menschen selbst zwischen seelischem Fürsichsein und geistigem Schaffen scharf geschieden und jenes Fürsichsein als völlig nebensächlich behandelt wurde. In energischer Durchführung dieses Strebens entwand sich die geistige Arbeit mehr und mehr der Bindung an den menschlichen Stand und entwickelte eigne Gesetze und Kräfte, erzeugte schließlich eine eigne Welt; sie hat mit ihrem Wirken das Ganze des Lebens mehr ins Gedankliche, ins Ideelle gehoben und Prinzipien wie Ideen eine bisher ungekannte Macht verliehen, auch hat sie die einzelnen Lebensgebiete selbständiger wie gegen den Menschen so auch untereinander gemacht, sie hat mit dem allen eine Bewegung erzeugt, deren Einfluß sich niemand entziehen kann, der an geistiger Arbeit teilnimmt. Aber je ausschließlicher diese Bewegung ihre eigene Bahn verfolgte, desto mehr hat sie einen schweren Mangel erkennen lassen, der sie schließlich ganz zu zerstören droht. Um der Sache allein zu dienen, behandelt sie nach Spinozas Vorgang das Persönliche mit seinem Einheitsstreben und all seinen Größen und Werten als ein bloßes Erzeugnis menschlicher Meinung, als etwas, dem in der großen Welt nicht der mindeste Platz gebühre; zugleich aber verwandelte sich ihr die gegenständliche Welt, die hier allein auf sich selber stehen sollte, in ein Gewebe bloßer Beziehungen oder in einen durch eigene Notwendigkeit getriebenen Denkprozeß. Damit verlor aber die Wirklichkeit nicht nur alle Seele und wurde mehr und mehr ein intellektueller Mechanismus, ein bloßes Formgefüge, sie verlor mangels einer beseelenden Einheit allen festen Halt, sie begann sich in lauter einzelne Elemente aufzulösen und damit ihren geistigen Charakter einzubüßen. Es war nicht zufällig, daß der hochgespannte Intellektualismus, den das Hegelsche System enthält, so rasch bald in einen krassen Naturalismus, bald in einen gehaltlosen Subjektivismus umschlug.

Solche Erfahrungen ließen die Menschen die persönliche Welt wieder höher schätzen, aber die erfolgten Wandlungen verboten ein einfaches Wiederaufnehmen der älteren Art; so steht die Gegenwart unter dem unausgeglichenen Gegensatz der beiden Lebensgestaltungen, der bis in das innerste Gewebe des Lebens reicht; ihre Unruhe und ihr Unbehagen erklärt sich zum guten Teil aus dem unsteten Hin- und Herschwanken zwischen jenen grundverschiedenen Welten und Lebensbahnen, deren eine zu eng, die andere aber seelenlos wird, deren eine den Menschen zu hoch, die andere aber zu niedrig einschätzt. Diese unerträgliche Lage ist nur zu überwinden, wenn sich ein Boden findet, auf dem beide Bewegungen zusammentreffen und sich miteinander ausgleichen können; einen solchen Boden bietet aber nicht der unmittelbare Seelenstand, es kann ihn nur ein überlegenes Leben bieten, das eine Überwindung der Gegensätze enthält und auch uns treibt, in seiner Aneignung zu solcher Überwindung zu wirken. Um aber eine innere Einheit zu haben und eine Bewegung zur Einheit hervorzurufen, müßte ein solches Leben die Richtung zur Persönlichkeit weiterführen und von menschlicher Verengung befreien; es dürfte nicht unpersönlicher Art, es müßte eine überpersönliche Innerlichkeit sein, um einen Zusammenhang zu besitzen und einen Inhalt erzeugen zu können. Eine solche Innerlichkeit könnte in Aneignung des Gegenständlichen sich zu einem weltumfassenden geistigen Selbst erweitern, in sicherer Erhebung über die Zwecke des Menschen nicht nur, sondern auch über seine Begriffe. Daß aber ein solches Leben, so unzulänglich wir es fassen mögen, in Wahrheit bei uns wirksam ist, das zeigt die wiederholt von uns geschilderte Bewegung zur Ablösung vom bloßen Punkt und zur Bildung eines weiteren Selbst, wie sie in mannigfachen Strömen durch das menschliche Leben geht; so im Verhältnis von Mensch zu Mensch in der Erzeugung fester Zusammenhänge und kleiner wie großer Gemeinschaften, so in der Behandlung von Gegenständlichem, wie sie im künstlerischen Wirken und in der erkennenden Durchleuchtung der Dinge vorliegt; durchgängig ein geistiges Schaffen, das seine Einheit nicht von draußen empfängt, sondern in sich selber trägt, das eine entschiedene Lebensbejahung enthält, aber eine Bejahung, die mit der selbstischen Pflege des bloßen Punktes nichts zu tun hat. Was aber so in mannigfacher Gestalt erhöhend und veredelnd in uns wirkt, das hellt sich erst auf, wenn es als Stück einer Gesamtbewegung, als Offenbarung eines überlegenen Lebens verstanden wird, und das muß sich erheblich verstärken, wenn wir unter eigener Entscheidung und Einssetzung unseren Standort in jenem Leben nehmen. Nur so wird es möglich sein, die Notwendigkeit eines zwiefachen Ausgangspunktes und einer zwiefachen Bewegungsrichtung beim Menschen anzuerkennen, ohne darüber eine umfassende Einheit preiszugeben. Denn uns kann das Leben seinen Wahrheitsinhalt nur erschließen, wenn beide Seiten eine Selbständigkeit gegeneinander wahren und jede auf die andere als ein Anreiz und Stachel wirkt, das Gegenständliche zur Ausscheidung des bloßsubjektiven Fürsichseins und zur Ausbildung eines Weltcharakters, das Persönliche zur Zusammenfassung und Beseelung der Mannigfaltigkeit. Nur so läßt sich dahin streben, daß uns das Leben und Streben nicht auseinanderfällt in ein Reich bloßer Zuständlichkeit und menschlich gefärbter Größen einerseits, ein Reich kalter und seelenloser Gegenständlichkeit andererseits, läßt sich für eine Verbindung von Konzentration und Expansion, von Wärme und Weite wirken. Das aber nie durch eine bloße Zusammensetzung und einen schwächlichen Kompromiß, sondern nur innerhalb einer Welt überlegener Geistigkeit und selbständiger Innerlichkeit; mag solche Innerlichkeit eines Gesamtlebens unseren Begriffen nur annähernd erreichbar sein, die Faßlichkeit entscheidet nicht über den Wahrheitsgehalt und über die Wirklichkeit. Oder sollen wir auch an unserer eigenen Seele zweifeln, weil es so große Mühe macht, sie wissenschaftlich zu fassen? So viel ist jedenfalls gewiß: alle Möglichkeit einer Überwindung jenes lebenspaltenden Gegensatzes liegt daran, daß ein überlegenes Leben unser dahin gerichtetes Streben trägt und es von verschiedenen Seiten her einem einzigen Ziele zuführt. Es gilt mit solcher Anerkennung Ernst zu machen und die Folgen daraus zu ziehen.

