Rudolf Eucken
Mensch und Welt
Rudolf Eucken

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II. Entwicklung der Hauptthese

1. Die Weiterbildung des Grundgefüges des Lebens

In drei Hauptrichtungen, so sahen wir, entwindet sich der Aufstieg des menschlichen Lebens den Schranken der sinnlichen Natur. Feste Zusammenhänge entstehen und scheiden sich deutlich vom Nebeneinander einer bloßen Zusammensetzung; statt in Beziehungen nach außen aufzugehen, schafft das Leben bei sich selbst einen Kreis und entwickelt damit eine Innerlichkeit; endlich tritt es bei sich selbst auseinander und strebt doch wieder zusammen, damit gewinnt es einen Daseinsraum und wird ein Wirklichkeitsschaffen; alle diese Wandlungen erfolgen mittels des Denkens und in Bildung eines Gedankenreiches, das sich der sinnlichen Welt überlegen und zu ihrer Beherrschung berufen fühlt.

Aber diesen Aufstieg verfolgen das hieß zugleich die schweren Hemmungen gewahren, die ihn im Bereich des Menschen ins Stocken zu bringen drohen. Den Zusammenhängen fehlt hier sowohl ein ausgeprägter Charakter als eine den widerstrebenden Einzelelementen gewachsene Kraft; die Innerlichkeit vermochte eine Selbständigkeit nicht zu behaupten, sondern erlag weithin der Macht eben dessen, das es überwinden wollte; die Scheidung aber ergab eine schroffe Spaltung, und das Leben erreichte statt echter Wirklichkeit nur das Scheinbild einer solchen. In dem allen erwies die Denktätigkeit ein Unvermögen, einen neuen Lebensstand hervorzubringen, sie blieb mehr Spiegelung und Begleitung, auch Auflösung und Verflüchtigung, als eine Kraft ursprünglichen Schaffens. So erwuchs denn jener Stand der Halbheit und Unwahrhaftigkeit, den wir nicht ertragen können, und dem wir doch bisher nicht zu entgehen vermochten.

Eine Möglichkeit dessen eröffnet sich aber mit der Eröffnung eines Ganzen des Lebens, das aus selbständiger Art und mit überlegener Kraft im Menschen und zum Menschen wirkt, wir werden die Gesamtlage bis in alle Verzweigung hinein damit einen neuen Anblick gewinnen sehen. Es wird sich zeigen, daß was bei uns in jeder Hauptrichtung an Bewegung aufstrebt, das Wirken eines solchen Lebens in uns bekundet; es wird sich weiter zeigen, wie seine volle Anerkennung und Aneignung Punkt für Punkt weiterführt, wie sie überall klärend und kräftigend wirkt. Die Widerstände verschwinden damit keineswegs, eher mögen sie noch größer erscheinen, aber das volle Selbständigwerden des Neuen verbessert unsere Lage ihnen gegenüber wesentlich, die Hemmungen werden damit nach außen gerückt. Höheres und Niederes tritt deutlich auseinander, und die träge Stagnation kann nun einem frischen Kampfe weichen. Nicht das Dasein verschiedener Stufen, sondern die Vermengung ist es, welche das Leben aufs Schwerste gefährdet.

Über das Nebeneinander der Elemente ging die Bewegung hinaus, neue Lebensformen erhoben sich, neue Schätzungen kamen zur Geltung. Freilich vermochten sie bisher nicht sich in reiner Gestalt durchzusetzen, sie sanken in eben das zurück, das sie überwinden wollten, eine Vermengung war nicht zu verhüten. Aber selbst die Vermengung läßt die Tatsache unangetastet, daß etwas im Menschen sich regt, was gegen das bloße Nebeneinander der Naturstufe aufstrebt, und schon dies Streben erweist eine gewisse Tatsächlichkeit, die mit dem Neuen, das sie einführt, unmöglich ein Erzeugnis des bloßen Menschen, d. h. doch der einzelnen Individuen, sein kann. Mag die Einheit einer Persönlichkeit, mag die Verbindung der Einsichten zu einem wissenschaftlichen System, mag das Wirken für ein Ganzes des Volkes oder der Menschheit noch so unzulänglich sein, noch so sehr bloßer Wunsch und Hoffnung bleiben, als Gedanken sind sie da und bilden, als eine Möglichkeit in ihrer deutlichen Abhebung von einem andersartigen Stande, selbst eine Art von Wirklichkeit, wenn auch zunächst nur schattenhafter Wirklichkeit, selbst ein Zeugnis für die Tatsächlichkeit einer neuen Lebensstufe. Jener Zug zum Ganzen kann nicht dem Menschen, sondern nur dem Leben selber entstammen, das sich damit als ein Ganzes erweist, das aus eigenem Vermögen aufsteigt. Nur das Wirken eines solchen Lebensganzen in uns macht es möglich, eine gemeinsame Gedankenwelt, ein gegenseitiges Sichverstehen und Miteinanderfühlen der Menschen, eine Auftragung des Einzelgeschicks auf das Geschick der gesamten Menschheit auch nur vorzustellen und als ein begehrenswertes Ziel zu verkünden. Wieviel Bewegung aber ein solches Streben hervorruft, und daß es mehr als bloße Einbildung ist, das zeigen besonders deutlich die Religionen, das zeigt auch die Kunst, denn ihr Werk bedarf notwendig eines Zusammenklanges der Seelen und der Herstellung einer gemeinsamen geistigen Atmosphäre. So weist durchgängig, was in dieser Richtung beim Menschen vorgeht, über ihn selbst hinaus auf einen inneren Zusammenhang des Lebens, das eigene Kräfte und einen eigenen Gehalt entwickelt.