 

Mit dem Gegensatz von Persönlichem und Unpersönlichem kreuzt sich bei der Bildung der Wirklichkeit der von Dasein und Tatwelt, von sinnlich gebundenem und selbständigem Leben, von empirischem und produktivem Verfahren. Wir sahen, daß das menschliche Geistesstreben des Zusammenwirkens beider Seiten bedarf, aber das verhindert nicht das Entstehen eines Gegensatzes, je nachdem die eine oder die andere der Arbeit zur Hauptsache wird und das Gegenstück zur Nebensache herabdrückt. Dieser Gegensatz hat seine volle Ausbildung erst seit dem Beginn der Neuzeit erlangt, hier erst traten Tatwelt und Dasein mit voller Klarheit, ja Schroffheit auseinander; da aber zugleich ein starkes Verlangen nach Einheit des Lebens erwachte, so vollzog sich eine Scheidung dahin, daß die einen die Tatwelt, die anderen das Dasein zum Hauptstandort der Arbeit machten und danach Leben und Welt grundverschieden gestalteten. Dort stellte die Welt sich als eine von eigner Tätigkeit getragene Innerlichkeit dar, der gegenüber die Außenwelt zu einem dienstbaren Mittel und Werkzeug oder auch einer bloßen Erscheinung herabsank; hier ward die Welt, wie der sinnliche Eindruck sie als eine gegebene Größe findet, für die Hauptwirklichkeit erklärt und alle geistige Betätigung als ihr Erzeugnis verstanden; so entstand der Gegensatz einer Real- und einer Idealkultur mit ihren grundverschiedenen Zielen und ihrem unaufhörlichen Kampf. Dieser Kampf durchdringt die moderne Welt und ergreift alle einzelnen Gebiete; hier das Streben, das Geistige als ein verblaßtes Sinnliches, dort das entgegengesetzte, das Sinnliche als eine niedrigere Stufe des Geistes zu verstehen, in der Erkenntnislehre der Kampf des Empirismus und des Rationalismus, auf praktischem Gebiet der einer Wohlfahrtspflege und einer absoluten Moral, einer Bildung aller Gemeinschaft von den Individuen her und eines Hangens der Individuen am Ganzen. Aber soweit die geschichtliche Erfahrung in diesen Dingen ein Urteil zu sprechen vermag, hat sie es dahin abgegeben, daß jede der Lebensentfaltungen wohl stark genug ist, um die Behauptung der anderen zurückzuweisen, aber zu schwach, um die eigne siegreich durchzusetzen. Besonders deutlich ist die Unmöglichkeit, aus dem bloßen Dasein mit seiner Gebundenheit und seinem Nebeneinander einen Lebensinhalt zu gewinnen und eine Kultur aufzubauen, denn dazu bedarf es unbedingt einer Fassung des Lebens in ein Ganzes und einer Versetzung in den Stand der Selbsttätigkeit; wer das als eine Nebensache behandelt, der macht unvermeidlich zur Hauptfrage des Lebens seine Bedingungen und sein Verhältnis zur Umgebung, der läßt bei aller Emsigkeit des Wirkens die Seele leer und kann daher ein Kleinwerden des Menschen als eines Ganzen und Inneren und zugleich ein jähes Sinken des privaten wie des gemeinsamen Lebens nicht verhüten. Was sich hier Kultur nennt, ist in Wahrheit eine bloße Oberflächenkultur, ist nur Zivilisation als eine geschickte und gefällige Ordnung des äußeren Lebens, deren eifrige Geschäftigkeit die innere Leere leidlich verbirgt. – Aber auch mit der Idealkultur steht es keineswegs einfach. Beim Menschen unmittelbar von sich aus eine Wirklichkeit aufzubauen, alles Dasein an sich zu ziehen und von sich aus zu gestalten, das kann sie nur wagen, indem sie sich als ein freischwebendes Tätigkeitsgebilde gibt, als einen Komplex sich selbst genügender oder aus sich selbst fortschreitender Tätigkeit. So aber kommt es nickt zu einer gründlichen Auseinandersetzung mit dem Dasein, nicht zu einem ernsthaften Ringen mit seinem Widerstand, nicht zu einer Aneignung der in ihm steckenden Kraft, ohne die das Leben nicht zu einem vollen Selbst gelangt. Die Gefahr liegt nahe, daß statt einer lebensvollen Wirklichkeit nur ein Umriß, ein Schattenbild einer solchen geboten wird, daß bloßes Denken für Schaffen eintritt und die erstrebte Idealkultur in Wahrheit eine bloße Intellektualkultur wird. Leicht scheint hier mit der Umsetzung der Welt in bloße Begriffe sie schon vollauf in Besitz genommen und in ein Vernunftreich verwandelt. Das aber vornehmlich deshalb, weil eine solche freischwebende Idealkultur geneigt ist, den Widerstand nur draußen zu suchen, das Innere des Menschen aber als kerngesund und in sicherem Fortschritt begriffen zu denken; so unterschätzt und vernachlässigt sie die Verwicklungen des Geisteslebens, im besonderen die moralische Unlauterkeit und Verkehrung; eine solche Unterschätzung aber muß sich durch eine Verflachung des Lebens rächen.

Es ergibt sich damit, daß keine der beiden Seiten die andere voll in sich aufnehmen noch auch sie verdrängen kann; das Leben behält zwei Ausgangspunkte, deren Eigentümlichkeit anzuerkennen ist. Soll es darüber nicht völlig und für immer auseinanderfallen, so gilt es seinen Grundgehalt und die Lage, in der wir uns ihm gegenüber befinden, deutlich auseinanderzuhalten; nur dann braucht die dem Leben notwendige Einheit nicht auszuschließen, daß wir Menschen uns ihm nur von verschiedenen Ausgangspunkten her nähern können. Nur ein dem Gegensatz überlegenes Leben macht ein Verhältnis von Tatwelt und Dasein möglich, das jedem seine Bedeutung läßt, ohne beides auseinanderzureißen. Die Tatwelt muß die Bewegung beginnen und führen, nur sie kann eine bestimmte Richtung gewinnen lassen, nur sie bestimmte Fragen stellen; ja sie muß das andere auf ihren Boden zu versetzen und von sich aus aufzuhellen suchen. Aber zugleich behält für uns Menschen das Dasein ein eigenes Recht und eine eigene Sprache. Denn es eröffnet einen eigentümlichen Tatbestand, dessen Aneignung und Durchleuchtung die Tätigkeit in ihrem Streben über das eigene Vermögen hinaus weiterzuführen verspricht. Nur so kann das eine sich an dem anderen steigern, nur so das Leben sich vor vorzeitigem Abschluß hüten und für weitere Erfahrungen offen halten. Wir haben also zwei Enden einer Kette, die möglichst aneinanderzubringen sind; alles Streben danach aber setzt ein Angewiesensein aufeinander, eine Zusammengehörigkeit voraus; wir Menschen würden einen Zusammenhang des Lebens vergeblich suchen, käme er uns nicht aus seinem Grunde entgegen. Insofern können auch wir einer »prästabilierten Harmonie«, wenn auch in anderem Sinne als bei Leibniz, nicht entbehren.

Wie aber die Herstellung einer Verkettung zu verstehen sei, das mögen einige Beispiele erläutern. Das Kausalgesetz entspringt augenscheinlich der Selbsttätigkeit des Denkens und schließlich dem Leben, das diese hervorbringt; nur die ihm innewohnende schöpferische Einheit kann die innere Verkettung den sachlichen Zusammenhang, die zwingende Notwendigkeit erzeugen, die der Kausalverbindung eigentümlich sind. Aber als solche von innen her aufgebrachte Betrachtungsweise bleibt die Kausalverkettung ein bloßes Schema, das verschiedene Möglichkeiten offen läßt und noch keinen Weg zur Anwendung findet; es stellt so mehr eine Frage als es eine Antwort gibt. Diese kann nur eine nähere Erforschung des Daseins bringen, sie kann das aber nur, wenn dieses vom Denken erfaßt und durchleuchtet wird; erst die damit erfolgende Berührung beider Seiten führt die Kausalität vom bloßen Schema zu voller Durchbildung und unterwirft zugleich das Dasein mit seiner Fülle des Geschehens dem Gedanken.