Die bloße Anerkennung dessen besagt freilich an sich recht wenig, sie ist nur wertvoll, sofern sie zu einer Aneignung führt, sofern sie eine Bewegung hervorruft, jenes Leben als eignes zu ergreifen und es zum Hauptstandort des Strebens zu machen. Das aber muß wesentlich neue Ausblicke und auch neue Antriebe geben. Entwindet die höhere Stufe sich der Vermengung und wird sie mit umwälzender Tat als selbständig angeeignet, so erhebt sich notwendig die Forderung einer näheren Bestimmung ihrer Eigentümlichkeit und ihres Gehalts, so wird die Vagheit unerträglich, in welcher der Gedanke des Ganzen das Durchschnittsleben zu begleiten pflegt. In dieser Richtung hat der Gedanke eines freischwebenden Allgemeinen eine verhängnisvolle Macht über die Menschheit gewonnen: er hat statt echter Wirklichkeit bloße Schatten geboten, das Leben ins Bloßintellektuelle verdünnt und zugleich die Notwendigkeit einer großen Umwandlung verschleiert. So von den griechischen Denkern her bis zur Verherrlichung des Allgemeinen durch Hegel ein Kultus allgemeiner Begriffe. Mit Notwendigkeit erhebt sich demgegenüber folgendes Dilemma: entweder ist das Allgemeine von den Einzelgrößen nur abstrahiert, nur eine Heraushebung dessen, was sich an allen findet, – dann kann es unmöglich wesentlich Neues bringen und eine besondere Schätzung verlangen, – oder es hat einen eigenen, jenen Größen überlegenen Gehalt, – dann muß es der Ausdruck, das Gefäß eines neuen Lebens sein und daraus einen Wert empfangen, die bloße Form der Allgemeinheit als einer freischwebenden Größe tut es wahrhaftig nicht. Wenn aber statt des Allgemeinen zum leitenden Begriff der eines einheitlichen Ganzen wird, so drängt das unmittelbar zur Forderung eines eigentümlichen Charakters und verschiebt schon durch das Streben danach das ganze Leben vom Vagen ins Charakterhafte, zum mindesten verwandelt es die Gesamtlage in ein Problem und läßt die Unfertigkeit stark als eine solche empfinden. Wie rechtfertigt sich z. B. die Hochschätzung der Menschheit als eines bloßen Allgemeinbegriffs? Die Zusammenstellung der übereinstimmenden Züge der Individuen in ihrem Nebeneinander begründet keine Verehrung, ergibt auch keine innere Gemeinschaft; ohne eine Zusammenfassung zum Ganzen einer Lebenseinheit und die Eröffnung eines gemeinsamen Werkes schwebt der Begriff in leerer Luft und kann keine starke Wirkung üben. Auch ein Wissen, das Erkennen werden möchte, kann sich nie damit begnügen, zu klassifizieren und zu rubrizieren, eine Pyramide immer mehr sich verallgemeinernder, d. h. immer leererer Begriffe aufzubauen, es muß ein umfassendes Ganzes suchen, dieses in die Bildung besonderer Einheiten verfolgen und von ihnen aus den empfangenen Bestand beleben. So wird von zwei Seiten aus zu arbeiten sein: vom Entwurf eines Ganzen her, der sich erst näher durch den Fortgang der Arbeit zu determinieren hat, und von der Mannigfaltigkeit des Einzelnen her, die eine Belebung erst von der Berührung mit dem Ganzen empfängt.

So tritt hier auch das Gesamtbild des Lebens, sofern sich dieses dem Nebeneinander der bloßen Natur entwindet, in eine neue Beleuchtung. Das selbständige Leben kann die einzelne Stelle nicht gewinnen, ohne ihr als Ganzes unmittelbar gegenwärtig zu sein, ohne ihr zu eigenem Leben und Streben zu werden, ohne als ihr wahres Selbst anerkannt und ergriffen zu werden. Die Bewegung erlangt damit einen immanenten Charakter, sie wird in den eigenen Bereich verlegt, nicht in das Verhältnis zu etwas Draußenbefindlichem, sie gewinnt damit eine unvergleichlich größere Kraft. Zugleich steigt auch ihre Aufgabe und ihre Spannung. Denn nun genügt nicht ein ruhiger Fortschritt in gesicherter Bahn, nun wird, da die nächste Lage das Leben an das kleine Sonder-Ich bindet, ein Bruch und eine Umkehrung unvermeidlich, nun gilt es nicht, dieses oder jenes am Leben, sondern es gilt ein wesentlich neues Leben zu erringen, ein wahrhaftiges Selbst erst zu erreichen, der Kampf geht von Ganzem zu Ganzem. So zeigt sich schon hier, daß alles echtgeistige Leben eine durchgehende Tat enthält und insofern einen ethischen Charakter trägt. Aber zugleich vermag die ethische Bewegung den überwiegend verneinenden Charakter abzulegen, der ihr in der Volksvorstellung anzuhaften pflegt. Hier nämlich scheint sie dem Menschen vornehmlich eine Einschränkung, Unterordnung, Entsagung aufzulegen; nun ergibt sich, daß solche Verneinung nur zugunsten einer Bejahung erfolgt und aus dieser ihre beste Kraft zieht. Diese Bejahung zu beleben, ein neues und echtes Selbst gegenüber dem alten, nur scheinbaren zu gewinnen, das wird immer die Hauptaufgabe der ethischen Bildung sein. Zugleich vermag erst mit dieser Wendung das menschliche Leben den Charakter der Größe zu gewinnen. Denn wenn das Ganze mit seiner Unendlichkeit nicht der einzelnen Stelle zu eigenem Leben werden kann, so wird diese Stelle unvermeidlich ein Stück eines gegebenen Gefüges bleiben, so wird ihre Bewegung nur von Punkt zu Punkt verlaufen; nur aus der Kraft des Ganzen kann sie ein Gesamtbild entwerfen und an ihm den vorhandenen Zustand messen, nur so wird auch beim Menschen das Leben ein Verhältnis von Welt zu Welt, ein Schweben und Entscheiden über Welten.

Daß aber so das Ganze des Lebens der einzelnen Stelle zu eigenem Leben werden kann, ohne sie zu erdrücken und ihre Selbständigkeit zu vernichten, das ergibt ein eigentümliches Bild vom All wie von der menschlichen Gesellschaft, das hebt über Gegensätze hinaus, denen wir sonst erliegen müßten. Es entsteht ein eigentümliches Weltgefüge, wenn das Einzelwesen nicht mehr den bloßen Punkt eines Beziehungsgewebes bildet, aber auch kein unselbständiges Stück eines einzigen Stromes wird, sondern wenn es ein eigenes bleiben und eigenes Tun entwickeln und doch das Allleben teilen, wenn es den bloßen Punkt überwinden kann, ohne darüber ein Selbst zu verlieren; denn so wird aus der Wirklichkeit eine Welt von Welten, nur so kann sie ein durchgehendes Leben gewinnen. Nur damit erklärt sich, daß Begriffe wie Persönlichkeit und geistige Individualität eine solche Bedeutung erlangen und so viel Anziehungskraft üben können; auch wird es nur von hier aus möglich, in der Religion den Gegensatz des Deismus und des Pantheismus, d. h. eines nur äußeren Verhältnisses zur Gottheit und eines völligen Aufgehens in sie, zu überwinden. Bei der menschlichen Gesellschaft aber erhebt die hier geforderte Wendung über den Gegensatz einer mechanischen und organischen Fassung. Wie beide Bilder dem Reich der Natur entlehnt sind, so bringen die Begriffe, denen sie dienen, die der höheren Stufe wesentliche Eigenschaft der Tat und die notwendige Umwälzung nicht zu gehörigem Ausdruck. Die mechanische Fassung, welche alles von den bloßen Individuen her aufbaut, vermag nicht Liebe und Aufopferung für das Ganze begreiflich zu machen, die organische dagegen, welche alles vom Ganzen kommen läßt und die Individuen nur als Zubehör dieses kennt, raubt ihnen alle Selbständigkeit und zugleich dem Leben seine volle Ursprünglichkeit. Der Eigentümlichkeit der menschlichen Gesellschaft entspricht nur eine Gestaltung, welche sowohl ein den Individuen überlegenes Ganzes als eine unmittelbare Ergreifbarkeit dessen in der Seele des Einzelnen anerkennt. Wie eine solche Gestaltung aber jedem Punkte eine Aufgabe stellt und ihn zur Entscheidung aufruft – man könnte sie der mechanischen und organischen gegenüber eine mikrokosmische nennen –, so umfängt sie uns keineswegs von vornherein mit sicherer Tatsächlichkeit, sondern sie ist von uns erst herzustellen, sie bildet ein Ideal, das erst errungen sein will. So aber zeigt überhaupt die Anerkennung eines selbständigen, dem Einzelpunkt überlegenen und doch dem Menschen gegenwärtigen Lebens die Welt als nicht fertig abgeschlossen, sondern als erst im Werden begriffen. Daher kann jenes Leben auch den Beweis seiner Tatsächlichkeit nicht in der Weise führen, daß es eine schon vorhandene Leistung aufzeigt, sondern nur in der, daß es neue Möglichkeiten eröffnet, zu deren Ergreifung das Scheitern der anderen Fassungen drängt, ja die es zu Notwendigkeiten macht, daß es Bewegungen hervorruft, Lebensentfaltungen anregt, die eine wesentliche Steigerung der Wirklichkeit mit sich bringen. Es gerät hier etwas in Fluß, was unmöglich ein bloßer Einfall, eine leere Einbildung sein kann, was vielmehr in aller Unfertigkeit die wirksame Gegenwart eines selbständigen schaffenden Lebens bekundet.

Eine Selbständigkeit, so sahen wir, kann der Gedanke des Ganzen nicht erlangen ohne die Ausbildung eines eigentümlichen Charakters; dies führt auf das Problem der Innerlichkeit. Auch hier bringt der Gedanke eines souveränen und autonomen Lebens eine Überwindung der verworrenen Lage, deren niederdrückendes Wirken wir erkannten. Zunächst erhält nunmehr, was in gemeinsamer Erfahrung vorliegt, erst einen festen Grund und eine deutliche Aufhellung. Wir sehen eine Bewegung zur Innerlichkeit die gesamte Menschengeschichte durchdringen und eine Umkehrung vom Sinnlichen ins Unsinnliche vollziehen; mögen wir Menschen als Individuen noch so sehr der sinnlichen Welt verhaftet bleiben, unsinnliche Größen sind mehr und mehr die überwiegende Triebkraft des gemeinsamen Handelns geworden, mehr und mehr ward hier die sinnliche Welt auf eine unsinnliche aufgetragen, von dieser aus erlebt und bemessen. Was hat wohl diese Umwälzung herbeigeführt, die weit merkwürdiger ist, als sie der Durchschnittsmeinung erscheint? Sicherlich konnte sie nicht durch ein bloßes Verblassen der sinnlichen Eindrücke entstehen, denn ein solches konnte ihr weder einen eigentümlichen Gehalt noch eine bewegende Kraft verleihen, es konnte der Kulturarbeit unmöglich eine Selbständigkeit gegenüber dem sinnlichen Dasein erringen und sie ihm oft schroff widersprechen lassen. Auch der einzelnen Menschen Werk kann unmöglich die Wendung sein. Denn angenommen, die einzelnen Stellen wären imstande, den sinnlichen Bereich überschreitende Lebensentfaltungen hervorzubringen, es würden dann verschiedene Fäden nebeneinander verlaufen, nun und nimmer könnte aus ihrem Durcheinander das Ganze einer Innenwelt entstehen, die das Streben des Einzelnen richten und erhöhen könnte. Auf den Gewinn einer solchen Innenwelt geht aber das menschliche Verlangen. Endlich kann, was an Entfaltung von Innerlichkeit vorliegt, nun und nimmer das Erzeugnis eines freischwebenden Denkens sein. Denn einmal setzt ein solches Denken eine Befreiung von der Sinnlichkeit schon voraus, ferner aber ist nicht zu ersehen, wie von ihm aus die Bewegung ein Beisichselbstsein erreichen und aus seiner Kraft einen Charakter entwickeln, sowie als Antrieb wirken könnte. So treibt es auch hier zwingend zur Anerkennung eines autonomen Lebens, eines Lebens, als dessen Selbstentfaltung die Innerlichkeit allein verständlich wird. Sie würde damit nicht eine bloße Seite, sondern eine Stufe der Wirklichkeit bilden; von hier aus erst wird begreiflich, daß eine umfassende Einheit alle Besonderheit umspannt und die einzelne Stelle zu ihrem Ausdruck gestaltet. Aber auch hier müßte das Begreifen zu einem Ergreifen und Aneignen führen, wenn eine Fortbildung des Lebens entstehen soll. Es gilt, sich in jenes Leben und sein Beisichselbstsein zu versetzen, damit dem Unsinnlichen einen positiven Sinn zu geben und durch jenes gestärkt sowohl einen Kampf gegen die erschlaffende Vermengung aufzunehmen als eine Bewegung zu eigner Fortbildung in Fluß zu bringen. Der Kampf hat sich zunächst gegen das Eindringen sinnlicher Elemente in unsinnliche Größen zu richten, was um so leichter geschieht, als die Menschheit in ihrer geschichtlichen Bewegung langsam vom Sinnlichen zum Unsinnlichen vorgedrungen ist. Es handelt sich dabei nicht bloß um einzelne Punkte, sondern es kann auch der Gesamtstand des Lebens eben beim Aufstreben zu einer unsinnlichen Welt der Sinnlichkeit enger verkettet bleiben, als die Forderung der Sache gestattet. Ganze Epochen erhalten dadurch einen eigentümlichen Charakter. So liegt hier ein Hauptunterschied mittelalterlicher, unter uns noch immer wirksamer Denkart und ausgeprägt moderner. Wie die Innerlichkeit des Mittelalters mehr passiv und anschmiegend als selbständig und schöpferisch war, so blieb ihr das Sinnliche ein unentbehrlicher Bestandteil geistiger Größen und Vorgänge, erst durch Hinzunahme jenes schienen sie volle Realität zu erlangen. Der Neuzeit dagegen hebt sich das Unsinnliche zu voller Selbständigkeit und Ursprünglichkeit empor, hier entsteht eine selbsttätige Innerlichkeit und setzt das Sinnliche zu seinem bloßen Mittel oder auch Ausdruck herab. Wie das den Gesamtcharakter des Lebens bis in alle Verzweigung hinein wesentlich verändern muß und in Wahrheit verändert hat, das liegt deutlich genug vor Augen.