Als weiteres Beispiel diene die Religion. Der Gedanke eines weltüberlegenen höchsten Lebens, wie jene ihn verlangt, entspringt nicht aus dem Dasein und läßt sich nicht von ihm aus begründen; wer das unternahm, den hat stets ein kühner Sprung in ein Denken aus der Tatwelt versetzt. Diese kann allerdings jenes Gedankens zu ihrer eignen Begründung unmöglich entbehren, ihr muß er als das Axiom der Axiome gelten. Aber wenn diese Erhebung über das Dasein zu einem völligen Nichtachten und Liegenlassen dessen wird, so fehlt jenem Begriff aller anschauliche und die Seele erwärmende Gehalt; wie mögen die Kraft bewundern, mit der die Mystik sich trotzdem ihm hingab, aber unverkennbar ist ihr bei strenger Wahrung der Grundbehauptung das Leben ins Unfaßbare, ja ins Gehaltlose geraten. Jener Begriff des Absoluten bedarf einet Weiterbildung, die uns mehr Gehalt in ihm gewinnen laßt und ihn zugleich unserer Seele näher rückt; das aber kann ihm nur der menschliche Kreis gewähren, freilich Nut, sofern die überlegene Tatwelt an ihm eine Beleuchtung, Sichtung, Umwandlung übt und dadurch dem vorgefundenen Chaos einen Geistesgehalt abringt. Dann läßt sich ein Wirken des Göttlichen im Menschen erkennen und durch die Verkettung damit der Gottesgedanke der menschlichen Seele näher bringen, ohne damit einer bloßen Vermenschlichung zu verfallen. Daß solche Notwendigkeit, die Tatwelt voranzustellen, zugleich aber dem Dasein eine Selbständigkeit ihm gegenüber zu wahren, das Ganze der Lebensarbeit bis in alle Verzweigung hinein eigentümlich gestalten muß, bedarf keiner Erörterung. Begreiflicherweise legt solche Sachlage Irrungen nahe: beide Seiten können ihren Rechtsbereich überschreiten. Ein Übergriff ist es, wenn die Religion dem gesellschaftlichen Dasein seine Selbständigkeit raubt und seine Einrichtungen direkt von sich aus zu ordnen strebt; es ist mehr als ein Übergriff, es ist ein Grundirrtum, wenn die Gesellschaft die Religion als ihr Erzeugnis und als ein Mittel für ihre Wohlfahrt behandelt; es ist ein Übergriff, wenn die philosophische Spekulation allen Befund des Daseins von sich aus glaubt konstruieren zu können unter völliger Mißachtung der Erfahrung; es ist ein Grundirrtum, vom bloßen Dasein aus ein Ganzes der Erkenntnis, etwa eine »naturwissenschaftliche Weltanschauung«, erzeugen zu wollen. Wir sprechen hier von Grundirrtum und dort nur von Übergriff, weil das bloße Dasein dem Leben überhaupt keine Selbständigkeit und damit keinen geistigen Charakter geben kann, während bei dem Unternehmen der Tatwelt eine bloße Überspannung des eignen Vermögens vorliegt. Es ist der Grundfehler aller Gegner der Religion und der Metaphysik, die Welt beider als etwas zum Dasein nur Hinzugedachtes, daher Jenseitiges zu verstehen, während sie ihnen selbst als das schlechthin Ursprüngliche, daher auch geistig Allernächste gilt.

Unverkennbar stellt diese Notwendigkeit, von zwei Seiten aus zu arbeiten, unser Leben als höchst unfertig dar, aber unfertig ist es nur, weil es an einem hohen, dabei unabweisbaren Ziel gemessen wird. Von hier aus betrachtet bedeutet die Unfertigkeit nicht sowohl eine Schwäche als eine Größe des Menschen; zeigt sie doch, daß er eine hohe Aufgabe in sich trägt und bei der Arbeit an ihr inmitten einer Weltbewegung steht. Ist dieses der Fall, so kann auch die mühsamste Arbeit nicht zu einem Ermatten und aller Zweifel nicht zu einem Unglauben führen.

 

Nun kreuzen sich bei der Wirklichkeitsbildung die Paare der Gegensätze, der einer persönlichen oder einer unpersönlichen Lebensführung, und der eines Überwiegens der Tatwelt oder des Daseins; persönliche und unpersönliche Art können sich sowohl in Selbständigkeit als in Bindung an das Dasein gestalten. So entstehen vier Lebensströme und Gedankenkreise, die der Religion und der immanenten Idealkultur einerseits, die des sozialen Lebens und der Arbeitskultur andererseits; es ist für das volle Gelingen einer Wirklichkeitsbildung wesentlich, daß sie eine Selbständigkeit gegeneinander behaupten, dabei aber von einem Ganzen tätigen Lebens umfaßt, in ihm aufeinander bezogen und in fruchtbare Wechselwirkung gebracht, zugleich aber auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft und zu Seiten und Erfahrungen jenes Lehensganzen umgebildet werden; auch hier gilt es, über der Einheit nicht die Mannigfaltigkeit mit ihren eigentümlichen Fragen und Erfahrungen und über der Mannigfaltigkeit nicht die Einheit mit ihrem zusammenhaltenden und vertiefenden Wirken zurückzustellen. Persönliches Leben der Tatwelt kann wirklichkeitbildend nur in voller Erhebung über das Dasein und in souveräner Beherrschung seiner werden; so entsteht hier die Überwelt der Religion, und als weltüberlegen steigert das Selbstleben sich zur Gottheit. Daher hebt die Religion ihre Grüßen über alle Begrenzung des Daseins hinaus und entwickelt sie in schroffem Kontrast, so entstehen Begriffe wie das Absolute, das Ewige, das Vollkommene, das Heilige, so entsteht eine eigentümliche Gedankenwelt, so erzeugt sie das Gefühl der Erhabenheit, rüttelt mit ihrer Vorhaltung absoluter Maße das Leben zwingend aus dem vorgefundenen Stande auf und versetzt es in stärkste Bewegung. Diese Wirkung beschränkt sich nicht auf einzelne Punkte, sondern sie erstreckt sich auf das Ganze des Seins; der ganze bisherige Lebenskreis wird für nebensächlich, ja gefährlich erklärt, und der Hauptstandort des Lebens in eine neue Welt verlegt, die damit zur allernächsten, zur geistigen Heimat des Menschen wird. So vollzieht die Religion eine Umwälzung, der gegenüber politische Revolutionen als Kleinigkeiten erscheinen mögen. Mit solchem völligen Selbständigmachen des Lebens erzeugt sie ein volles Beisichselbstsein der Innerlichkeit und erhebt sie die Gesinnung als Willensrichtung zu weltbildender Größe und Kraft, gewinnt sie weiter die Möglichkeit, alles Unzulängliche, ja Verkehrte der Weltlage und namentlich des Seelenstandes vollauf anzuerkennen, ohne darüber den Lebensmut und die Lebenskraft irgendwie zu vermindern.

So hat der religiöse Strom unverkennbar am Leben eingreifende Weiterbildungen, unentbehrliche Vertiefungen vollzogen. Aber ohne eine Ergänzung und Ausgleichung mit anderen Lebensströmen bringt er auch schwere Gefahren und Schäden: ein Gleichgültigwerden gegen die nächste Welt und ein Liegenlassen ihrer Fragen, ein Mißachten aller gegenständlichen Ordnung, ein Überwiegen der Subjektivität und bloßen Gefühlsseligkeit, damit bei aller Tiefe eine zu enge und anthropomorphe Lebensordnung. Auch wäre das Recht der Umwälzung, welche die Religion verficht, erst vom Ganzen des Lebens her und aus seinen Erfahrungen zu begründen, um völlig gewiß zu sein; wird es ohne weiteres vorausgesetzt, so sind schwere Zweifel nickt zu vermeiden.

Ein wesentlich anderes Leben entsteht, wenn die Tatwelt der unpersönlichen Richtung folgt, damit an die Stelle der weltüberlegenen Gottheit eine weltdurchdringende Vernunft setzt und die sichtbare Welt als ihre Entfaltung behandelt. Hier erhält die Welt einen Zusammenhang bei sich selbst, und aus eigner Kraft vollzieht sie eine innere Durchbildung; indem das Miterleben dieser Durchbildung, dieser Selbstvollendung der Vernunft, zur Hauptaufgabe des Lebens wird, tritt vor die moralische Gesinnung die geistige Kraft, wie sie sich vornehmlich im Denken erschließt; die Anerkennung einer allgegenwärtigen Vernunft wirkt zu einer Ausbreitung des Lebens, den Dingen wird hier mehr eine eigne Natur und mehr eignes Vermögen zuerkannt. Wohl wird auch hier eine Einfügung in den Zusammenhang des Ganzen geboten, aber es soll das hier an erster Stelle durch Aufbietung eigner Kraft geschehen; wohl finden sich auch hier harte Widerstände, aber diese reichen nicht so tief in die Wurzel des Wesens hinein, um zu ihrer Überwindung eine radikale Umwälzung zu verlangen, vielmehr scheint eine volle Erweckung des eigenen Vermögens, eine mutige Sammlung und Anspannung der Aufgabe vollauf gewachsen. Wie demnach das Leben durchgängig mehr auf die eigne Tat gestellt wird, so wird auch der Weltstand nicht wie ein Schicksal oder eine Fügung hingenommen, sondern mit zuversichtlichem Mut gemäß den Forderungen der Vernunft zu gestalten gesucht. Wohl schöpft hier der Mensch sein Leben aus dem Ganzen einer universalen Vernunft, aber er erhält eine eigentümliche Aufgabe und zugleich eine unvergleichliche Größe und Würde darin, zur vollen Freiheit und Klarheit zu bringen, was unter und um ihn mit dunklem Zwange geschieht, damit aber das Ganze seiner Vollendung zuzuführen.

Dieser Lebensstrom überwiegend unpersönlicher Art hat bleibende Wirkungen geübt. Die Überzeugung vom Vorhandensein einer Tiefe der Welt und des Lebens treibt zu energischer Herausarbeitung dieser Tiefe und führt zur Aufdeckung eines festen Zusammenhanges aller Mannigfaltigkeit. Mehr als irgendwo sonst entsteht eine Bewegung von Ganzem zu Ganzem und wird der Umkreis des Lebens in ein abgestuftes Gefüge, ein gegliedertes System verwandelt. Indem das Denken dabei die Führung übernimmt, verschiebt sich die Welt vom Sinnlichen ins Geistige, alles Sinnliche wird auf ein Gedankliches aufgetragen, die Wirklichkeit gestaltet sich damit zu einer Gedankenwelt, und Prinzipien wie Ideen gewinnen eine Macht wie nie zuvor. Das Wirken des Menschen erweist hier eine männliche Kraft und einen freudigen Mut, dabei dehnt es sich über alle Lebensgebiete aus und sucht jedem eine besondere Stellung und Bedeutung zu geben. So entsteht ein durchgebildetes Kultursystem, das den Menschen ins Weite streben läßt, aber zugleich die Weite von innen her zusammenhält. So ist das Leben hier auf eine Höhe gehoben, die es unmöglich wieder aufgeben kann. – Aber auch diesem Lebensstrom erwachsen Probleme und Verwicklungen, wenn er das Ganze der Wirklichkeit von sich aus aufbringen will. Es läßt sich fragen, ob die Welt sich in Wahrheit der menschlichen Kraft in ein widerspruchsloses Ganzes zusammenschließt, und die Verwicklungen nicht auch in den Grundbestand reichen; es läßt sich weiter fragen, ob die geistige Bewegung so unabhängig von den Erfahrungen des Daseins verlaufen kann, wie es hier behauptet wird; es läßt sich namentlich fragen, ob die hier behauptete freischwebende Vernunft aus eignem Vermögen dem Leben ein Beisichselbstsein zu geben vermag, und ob diese Verfechtung des Vernunftcharakters der Wirklichkeit nicht bloß ein logisches Gefüge der Wirklichkeit, eine durchgehende Verkettung, also eine bloße Form der Vernünftigkeit dartut, die einen entsprechenden Gehalt in keiner Weise sichert. Ja der Grundbegriff der Vernunft selbst ist keineswegs der Gefahr entzogen, seinen kosmischen Charakter einzubüßen und zu einer Eigenschaft des bloßen Menschen herabzusinken, damit aber seine weltgestaltende Kraft zu verlieren; in Wahrheit zeigen die Systeme der Denker viel Schwanken zwischen beiden Fassungen, alles Schwanken aber muß zerstörend wirken, wo alles an diesem einen Begriffe hängt.

Auf dem Boden des Daseins entsteht ein eigentümlicher Lebenstypus persönlicher Art aus dem Verhältnis von Mensch zu Mensch, ein gesellschaftliches Zusammensein mit seinen mannigfachen Beziehungen und Abstufungen. Dieser Lebenskreis hat in der Neuzeit sich dem bisherigen Einfluß der Religion wie der Idealkultur mehr und mehr entzogen, eine volle Selbständigkeit erlangt und zugleich einen eigentümlichen Charakter ausgebildet. Hier wird der Mensch wie er leibt und lebt zum beherrschenden Mittelpunkt des Strebens; zur Hauptaufgabe wird es, alle seine Kraft in Betätigung zu versetzen, alle Seiten seines Lebens zu entwickeln, ihm möglichst viel Glück zu verschaffen. Der Mensch in seinen mannigfachen Beziehungen wird hier zum Hauptstudium und zur Hauptsorge; was draußen liegt, das gewinnt einen Wert nur durch seine Leistung für ihn. Das wird sich verschieden gestalten, je nachdem das menschliche Zusammensein mehr als ein freieres Nebeneinander der Gesellschaft oder als die feste Organisation eines Staates verstanden wird, aber im Grunde werden hier wie da alle Lebensgebiete nach dem Ertrage für das menschliche Wohl gemessen und diesem Zwecke gemäß gestaltet. Der eigne Kreis des Menschen aber stellt eine Fülle von Aufgaben, indem sich mannigfachste Verbindungen bilden, eigentümliche Lebenskreise erzeugen und untereinander in Beziehungen treten, die nicht immer einfacher Art sind. Ferner macht es eben die Neuzeit zu einer wichtigen und schweren Aufgabe, nichts gehemmt und ungenutzt zu lassen, was irgend an Kräften vorhanden ist; unermeßliche Bewegungen entstehen, indem alles, was menschliches Angesicht trägt, zur vollen Beteiligung an den Gütern und Werken des gemeinsamen Lebens aufstrebt und darin möglichst gefördert wird. Je mehr die Bewegung sich damit über die ganze Breite ausdehnt, desto deutlicher wird, wie viel Hemmung und Schmerz es auszutreiben, wie viel Freude und Tatkraft es zu gewinnen gibt. Dieses Leben bleibt stets in frischem Fluß, da die menschlichen Verhältnisse sich in ständigem Wandel befinden und immer neue Aufgaben stellen; so erlangt die lebendige Gegenwart mit ihren Erfahrungen wie ihren Forderungen hier eine herrschende Stellung.

Diese Lebensgestaltung empfahl sich schon dadurch dem modernen Menschen, daß sie das Streben von der Verwicklung der Weltprobleme befreite, auf den Boden der unmittelbaren Erfahrung stellte und auf Ziele richtete, deren Bedeutung sich nicht bestreiten läßt. Denn wenn alles unsicher wird, es bleibt der Mensch als Mensch, und es bleibt sein Wohl ein unverwerfliches Ziel. Die direkte Beziehung alles Strebens aus dies Wohl ergibt aber eine straffe Konzentration, eine Ausscheidung alles Überflüssigen, eine seelische Nähe und Wärme; zugleich wird der Mensch dem Menschen näher gerückt und durch eine Gemeinschaft der Geschicke verbunden. Auch daß sich der Arbeit deutliche Angriffspunkte und immer neue Ausblicke bieten, bildet einen nicht geringen Vorteil. – Aber alles das wiegt die Gefahren und die Verluste dieser Lebensführung nicht auf, wenn sie sich als die einzige gibt und alles von sich aus gestalten will. Denn den Menschen ganz an den Menschen binden und auf den Menschen richten kann sie nicht, ohne sowohl ein unmittelbares Verhältnis zum All als einen Selbstwert des Innenlebens preiszugeben; beides miteinander bildet aber die Hauptstätte des geistigen Schaffens, dieses muß mit jener ausschließlich menschlichen Lebensführung aufs ärgste verkümmern und sinken. Da der Mensch nicht lassen kann, über sich hinauszublicken, sein Denken in das Ganze des Alls zu versetzen und von ihm aus das eigne Ergehen und Tun zu betrachten, so wird ihm notwendig die Einschränkung auf seinen eignen Bereich und sein eignes Befinden zur unerträglichen Enge.