Dem Menschen gegenüber bedarf aber die Innerlichkeit des Kampfes, weil ihm die Neigung innewohnt, ihren Bestand aus dem Wesenhaften ins Subjektive zu wenden und eine bloß begleitende und nachklingende Innerlichkeit als selbständig und schöpferisch zu geben zum Schaden der Kraft und der Wahrheit des Lebens. Das nimmt nach der Art der Zeiten verschiedene Gestalten an: z. B. erscheint es bei überwiegend religiösen Epochen als sentimentale und pietistische, in scheinbarer Demut selbstbewußte Frömmigkeit, in überwiegend künstlerischen aber in gestaltloser Gefühlsschwelgerei und aufgeblasenem Pathos. Hier wie da eine wesenlose Innerlichkeit mit der Gefahr einer Zersplitterung der geistigen Arbeit. Die Anerkennung einer Selbstentfaltung des autonomen Lebens gibt die Möglichkeit, dem entgegenzuwirken, indem sie die Frage auferlegt, wieviel in jener Bewegung an geistigem Gehalt herauskommt, der die Individuen über den nächsten Stand weiterzubilden vermag.

Endlich ist auch der Unterschiebung formaler Allgemeinbegriffe statt echter Innerlichkeit kräftig entgegenzuwirken. Hier liegt eine große Gefahr, ja eine Verirrung der Neuzeit. Sie wollte das mittelalterliche Einfließen sinnlicher Elemente in die geistige Arbeit überwinden, sie hat aber oft statt wesenhaft geistiger bloß intellektuelle Größen, freischwebende Begriffe geboten und das ganze Leben mit solchen Größen umsponnen, die selber der Fundierung entbehren und daher auch jenem keinen festen Grund zu geben, noch dem Sinnlichen eine gewachsene Kraft entgegenzusetzen vermögen. Daß der daraus hervorgehenden Verflüchtigung des Lebens gegenüber die mittelalterliche Denkweise neuerdings wieder Raum gewinnt, ist sehr begreiflich, denn irgendwelchen festen Halt muß das Leben besitzen; vermag es ihn nicht selbst zu erzeugen, so muß es ihn draußen suchen; die freischwebende Denktätigkeit ist jedenfalls jener Aufgabe nicht gewachsen.

Die verschiedenen Arten der Abwehr zeigen auch die Richtungen an, in denen eine Weiterbildung der Innerlichkeit zu suchen ist. Das vor allem steht außer Zweifel, daß sie nicht ein fertiges Datum, sondern ein schweres Problem bedeutet, daß sie nicht eine Antwort, sondern eine Frage bildet. Dieses Problem zu lösen oder doch zu fördern vermag nicht das einzelne Individuum, sondern nur die weltgeschichtliche Arbeit mit ihrer Verflechtung der Individuen und Völker. Nicht grübelnde Reflexion, sondern nur Tat und Erfahrung kann das Leben weitertreiben, kann neue Kräfte erwecken, kann Weiterbildungen auch seines Gesamtstands bewirken. Aus Feuer und Sturm des Lebenskampfes, nicht aus Entwerfung bloßer Bilder, geht echter Fortschritt hervor. Das macht den Lebensgehalt und mit ihm die Wahrheit nicht zu einem bloßen Kinde der Zeit. Denn ein Beisichselbstsein des Lebens läßt sich nicht anerkennen ohne von der bloßen Zeitgeschichte eine Geistesgeschichte zu scheiden, d. h. eine Geschichte, welche nicht ein bloßes Dahinrollen mit der Zeit ist, sondern welche einen Ewigkeitsbestand aus dem menschlichen Getriebe herausarbeitet und ihm gegenüber befestigt; insofern erscheint hier der Fortgang der Geschichte als eine Befreiung von der bloßen Zeitgeschichte, die Fortbewegung des Lebens als eine wachsende Selbsterschließung im Bereiche des Menschen; dieser schafft nicht das Leben, er hat es vielmehr zu empfangen und zu teilen. So besteht keine Gefahr, daß die hier verfochtene Erschließung des Lebens in der weltgeschichtlichen Arbeit es einem haltlosen Relativismus überliefere. Denn Erschließung ist nicht Erzeugung, Bedingung und Anlaß nicht schaffender Grund. Die Geschichte selbst aber gewinnt erst einen rechten Sinn und eine durchgehende Spannung als Herausarbeitung einer Welt des Beisichselbstseins, nur dadurch erhalt sie einen festen Kern, dem gegenüber alles andere, mag es sich noch so laut geberden, zur bloßen Umgebung und Nebensache wird; nur solche Verankerung in einer ewigen Ordnung entwindet die Geschickte dem Wandel der bloßen Zeit, der von sich aus alles verflüchtigt. Daß die Innerlichkeit aber zur Innenwelt werde, das stellt weitere Forderungen, die uns nunmehr beschäftigen müssen.

Wir erkannten nämlich eine wesentliche und unentbehrliche Fortbildung des Lebens darin, daß es sich bei sich selber auseinanderlegte, daß Kraftentfaltung und Sachgehalt ihm auseinandertraten; nur so wurde es aus dem wirren Chaos des Anfangsstandes aufgerüttelt und zu durchgehender Klärung gezwungen, damit gewann es bei sich selbst eine Weite, einen die beiden Seiten umspannenden Lebensraum, zugleich aber fand es sich vor die Aufgabe gestellt, die Spaltung irgendwie zu überwinden. Dies aber zeigte sich von der Anfangslage aus nicht nur schwierig, sondern unmöglich. Denn die geschiedenen Seiten, so sahen wir, verharrten mit starrer Schroffheit gegeneinander, eine Wiedervereinigung wollte nicht gelingen; so blieb das Leben mit einem Widerspruch behaftet und ward dadurch zum Stocken gebracht. Darüber hinauskommen läßt sich nur durch eine Überwindung der Anfangslage, und diese kann nur durch eine Umkehrung erfolgen, wie sie durch den Gedanken eines in sich selber ruhenden, absoluten Lebens möglich wird, dessen Entfaltung die beiden Seiten bilden. Denn nur von ihm aus hellt sich die Tatsache auf, daß ein Sachgehalt sich von der Kraftbetätigung ablösen und doch dem Leben als etwas eignes gegenwärtig bleiben kann, nur von hier aus erklärt sich der Schmerz der Spaltung, nur von hier aus der Eifer des Wiederzusammenstrebens, nur von hier aus ergibt sich die Möglichkeit, beide Seiten miteinander in Fluß zu bringen und sie miteinander fortzubilden. Daß aber eine Bewegung dahin weit über menschliche Meinung und Absicht hinaus besteht und tatsächlich eine Überwindung des Spaltes vollzieht, das zeigt der Fortgang des Lebens über die Stufe der Arbeit hinaus zu der des Schaffens mit seinen Werken. Auch die Arbeit setzt Kraft und Gegenstand in Beziehung, aber sie behandelt den Gegenstand als etwas draußen Befindliches und daher innerlich Fremdes; mag sie bis aufs sorgfältigste seinen Befund bis in die kleinsten Elemente ermitteln, sie gewinnt kein inneres Verhältnis zu ihm, sie kann ihn daher nicht voll aneignen noch in seinem eignen Bestande durchleuchten. Das gilt sowohl für das Erkennen als für das Handeln, es ergibt hier wie da wohl Leistungen vielfachster Art, nicht aber vollendete Gebilde. So gewährt die Naturwissenschaft bei aller eindringenden Zergliederung des Gewebes der Natur keinen Einblick in ihre Elemente und damit auch nicht in den Sinn des Ganzen; so rückt uns die strenge Geschichtsforschung mit ihrer präziseren Erfassung der Eigentümlichkeit der einzelnen Zeiten die Vergangenheit eher ferner als näher wie vordem, wo das Damals und das Jetzt in Eins zusammenrannen. Auch im Verhältnis von Mensch zu Mensch ergibt alle Verbindung zur Arbeit und alle Verschlingung der Kräfte zu ausgedehnten Komplexen noch keineswegs eine innere Gemeinschaft, ein seelisches Zusammenleben, wie eben die Gegenwart mit ihrer großartigen Verkettung der Menschen zur Arbeit und ihrer inneren Vereinsamung zeigt. Ja wie die gesamte moderne Kultur sich überwiegend zur Arbeitskultur, zur Unterwerfung und Nutzung der uns gegenüberliegenden Welt gestaltet hat, so läßt sie uns sowohl die Welt wie unsere Seele innerlich fremd; hinter der Tätigkeit bleibt etwas liegen, das ihr eine starre Grenze setzt und eine Befriedigung bei ihr verbietet.