Auch verwehrt die Messung alles Strebens am Wohl des Menschen den einzelnen Lebensgebieten ihren Sachgehalt vollständig und ungetrübt zu entfalten, wird doch alles durch jene Beziehung beschränkt und umgebogen; ja eine Ermattung ist unvermeidlich, da nur, was als Selbstzweck behandelt wird, die Gesinnung voll gewinnen und die Kraft voll beleben kann. Schließlich bleibt nur ein gröberer oder feinerer Utilitarismus, der über der Sorge um die Bedingungen des Lebens die um seinen Gehalt vergißt und daher bei allem äußeren Gewinn eine innere Leere erzeugt. Auch hat dieser Lebenstypus eine Voraussetzung, die sich kaum rechtfertigen läßt: die Voraussetzung einer natürlichen Güte des Menschen, einer freundlichen gegenseitigen Gesinnung, eines Fehlens aller inneren Verwicklung. Wer innere Verwicklungen anerkennt, der kann in dieser sozialen Lebensführung nun und nimmer den Abschluß suchen. Sie setzt voraus, daß Mensch und Menschsein einen hohen Wert besitzt, erweisen aber kann sie diesen aus eigenem Vermögen nicht.

Einen Lebenstypus unpersönlicher Art entwickelt das Dasein in der Wendung zur Arbeit, in der Hervorbringung einer Arbeitskultur; es ist das ebenfalls mit voller Klarheit erst auf dem Boden der neuen und neuesten Zeit geschehen. Denn früher blieb die Arbeit bei ihrer Richtung auf den Gegenstand der Persönlichkeit und den Zwecken des Arbeitenden eng verbunden, erst neuerdings hat sie sich davon abgelöst, eigne Zusammenhänge gebildet, ihr selbst innewohnende Kräfte und Gesetze entwickelt, erst neuerdings ist sie zu einer selbständigen Macht geworden, welche den Menschen in ihre Dienste zieht und ihn als ihr Mittel und Werkzeug behandelt. Hier entsteht eine Realkultur, welche nicht wie die Idealkultur das Leben von innen heraus entfaltet, sondern es erst an den Dingen erstarken, ja sich selber finden läßt, welche ihm zur Hauptaufgabe die Unterwerfung der Umgebung und Beherrschung der Welt macht, sei es in intellektueller, sei es in praktischer, sei es in technischer Richtung. Hier liegt alles am Werk, der vom Befinden sich ablösenden Leistung; ihm hat das persönliche Ergehen sich unbedingt unterzuordnen. So strebt hier das Leben durchgängig über den subjektiven Zustand hinaus zu engster Verfechtung mit dem Gegenstande, erst die Auseinandersetzung mit ihm gibt jenem Spannung und Kraft, das Bewußtsein, zum Fortschritt der Lebensbewegung, zum Aufbau der Kultur an seiner Stelle mitzuwirken, wird zur Hauptfreude des Lebens und zum Hauptantrieb der Tätigkeit; dabei fehlen auch ethische Züge nicht: einerseits gilt es unablässig alles subjektive Belieben den Forderungen der Sache unterzuordnen, andererseits kann jeder Einzelne seiner Arbeit einen Wert nur sichern, wenn er sich willig in Reih und Glied stellt und dem Ganzen der Arbeit einfügt: »Viele werden vorüberziehen und die Wissenschaft wird wachsen.« (Bacon)

Die Leistungen dieses Lebensstromes zur Erweiterung, Befestigung, Kräftigung des menschlichen Daseins liegen viel zu deutlich zutage, um einer weiteren Darlegung zu bedürfen, aber auch die Schranken dieser Gestaltung sind viel zu deutlich hervorgetreten, um sich übersehen zu lassen. Die eifrige, ja atemlose Befassung mit dem Werk drängt die Sorge um die Seele weit zurück und läßt diese kläglich verkümmern; dazu fordert der Fortschritt der Arbeit eine immer weitere Verzweigung und belebt daher beim Einzelnen einen immer kleineren Teil seiner Kraft; so sinkt der Mensch als Ganzes in demselben Maße, wie seine Arbeit vordringt; stark auf einem meist eng begrenzten Sondergebiet, wird er klein im Ganzen seiner Persönlichkeit, ja kann er als bloßer Arbeitskomponent kaum noch eine Persönlichkeit heißen. So ist das Ergebnis des Ganzen weit weniger echte Kultur als Zivilisation im Sinne einer zweckmäßigen Gestaltung der Umgebung, es ist ein geschicktes Ordnen, Einrichten, Anpassen, aber es entbehrt bei aller Zweckmäßigkeit eines letzten Zweckes und endet damit schließlich ins Leere. Die Frage wird unabweisbar, welchen Sinn das menschliche Leben habe, wenn es darin aufgeht, einem unpersönlichen Kulturprozesse zu dienen, der nirgends zum Menschen zurücklenkt und zu seiner inneren Erhöhung wirkt. Wem frommt schließlich das Ganze der Bewegung, und wozu dient die unsägliche Mühe und Arbeit? Solche Fragen und Zweifel lassen die Bedeutung der Arbeitskultur unangetastet, aber sie erschüttern notwendig den Glauben an ihre Ausschließlichkeit; sie kann zum Unsegen werden, wenn sie sich nicht einem weiteren Ganzen einfügt.

 

So entstehen vier verschiedenartige Lebensströme; wie sehr sie auseinandergehen, zeigt die Tatsache, daß alle Hauptrichtungen des Lebens sich bei jeder von ihnen eigentümlich gestalten. So das Erkennen, so auch das Handeln. Wie die Gestaltungen überwiegender Tatwelt das Leben von innen her entwickeln, so müssen sie auch das Erkennen vornehmlich aus der eignen Bewegung des Lebens entspringen lassen; was innerhalb des Geistes vorgeht, das wird hier zur überragenden Hauptsache, das entscheidet ganz und gar über die Beleuchtung und Bewertung der Umgebung. Hier wie da gilt es, vom Befunde der Erfahrung zu den begründenden Tatsachen aufzusteigen, diese aus ihrer eignen Notwendigkeit zu entwickeln, dann erst von ihnen aus jene zu durchleuchten, zusammenzufassen und als ihr Erzeugnis zu verstehen, in allem aber das Wirken einer selbständigen Geisteswelt zu erkennen und den Menschen in sie zu versetzen. Religiöse und immanente Lebensentfaltung trennen sich aber dabei an einem wichtigen Punkte. Wie die letztere in der Welt die volle und reine Entfaltung eines Grundlebens sieht, so kann sie dieses Grundleben unmittelbar zu erfassen und sein Gerüst ein für allemal herauszuarbeiten suchen, unter Fernhaltung alles Wandels der Zeit. Ihre Herausstellung der alle Leistung beherrschenden Grundtätigkeit ergibt der empirischen Betrachtung gegenüber eine transzendentale, deren a priori keine Geschichte kennt und eine Behandlung sub specie aeternitatis fordert. Anders der religiöse Lebenstypus. Ihm können die letzten Gründe nicht unmittelbar erreichbar dünken, da sie ihm erst durch innere Erfahrung, durch Erschütterung und Umwandlung zugänglich werden, da er das Geistesleben nicht in einer einzigen Fläche sieht, sondern es in die Stufen einer grundlegenden, kämpfenden, überwindenden Geistigkeit scheidet. Hier ist der tiefste Grund einer Geschichte und einer geschichtlichen Behandlung der Menschheit wie auch der Seele. So notwendig die Religion ein Hervorbrechen neuer Tiefen in der Lebensbewegung behauptet, so wenig kann sie sich auf ein bloßes a priori zurückführen lassen. Jedenfalls würde ihr a priori von dem des immanenten Idealismus erheblich verschieden sein.