Aber nicht nur empfinden wir diese Absteckung als eine unerträgliche Begrenzung: daß die Grenze der Arbeit nicht den Abschluß des Lebens bildet, das zeigt sein Fortgang zum Schaffen, d. h. zu einer Betätigung, welche Kraft und Gegenstand umspannt und sie sich beide gegenseitig durchdringen läßt; es geschieht das aber durch die Herstellung eines beide in ein einziges Tatgeschehen verbindenden und dadurch erhöhenden Werkes, das sich von einer bloßen Arbeitsleistung mit voller Klarheit unterscheidet. So erscheint es besonders deutlich auf den Höhen der Kunst, so erscheint es aber auch in den anderen Lebensgebieten, so erscheint es auch im Verhältnis von Mensch zu Mensch. Denn auch hier ist ein Punkt erreichbar, wo der eine wie der andere bei voller Wahrung seiner Ursprünglichkeit und ohne Verwischung seiner Eigentümlichkeit in einen gemeinsamen Lebensstand versetzt und durch ihn gegen den Anfangsstand wesentlich weitergebildet wird; auch hier geschieht das nicht durch bloße Worte und Lehren, sondern durch die Erzeugung eines umfassenden Werkes, das über die Scheidung hinaushebt und einen gemeinsamen Daseinskreis herstellt. So tut es der geschichtliche Aufbau einer Nation, so tut es auch die Bildung eigentümlicher religiöser Lebenskreise. Dabei erfolgt keine bloße Zusammensetzung einzelner Stücke, auch keine bloße Ausgleichung verschiedener Seiten, sondern ein vordringendes Schaffen, das jeden einzelnen Punkt durch das Teilgewinnen am Ganzen eines Lebens über den Anfangsstand hinaushebt. Was aber an besonderen Daseinskreisen entsteht, das fordert schließlich die Bildung einer Gesamtwirklichkeit als eines allumfassenden Werkes; sie fordert sie nicht nur, sondern sie erweist sie auch, denn die Bildung von Teilwirklichkeiten und ein Streben zu einer Gesamtwirklichkeit könnte beim Menschen nicht entstehen, wenn die dazu erforderliche Umkehrung nicht im Ganzen des Lebens läge und von ihm aus uns vorgehalten würde. Wirklichkeit als innerer Zusammenhang der Mannigfaltigkeit und als Überwindung des Gegensatzes von Kraft und Gegenstand entspringt nicht aus dem bloßen Dasein durch irgendwelche Steigerung, sie verlangt, von diesem aus angesehen, eine völlige Umkehrung, als eine solche kann sie nur aus dem Leben selbst, nicht aus dem bloßen Menschen stammen; um für uns Ziel des Strebens zu werden, muß sie als eine uns überlegene Tatsache in uns wirken. Das stellt den menschlichen Lebensstand unter einen eigentümlichen Anblick. Alles Streben nach Lebensgehalt und Geisteskultur wäre von vornherein zum Scheitern verdammt und selbst sein Entstehen wäre nicht zu begreifen, hätte nicht von Haus aus das Menschenwesen an einer volltätigen Lebenswirklichkeit teil, und empfinge es nicht Antriebe von daher; aber eben dieses Innerste und Ursprünglichste ist für den Menschen des Daseins ein hohes und fernes Ziel, ein Ziel, dem er sich nur nach und nach, nur von verschiedenen Seiten her, nur unter großen Wandlungen nähern kann, dabei nicht sowohl durch eigenes Begehren und Grübeln als durch das schaffende Leben selbst getrieben. Daher konnten die schaffenden Geister ihr Lebenswerk nicht als ihr eigenes Erzeugnis, sondern nur als eine Gabe und Gnade einer höheren Macht verstehen.

Ferner befreit dieser Zusammenhang den Wahrheitsbegriff von unzulänglichen und irreleitenden Fassungen. Eine Überwindung der Spaltung des Lebens zwischen Kraft und Gegenstand, zwischen Subjekt und Objekt, wie sie beim Wahrheitsstreben in Frage steht, kann unmöglich erfolgen durch die Unterordnung der einen Seite unter die andere, sei es des Subjekts unter das Objekt nach der älteren, sei es des Objekts unter das Subjekt nach der neueren Art, sondern nur durch Miteinandererhöhen beider zu einem umfassenden Werk, und erweisen kann sich Wahrheit nicht durch die Herstellung einer Übereinstimmung der einen Seite mit der anderen, als wäre die eine der Seiten schon fertig, sondern nur so, daß durch die Verbindung zu gemeinsamem Schaffen und durch das Erfassen vom Gesamtwerke aus jede der Seiten belebt und bei sich selbst erhöht wird; das aber ist schlechterdings unmöglich ohne die Erhebung auf einen dem Dasein überlegenen Standort und die Versetzung in ein selbständiges Schaffen.

Enthält somit die Wendung zum Schaffen eine Umkehrung des Lebens, so liegt in der Anerkennung jener zugleich die Anerkennung dieser Umkehrung, so begründet sich zugleich die Überzeugung, daß ohne das Wirken eines überlegenen schaffenden Lebens beim Menschen alles Streben nach einem Lebensgehalt hinfällig und aussichtslos wird, daß es nur aus jenem einen festen Grund gewinnt. Mit solcher Anerkennung scheidet sich deutlich von der bloßen Arbeitskultur, die zwischen den Gegensätzen steht, eine Stufe echter Geisteskultur, die eine Überwindung ihrer vollzieht; mag bei solcher Scheidung der geistige Besitz der Menschheit gegen die gewöhnliche Fassung sehr zusammenschrumpfen und das Menschenleben im höchsten Maße unfertig erscheinen, die Anerkennung dieser Unfertigkeit ist der nur vermeintlichen Fertigkeit entschieden vorzuziehen; die Hauptsache ist, daß mit jener Wendung überhaupt ein Sinn und Wert in das menschliche Leben kommt. Im Gesamtanblick tritt es damit in drei Stufen auseinander: vom Alltagsgetriebe mit seiner Unbeständigkeit und seinem chaotischen Durcheinander scheidet sich zunächst die Stufe der Arbeitskultur und ergibt allererst einen festen, der Willkür überlegenen Bestand; unbedingt erforderlich ist aber ein Fortgang darüber hinaus zur Stufe der Geisteskultur, da erst hier das Leben ein Beisichselbstsein gewinnt und einen wahrhaftigen Inhalt hervorzubringen vermag, unter Überwindung der Spaltung, welche die Arbeitskultur beherrscht.

Aber auch an dieser Stelle genügt es nicht, eine im Menschenleben wirksame Lebensstufe nur anzuerkennen, es gilt sie sich anzueignen und sich mit ganzer Kraft in sie zu versetzen. Es bedarf energischer Tätigkeit sowohl um Irrungen abzuweisen als um einen Aufstieg anzubahnen. Zu kämpfen gilt es nicht nur gegen das Selbstbewußtsein des verworrenen Durchschnittslebens, zu kämpfen gilt es auch gegen die Selbstherrlichkeit der Arbeitskultur und ihren Anspruch, den letzten Abschluß zu bilden, wie es z. B. geschieht, wenn soziale Fürsorge sich als den Kern der Moral gibt, oder wenn Naturwissenschaft, ja Wissenschaft überhaupt allein von sich aus eine Weltanschauung erzeugen und die Lebensführung beherrschen will. Abzuwehren sind auch die Versuche, den Gegensatz von Kraft und Gegenstand, von Subjekt und Objekt durch Voranstellung einer der beiden Seiten zu überwinden, sei es durch eine Unterordnung des Subjekts unter das Objekt, sei es durch den Versuch, das Objekt vom Subjekt hervorzubringen. Denn das führt nicht nur das Leben in eine zu enge Bahn, es wird dabei auch das Objekt oder das Subjekt als eine geschlossene Größe und als ein ausgemachter Wert behandelt, während beide ihre Größe und ihren Wert erst innerhalb des schaffenden Lebens finden. Ohne eine Überwindung des Gegensatzes innerhalb dessen verbleibt das Menschenleben in schwankender Stellung zwischen beiden Seiten und wird immer wieder die eine gegen die andere ausgespielt; bald beruft sich das Subjekt auf das Erstgeburtsrecht des unmittelbaren Seelenstandes und verfällt dabei leicht einer Leere, bald wird allein von der Hingebung an das Objekt Halt und Festigkeit des Lebens erwartet, während das isolierte Objekt unvermeidlich ins Starre, Formelhafte, ja schließlich ebenfalls ins Leere führt. Man sieht nicht, warum man sich für das Objektive begeistern soll, bloß weil es draußen zu liegen scheint. Diese einseitigen Bewegungen gehen aber in großen Wogen durch die Menschengeschichte und halten das Leben in steter Aufregung, ohne zu einem Abschluß zu führen; die eine pflegt ihr Recht vornehmlich aus dem Unrecht der anderen zu schöpfen.

Solcher Abwehr von Verfehltem muß aber ein Streben nach einem positiven Aufstieg entsprechen, einen solchen Aufstieg ergibt aber weder eine kluge Reflexion noch auch ein kühner Entschluß, die Schranken des menschlichen Vermögens werden dabei bald augenscheinlich, alles Mühen des Menschen wäre vergeblich, erschlösse sich ihm nicht das schaffende Leben selbst mit immer neuer Erweisung. Aber das verurteilt uns nicht zu trägem Hoffen und Harren, bis ein Wunder bei uns geschieht; wir haben die Bewegung des Lebens vorzubereiten und ihr entgegenzukommen, entgegenzukommen zunächst, indem wir mehr Klarheit und mehr Kraft in unser Leben bringen. Mehr Klarheit durch eine gründliche Austreibung der Verworrenheit des Durchschnittslebens mit seinem Hangen am Schein und an schillernden Mittelgebilden, die den Gegensatz von Höherem und Niederem, ja von Gutem und Bösem verschleiern, seiner Verdunklung des Entweder-Oder, das durch das menschliche Leben geht; mehr Kraft aber durch ein mutiges Verfechten des als notwendig Erkannten, durch ein Abschütteln aller niederdrückenden Menschenfurcht, durch volle Wahrhaftigkeit gegen uns selbst wie gegen andere. Solche Klärung und Kräftigung aber wird uns fähig machen, das was an schaffendem Leben in der weltgeschichtlichen Bewegung aufstieg und von da aus zu uns spricht, offenen Sinnes aufzunehmen und in eigenes Leben zu verwandeln, uns in jene Bewegung zu versetzen, ihrem Zuge zu folgen, von ihr getragen auch einen neuen Aufstieg zu wagen, der dem weltgeschichtlichen Stande der Gegenwart entspricht. Alles Mühen wäre vergeblich, würden wir nicht eben in der Anspannung des eigenen Vermögens von der überlegenen Macht des Lebens getragen und gelenkt. Auf der Begründung darin beruht aller Mut und alle Hoffnung zur Wahrheit; denn es bleibt bei dem Goetheschen Wort: »Ihr erzeuget nicht das Leben, Leben nur kann Leben geben.«

So verändert Punkt für Punkt die Anerkennung und Aneignung eines selbstständigen schaffenden Lebens die menschliche Lage: Dunkles beginnt sich aufzuhellen. Zerstreutes schießt zusammen, das bisherige Stocken wird überwunden, unerträgliche Widersprüche beginnen sich zu lösen, auf den Weg zur Verwirklichung gelangt, was zur geistigen Erhaltung des Menschen unerläßlich ist. Wohl ist das alles erst im Werden, und das menschliche Leben stellt sich damit als höchst unfertig dar; aber zugleich wird es bewegter und reicher, und in der Unfertigkeit selbst erweist sich viel zu viel Tatsächlichkeit, erfolgt viel zu viel Umwandlung des ersten Befundes, als daß sich das Ganze als ein bloßes Erzeugnis menschlicher Meinung und Einbildung verstehen ließe. Wird es aber in seiner Selbständigkeit und mit der ihm innewohnenden Bewegung anerkannt, so stellt es das menschliche Leben in ein eigentümliches Licht und schreibt zugleich dem Streben bestimmte Richtungen vor. Namentlich vier Punkte werden dabei bemerklich und halten mit ihrem Ja zugleich ein Nein deutlich vor.

1) Das menschliche Leben erhält einen geistigen Charakter nur durch die Begründung in einem absoluten schaffenden Leben, es bildet keinen geschlossenen, auf sich selbst gestellten Kreis. So hat es den Zusammenhang mit jenem Leben zu wahren, um nicht sich selbst zu widersprechen und einer inneren Leere zu verfallen. Es wird zugleich dem vorhandenen Stande des Menschen ein richtendes Maß vorgehalten, und es erscheint jede Lebensgestaltung als verfehlt, die ihre Ziele und Kräfte aus dem bloßen Menschen glaubt schöpfen zu können. Damit fällt keineswegs alle menschliche Größe, aber der Mensch erscheint nunmehr als groß nicht sowohl durch das, was er selbst besitzt, als durch das, woran er teilzunehmen vermag, durch die Möglichkeiten, die in ihm stecken und sich bei ihm erwecken lassen.

2) Zu jenem Leben gelangen wir nicht durch eine Fortführung der vorhandenen verworrenen Lage, sondern nur durch einen Bruch mit ihr, nur durch eine Umkehrung, durch Erhebung auf einen überlegenen Standort. Das widerspricht allen Systemen, die unmittelbar von jener Lage aus einen Aufbau glauben vollziehen, einen Lebensgehalt entwickeln zu können; sie werden dabei unvermeidlich in immer weitere Verwicklung geraten und den jener Lage innewohnenden Widerspruch immer neu hervorbrechen sehen.