Die Lebenssysteme überwiegenden Daseins stellen im Erkennen notwendig die Erfahrung, die Berührung mit den Dingen voran, alles Entwickeln von innen her muß ihnen als ein Wahnbild gelten. Aber die Erfahrung gestaltet sich ihnen verschieden. Der soziale Lebenstypus stellt die psychologische und pragmatische Behandlung voran, er muß bei der Beweglichkeit der menschlichen Dinge sich allem Wechsel und Wandel offenhalten. Der Arbeitskultur dagegen entspricht ein Positivismus der Behandlung, der alles subjektive Element möglichst auszuschalten, die völlig treu erfaßten Geschehnisse aber in große Reihen zu bringen sucht, indem deren Kenntnis vollständig für die Beherrschung der umgebenden Welt genügt. Er strebt zu empirischen Regeln, aber er scheidet sie deutlich von strengen Gesetzen, oder er sollte das wenigstens tun; ihm muß alles als verwerflich gelten, was über eine Beschreibung hinausgeht und eine Erklärung sein will.

Noch greifbarer erscheint der Unterschied der verschiedenen Lebensformen in der Gestaltung der Moral; denn in deutlicher Abgrenzung gehen hier eine religiöse, eine rationale, eine soziale, eine Arbeitsmoral auseinander; jede sieht in der Moral etwas anderes, und jede sucht eigentümliche Wege zum Ziel. Die religiöse Moral findet die Aufgabe in der Verbindung mit Gott, in der niederen Form durch Gehorsam, in der höheren durch Liebe; die Kraft zu solcher Wendung erwartet sie aber bei tieferer Fassung des Problems lediglich von dem umwandelnden oder doch kräftigenden Wirken göttlicher Gnade; die rationale verlangt die Aufnahme der uns innewohnenden Vernunft in unseren eigenen Willen und wendet sich dafür vornehmlich an unsere eigene Kraft, unsere Selbsttätigkeit; die soziale Moral setzt die Aufgabe in das Wirken für andere Menschen und für das Ganze der Gesellschaft, sie gestaltet sich damit zum Altruismus; die bewegende Kraft kann sie konsequenterweise nur in den möglichst zu verstärkenden Gefühlen des Mitleids, der Liebe, des Wohlwollens finden; die Arbeitsmoral endlich sieht, wie sich zeigte, die Moral in der völligen Hingebung an das Werk, sie kann für die Erreichung dessen nur der Macht des Tätigkeitstriebes vertrauen, der den Menschen sein subjektives Befinden vollständig vergessen läßt.

So vier verschiedene Lebensströme mit einer in alle Verzweigung reichenden Eigentümlichkeit. Sie deutlich herausgearbeitet und in ihrer Selbständigkeit gegeneinander anerkannt zu haben, das bildet ein Hauptstück der modernen Art; sie hat damit unvergleichlich mehr Reichtum und Bewegung in das Leben gebracht. Aber zugleich hat sie es in arge Verwicklung und Unsicherheit versetzt. Denn die Lebensströme ziehen den Menschen viel zu sehr nach auseinandergehenden, ja entgegengesetzten Richtungen, als daß er ein Nebeneinander dulden und sich zwischen ihnen verteilen könnte; zur ausschließlichen Herrschaft aber hat sich keiner von ihnen gebracht. Auch zeigt jede nähere Prüfung, daß keiner von ihnen aus eigner Kraft zu voller Selbständigkeit gelangt. Die vom Dasein beherrschten Lebenstypen geben dem Leben überhaupt kein Beisichselbstsein und zugleich auch keinen Gehalt, sie können das zu tun nur scheinen, indem sie sich versteckterweise aus eben der Tatwelt ergänzen, welche sie grundsätzlich verwerfen; die der Tatwelt schöpfen freilich aus einem ursprünglichen Leben, aber nicht nur unterliegt dessen Begründung bei ihnen manchen Zweifeln und Angriffen, ihre Unterschätzung des Daseins bringt sie auch in die Gefahr einer Überspannung menschlichen Vermögens und einer einseitigen Gestaltung des Lebens. So bleibt zur Lösung der Verwicklung der einzige Weg die Herausbildung eines die verschiedenen Ströme umfassenden Lebens; ein solches Leben entspringt bei uns nicht unmittelbar und läßt sich von uns nicht erzeugen; teilgewinnen können wir an ihm nur, sofern es als überlegenes in uns zur Wirkung kommt und uns zu seiner Höhe emporzieht. Sein Umfassen aber würde ein bloßes Zusammenstellen werden und keine wesentliche Fortbildung bringen, wenn nicht dieses Leben von größerer Ursprünglichkeit wäre als die geschilderten Lebensströme, und wenn nicht das Verhältnis zu ihm das Grundverhältnis des ganzen Lebens werden konnte, auf das die anderen Verhältnisse aufgetragen würden; aus den Erfahrungen dieses Lebens im Bereich des Menschen müssen jene Verzweigungen hervorgehen, und von ihm aus sind sie zu gegenseitigem Verständnis und zu einem Zusammenstreben zu bringen; jenes Ganze muß an ihnen eine Prüfung, Sichtung, Umbildung vollziehen. Damit kommen wir wieder auf das selbständige schaffende Leben, es muß als Grundkraft in uns wirken, um sich von uns als Ziel ergreifen und gegen Widerstände durchsetzen zu lassen. Jenes Wirken erfolgt aber unter den Bedingungen menschlicher Art; diese bringen es mit sich, daß die Aufgabe von verschiedenen Seiten aus anzugreifen ist, die auch bei der Einfügung in ein Ganzes eine gewisse Selbständigkeit sowohl gegen dieses als gegeneinander bewahren müssen, um ihre eigentümlichen Kräfte zu entfalten und ihre Erfahrungen zu erschließen. Wir müssen uns zeitweilig in den besonderen Lebensstrom versetzen und unbefangen seiner Bewegung folgen, um dann wieder zum Ganzen zurückzukehren und den Ertrag der besonderen Leistung für das Ganze zu bemessen. So eine gegenläufige Bewegung innerhalb des Lebens selbst, eine Aufforderung zum Wechsel zwischen Expansion und Konzentration, darin ein großer Gewinn an Weite und an Freiheit, aber ohne einen Verzicht auf Einheit und gegenseitige Verständigung. Nur gilt es, stets gegenwärtig zu halten, daß das menschliche Leben erst im Suchen und Aufstreben ist; dieses Suchen würde ein unsicheres Tasten und das vermeintliche Aufstreben eine ungebührliche Überhebung sein, stünden wir nicht in einer Weltbewegung, die richtend und zusammenhaltend auf uns wirkt. Durchgängig erscheint bei uns ein schroffes Entweder-Oder: alle Weiterbewegung des Lebens bringt eine wachsende Verzweigung und Differenzierung mit sich, sie würde uns immer weiter auseinander treiben und schließlich unser Inneres völlig vereinsamen lassen, könnte nicht auch die Gegenwirkung der Einheit wachsen, träte nicht aller Mannigfaltigkeit ein ursprünglicheres Leben entgegen, und suchte es nicht die Tatsachen und die Erfahrungen der einzelnen Lebensströme in Gesamttatsachen und Gesamterfahrungen umzuwandeln und ihren Ertrag für das Ganze abzumessen. Wie umwandelnd eine solche Zurückverlegung und solches Streben nach einer ursprünglicheren Tiefe auf die Gestaltung des Lebens und Strebens wirken muß, das wird uns später zu beschäftigen haben. Soviel ist jedenfalls gewiß: ohne das Wirken einer solchen Tiefe ist unser Leben unrettbar der Zerstücklung verfallen, aus eigner Kraft aber vermögen wir ihm jene Tiefe nicht zu geben.

c) Die Bekämpfung eines Auseinanderfallens der Geschichte

Ein eigentümliches Bild der Geschichte ergab sich schon aus unserem Verhältnis zur Zeit. Daß wir nicht starr von der Zeit umfangen sind, sondern sie erleben und betrachten, das hebt uns über sie hinaus und läßt eine Geschichte eigentümlich menschlicher Art entstehen. Dabei kann aber kein Zweifel daran sein, daß was diese Geschichte an Beisichselbstsein des Lebens und an Lebensinhalt gewinnen läßt, nicht ein Werk des bloßen Menschen, sondern eine Eröffnung selbständigen Lebens ist; namentlich die großen Wendepunkte stellen deutlich vor Augen, daß der Mensch solchen Eröffnungen freilich eine bereite Stimmung, ein Suchen und Verlangen entgegenbringen muß; aber aus solchem bloßen Verlangen das Werden neuer Lebensinhalte abzuleiten, das hieße dem heute weitverbreiteten Fehler verfallen, bloße Bedingungen für schaffende Gründe auszugeben und damit die Sache zu verflachen. So erscheint als der Kern der Geschichte eine Bewegung des Gesamtlebens zu sich selbst, ein Sichselbstsuchen, ein Herausarbeiten seines eignen Gehalts. Daher kann es auch hier, nicht bloß nach außen hin, große Entdeckungen geben, und darf kein erreichter Stand als letzthin abschließend gelten.

Nun aber entsteht eine große Verwicklung dadurch, daß die Bewegung nicht eine einzige Linie verfolgt, nicht eine von vorn herein gewiesene Richtung einhält, sich daher auch nicht in ein einfaches Schema fassen läßt, wie es eine naturphilosophische Lehre mit der Behauptung einer allmählichen Anhäufung und eine logisch-dialektische mit der eines Fortschreitens durch den Gegensatz behauptet. Vielmehr zeigt jede genauere Durchmusterung des Bestandes der Weltgeschichte, daß die Eröffnungen des Lebens nach verschiedenen Richtungen gehen und wohl gar in einen Gegensatz zueinander geraten; so scheint die Spaltung in das Geistesleben selbst hineinzureichen, der Mensch aber dadurch ärgster Unsicherheit zu verfallen. Es gipfelt aber das Schaffen in der Bildung allumfassender Lebenszusammenhänge, eigentümlicher Lebenskonzentrationen, die alle Fülle des Lebens in eine Haupterfahrung und eine Hauptleistung fassen, damit aber dem Ganzen erst einen ausgeprägten Charakter verleihen. Wir nannten in früheren Schriften diese Lebenssysteme zur Unterscheidung von den Systemen bloßen Denkens Syntagmen; gewiß bedarf ihre Bildung unablässiger Denkarbeit, aber sie werden damit kein bloßes Erzeugnis dieser, vielmehr empfängt das Denken selbst aus diesen Zusammenhängen eine eigentümliche Art und Richtung, die es aus sich selbst nicht hervorbringen kann; so ist es über dem Denken das Ganze des Lebens, das in den Syntagmen zu einer unvergleichlichen Einheit zusammenschießt. Derartige Syntagmen erkennen wir in der klassischen Kultur der Griechen, in dem kirchlichen System des Mittelalters, in der modernen Aufklärung mit ihren beiden Ästen des Naturalismus und des Intellektualismus. Zur Entstehung solcher Gesamtgebilde muß auch auf der menschlichen Seite manches zusammenwirken: einerseits muß die Gesamtlage ein Verlangen nach besonderer Richtung erzeugen, eine entgegenkommende Stimmung weiter Kreise bereiten, andererseits müssen Individuen erscheinen, welche eine große Kraft in den Dienst der Sache stellen, um das Ersehnte von vagem Umriß zu voller Verkörperung zu führen. Aber auch diese verdanken, was sie leisten, einem Gehobenwerden durch die Bewegung und weitere Offenbarung des Lebens selbst, das Menschliche mit all seiner Unzulänglichkeit ist nicht mehr als Bedingung und Werkzeug, es liefert nur die Gelegenheit, die causa occasionalis, unter der jene Offenbarung erfolgt. Das Christentum z. B. setzt eine Abschwächung des Kulturtriebs, eine innere Ermüdung der Menschheit voraus; ist deshalb die gewaltige Vertiefung und Erneuerung, welche es brachte, ein Erzeugnis jener Ermüdung, ist sie nicht vielmehr eine Gegenwirkung gegen diese, eine Befreiung von ihr? Keine Kunst des Menschen könnte das Leben zu einer charaktervollen Einheit zusammenschmieden, eine Kraft und Gegenstand umspannende volltätige Wirklichkeit entstehen lassen, ein einziges Grundgefühl zum allbeherrschenden machen, eine allumfassende Wendung vollziehen, die den Tatbestand anders sehen und anders bewerten läßt. Nur die Bewegung des Lebens selbst kann alle schwankende Reflexion überwinden und dem Menschen das Bewußtsein eines Umfangenseins und eines Getragenwerdens von einem Reiche der Wahrheit geben, sowie seinem Handeln unangreifbare Ziele stecken. Nur von hier aus werden Weltbild und menschlicher Lebenskreis eine individuelle Färbung und eine volle Anschaulichkeit gewinnen; alle besondere Betätigung aber wird hier erheblich dadurch wachsen, daß sie ein Ganzes hinter sich hat und aus ihm zu schöpfen vermag. Je entschiedener wir darauf bestehen, daß geistiges Leben sich nur im Wirklichkeitbilden vollendet, desto höher müssen uns die Leistungen nach dieser Richtung auf dem Boden der Geschichte gelten.

Je mehr aber solche Leistung einer Lebenskonzentration besagt, und je mehr sie uns als ein eignes Werk des Lebens gilt, desto befremdender, desto niederdrückender muß es wirken, daß die Geschichte nicht eine einzige, sondern mehrere solcher Konzentrationen aufweist. Denn so gehen die Offenbarungen des Lebens weit auseinander und widersprechen sich wohl gar; seine eigne Bewegung scheint immer wieder zurückzudrängen, ja aufzulösen, was zu seiner Zeit die abschließende Vollendung dünkte. Wird damit nicht die Wahrheit ein Kind der Zeit, und stellt sich nicht die Geschichte als ein Auf- und Absteigen dar, dessen Wellenbewegung den Menschen unsicher hin- und herwirft? Behält nicht der Relativismus und Skeptizismus das Feld, wenn sich mit solchem Wandel die Hauptrichtungen und Hauptwertungen des Lebens immer wieder verschieben und kein Ende solches Wandels zu ersehen ist? Fallen wir damit nicht wieder aus dem Reich der Wahrheit in das der bloßen Meinung zurück? Besondere Eindrücke und Erfahrungen der Gegenwart geben solchem Zweifel eine besondere Eindringlichkeit: es wirkt dahin die Ausbildung eines historischen Verfahrens, das uns die Verschiedenheit, ja Einzigartigkeit der Zeiten aufs deutlichste vor Augen stellt, während früher die Zeiten leichter in ein Gesamtbild zusammenrannen; es wirkt weiter dahin die Ausdehnung unseres ethnographischen Gesichtskreises, indem sie in anderen Kulturkreisen andere Lebenskonzentrationen und andere Ideale in voller Kraft und Wirkung zeigt, während in früheren Zeiten der eigne Lebenskreis als der allein berechtigte, ja allein mögliche galt.

Die Verschiedenheit ist unbestreitbar, es kann sich nicht darum handeln, sie wegzudeuten, sondern nur darum, ob und wie sich ihr entgegenarbeiten läßt. Eine solche Arbeit wäre unmöglich, blieben wir letzthin allein auf den Menschen angewiesen; denn wenn die Lebenssysteme bloße Zusammenhäufungen menschlicher Meinungen, Wünsche, Strebungen wären gemäß den wechselnden Lagen der Zeiten, so würde der Verlauf der Geschichte immer mehr Verschiedenartiges nebeneinanderstellen, den Wirrwarr und die Unsicherheit immer weiter steigern. Die Geschichte würde dann ein fortschreitender innerer Zerfall der Menschheit, nur die zwingenden Bedürfnisse der physischen und der sozialen Lebensbehauptung würden uns dann noch leidlich zusammenhalten, die Geisteskultur hätte immer mehr der bloßen Zivilisation zu weichen. Diese zerstörende Wendung läßt sich bekämpfen nur von der Überzeugung aus, daß ein Ganzes des Lebens jener Mannigfaltigkeit der Synthesen überlegen bleibt und sich durch sie hindurch uns eröffnet, daß sie nicht sowohl seinen letzten Abschluß als seine Entfaltung nach einer besonderen Richtung bedeuten; auch so werden sie ein bleibendes Wahrheitselement enthalten, und es kann das, was äußerlich vorüberzog, in einer Welt des Geistes einen bleibenden Wert behaupten, eine bleibende Wirkung üben. Das griechische Lebenssystem machte zum Hauptbegriff und zum Wert der Werte die Form; daran hat das Leben nicht dauernd Genüge gefunden, es hat andere Hauptzüge offenbart und diese das Gesamtbild beherrschen lassen; ist darüber die Form eine Erfindung des bloßen Menschen geworden, behauptet sie sich nicht dauernd als eine Macht der Emporbildung und als eine Tatsache übermenschlicher Art? So gilt es von den Teilbildern der Einheit zu einer allumfassenden Einheit zu streben; das aber kann nur geschehen, wenn an den Syntagmen deutlich geschieden wird zwischen dem, was der bloßen Zeit und dem bloßen Menschen angehört, und dem, was sie an übermenschlichem Lebensgehalt, an bleibenden Urerfahrungen erschließen. Eine solche Bewegung zur Einheit ist auch auf dem Boden der Geschichte augenscheinlich am Werke. Diese zeigt, daß wo ein neues Syntagma aufkam, es zunächst freilich zur vollen Erlangung seiner Eigentümlichkeit eine abstoßende Kraft gegen alles Frühere erweisen mußte, daß es aber nach erfolgter Befestigung zu jenem zurückzukehren und sich mit ihm zu verständigen bestrebt war; das aber konnte nicht wohl ohne eigne Erweiterung, ja Umbildung geschehen. So ist das Christentum eine allumfassende Gedankenwelt erst geworden, als es auf der Höhe des Mittelalters die antike Welt mit ihrer Klarheit und Schönheit an sich zog und zugleich manche Schroffheit der anfänglichen Behauptung milderte; so hat sich die Neuzeit in der Aufklärung zunächst eine Selbstgenugsamkeit zugesprochen und dem Altertum wie dem Christentum überwiegend kritisch gegenübergestellt, sie hat dann aber im weiteren Verlauf ein freundliches Verhältnis zu beiden gesucht und es einerseits im modernen Humanismus, andererseits in neuen Formen des Christentums gefunden. Ob das eine volle Ausgleichung ergab, und ob beide Seiten ihr volles Recht erlangten, ist eine Frage für sich; jedenfalls wurde die Aufgabe anerkannt und viel Kraft an ihre Lösung gesetzt. Auch der Umstand bezeugt ein Streben zur Einheit, daß eine spätere Synthese sich nie als einen bloßen Ausdruck der Zeit, sondern stets als schlechthin gültig und allem Früheren überlegen gab, daß sie daher auch den ganzen Umkreis des Lebens zu beherrschen bemüht war.

Aber solche Anerkennung einer Gesamtbewegung durch die Mannigfaltigkeit der Synthesen hindurch kann wirksam und eingreifend bei uns nur durch die Erfüllung bestimmter Forderungen werden; es bedarf dazu einer Erhebung der geistigen Arbeit auf einen sowohl übermenschlichen als übergeschichtlichen Standort, es bedarf einer Umkehrung der gewöhnlichen Betrachtungsweise. Nur damit wird es möglich, den Geistesgehalt der Synthesen von dem zu scheiden, was aus bloßmenschlichen Lagen hervorging, und ihn zugleich von dem unaufhörlichen Wechsel dieser zu befreien. Wir sahen, daß das Christentum nach der menschlichen Seite ein Unsicherwerden und eine Ermüdung voraussetzen mußte, um Empfänglichkeit für seine Eröffnung eines tiefen Zwiespalts im Menschenwesen, seinen Aufweis der völligen Unzulänglichkeit menschlichen Vermögens zu finden; im Lauf der Zeiten hat sich die Lage und mit ihr die Stimmung der Menschheit geändert, und es ist wohl gar ein freudiger Stolz auf die Größe und Würde der Menschheit entstanden, aber ist dadurch jener Zwiespalt aufgehoben worden, bricht er nicht immer wieder hervor, bleibt er trotz veränderter Ausdrucksweise nicht dem geistigen Schaffen stets gegenwärtig? Der Mensch kann solche Uroffenbarungen zurückzudrängen und zu vergessen suchen, er entfernt sie damit nicht aus dem Leben; einmal eröffnet, werden sie immer wieder zur Wirkung kommen. So gilt es durchgängig, von einem übermenschlichen Standort aus den Wahrheitsgehalt der Synthesen zu würdigen und zugleich, was sich geschichtlich als ein Nacheinander ausnimmt, aus einer Betrachtung sub specie aeternitatis in ein Miteinander zu verwandeln und in seinem Zusammenwirken zu verstehen. Es gilt Ernst damit zu machen, daß der Mensch, soweit er am geistigen Leben teilnimmt, seinen Hauptstandort nicht innerhalb des Stroms der Geschichte, sondern über ihm in einer zeitüberlegenen Gegenwart zu nehmen hat. Es gilt von den Schwankungen der Zeiten einen bleibenden Besitz der Menschheit als eines Gliedes der geistigen Welt abzuheben und jenen Schwankungen entgegenzuhalten; es wird das schwerlich von den bloßen Individuen her und der sogenannten öffentlichen Meinung erreichbar sein, es bedarf dazu einer festen Gemeinschaft, welche sich der ewigen Aufgaben annimmt, ohne die das Menschenleben allen Halt und Sinn verliert; daß die mittelalterliche Kirche diese Aufgabe zu eng gefaßt und zu starr behandelt hat, das sollte ihre Notwendigkeit keinen Augenblick verdunkeln.

Diese übergeschichtliche Betrachtungsweise muß auch die besondere Zeit in eine eigentümliche Beleuchtung rücken. Diese ist nicht bloß ein Punkt der fortlaufenden Bewegung, ein bloßer Durchgangspunkt, abhängig von der Zufälligkeit der jeweiligen Lage, sondern sie ist auch eine Stelle, bis zu der sich eine Eröffnung geistigen Lebens vollzogen hat und auf der sie sich weiter vollzieht; dies, und nicht das in aller Selbstgefälligkeit leere Getriebe der Menschen, bestimmt ihren Geistescharakter. Sie enthält einen Stand der geistigen Evolution, den sich jeder aneignen muß, der nicht dem bloßen Augenblick dienen, sondern Dauerhaftes bauen möchte. Selbst das Schwanken und Suchen einer Zeit, wie wir es heute erleben, besagt dann nicht eine volle Hilflosigkeit, sondern es darf als ein Anzeichen dessen gelten, daß neue Lebenselemente hervorgebrochen, neue Ausblicke eröffnet, neue Erfahrungen gemacht sind, und daß die von ihnen geforderte Wandlung zu tief geht, um sich innerhalb der älteren Lebenssynthesen vollziehen zu lassen. Einem solchen Stand der Dinge ist nur eine neue Lebenssynthese, eine neue Uroffenbarung gewachsen, welche im Vollziehen einer Wendung im Ganzen den Wahrheitsgehalt der früheren Synthesen in sich aufnimmt; an der Möglichkeit einer solchen hangt demnach aller Glaube an die geistige Zukunft des Menschengeschlechts. Künstlich bereiten läßt sich eine solche Synthese nicht, wohl aber können wir ihr den Boden bereiten, indem wir trügerische Bilder verbannen, gewisse Umrisse zu entwerfen, Hauptrichtungen andeutend herauszuarbeiten suchen. Wie das aus der eigentümlichen Lage der Gegenwart zu geschehen hat, das soll uns gleich näher beschäftigen; jedenfalls erweist auch hier das überlegene Leben seine Wirklichkeit dadurch, daß es nicht nur in einen Anblick zusammenfaßt und zugleich tiefer begründet, was im menschlichen Bereiche aufstrebt, sondern daß es Punkt für Punkt neue Ausblicke eröffnet, neue Aufgaben stellt, neue Kräfte erweckt, damit die Lebensbewegung steigert. Den Erweis der Wahrheit des Lebens kann schließlich nur das Leben selbst mit seinen Leistungen bringen.


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