3) Auch bei der Erhebung zum schaffenden Leben bleibt aber das menschliche Leben zwiespältiger Art: es kann unmöglich ganz in jenes aufgehen, es kann die Erfahrungswelt nicht als gleichgültig und nebensächlich völlig hinter sich werfen. Nicht nur die Naturnotwendigkeit kettet es daran, auch zur Entfaltung des schaffenden Lebens selbst ist es uns unentbehrlich. Denn uns eröffnet das schaffende Leben sich unmittelbar nur im Umriß, und dieser Umriß vermag sich für uns näher durchzubilden nur in Auseinandersetzung mit dem Dasein, in Herausarbeitung, Freilegung und Aneignung dessen, was in diesem an Geistesgehalt steckt; es ist der Vermengung erst zu entwinden, um zur Fortbildung wirken zu können. Das wendet sich gegen alle Lebensgestaltungen, welche das Reich der Erfahrung glauben verachten zu dürfen, es fällt damit beim Erkennen alle Konstruktion, welche aus freischwebenden Begriffen Wahrheit hervorspinnen möchte.

4) Aber solches Angewiesensein unseres geistigen Schaffens auf die Erfahrung macht keineswegs die Lebensgestaltung zu einer bloßen Zusammensetzung, zu der die höhere Stufe die eine, die niedere die andere Seite lieferte. Denn das schaffende Leben mit seiner die Kraft und den Gegenstand umspannenden Volltätigkeit ist mehr als eine bloße Seite, es ist ein selbständiges, für uns nur noch unfertiges Geschehen. Der Erfahrungsbestand dient nur so weit der inneren Weiterbildung, als er auf den Boden des selbständigen Lebens versetzt wird und hier zunächst als Widerstand, dann aber als Reiz und Antrieb wirkt. Das verbietet im besonderen eine Zusammensetzung aus Form und Stoff, wie sie vom Platonismus aus durch die Geschichte geht und durch Kant eine Neubelebung erfahren hat. Denn Form und Stoff ergeben miteinander nun und nimmer schon ein lebendiges Ganzes; sonst müßte die Zusammenbringung von korrekter Form und angemessenem Stoff genügen, um ein vollendetes Kunstwerk zu schaffen, und eine sorgfältige Beachtung von Gesetzen des Handelns in der Lebenspraxis müßte lebensvolle Persönlichkeiten erzeugen. Wo die Leistung der höheren Stufe vornehmlich in die Form gesetzt wird, da wuchs tatsächlich die Form weit über eine bloße Seite einer Zusammensetzung hinaus, und das Leben ward unvergleichlich mehr als ein Anwenden der Form auf einen Stoff; da erhielt die Form bei sich selbst eine Seele, sei es daß ein Plato ihr diese von Haus aus zusprach, sei es daß ein Kant sie ihr mit Hilfe des Persönlichkeitsbegriffes in einer besonderen Richtung verlieh. Hier wie da aber blieb die Gefahr, das Leben in eine zu enge Bahn zu leiten und seinen springenden Punkt nicht genügend hervorzukehren. Die Form ist nicht der Träger, sondern die Erscheinung des Lebens, und seinen Hauptgegensatz bildet nicht der von Form und Stoff, sondern der von Kernbildung und Umgebung, von Lebenerweckendem und Lebenempfangendem. So erweist sich durchgängig, wie die Anerkennung des im Menschen wirksamen Lebens nicht nur unsere Leistung aufhellt, sondern auch über sie hinaus neue Bewegung hervorruft.

Diese Aufhellung und Weiterbildung teilt auch das Denken, in dessen Atmosphäre wir den geistigen Aufstieg sich vollziehen sahen. Daß seine Arbeit in der Weltgeschichte überhaupt so viel leisten, so eingreifende Bewegungen erzeugen, so sehr den Gesamtstand umbilden konnte, das erklärt sich nicht aus dem Vermögen des bloßen Denkens; das konnte nur geschehen, weil sich durch das Denken hindurch eine Bewegung des Lebens vollzog, weil das Denken Gefäß und Mittel eines selbständigen Schaffens war. Ja es hätte das Denken in seiner Isolierung nicht wohl der bloßmenschlichen Meinung gegenüber selbständig werden, auch nicht von bloßer Form zu einer Inhaltsbildung gelangen, von bloß reflektierendem zu produktivem Denken werden können; das Leben mußte ihm solches Vermögen erst verleihen. Auch vermag nur kraft eines solchen Zusammenhanges das Denken in der Erkenntnisarbeit den starren und lähmenden Gegensatz von Erscheinung und Sein zu überwinden. Denn da nun einmal das Denken bei sich selbst nicht die Kraft eine Welt zu schaffen besitzt, so steht es ohne Verbindung mit dem Leben fremd und wehrlos neben einer ihm unzugänglichen Welt ohne alle Hoffnung solche Fremdheit zu überwinden, die Welt sich innerlich nahe zu rücken oder auch nur irgendwelchen Anhaltspunkt dafür zu gewinnen, ob seine Aufstellungen der Wirklichkeit irgendwie entsprechen. Völlig anders stellt sich die Sache, wenn es eine Begründung im Leben gewinnt, und zwar einem Leben, das eine Welt aus sich entwickelt und sich als Kern aller Wirklichkeit gibt. Denn dann gewinnt es durch das Leben einen Zusammenhang mit den Dingen, es steht nicht neben ihnen, sondern inmitten ihrer und ihrer Bewegung. Zur Hauptfrage wird dann, wie weit der Mensch am schaffenden Leben teilgewinne, und was er aus ihm empfange; danach bemißt sich, was an Licht für uns auf die Welt in uns und um uns fällt. Damit aber werden wir auf die Gesamtarbeit der Menschheit verwiesen, wie sie in der Bewegung der Geschichte vorliegt, auf ihre Kämpfe und ihre Erfahrungen; die Geschichte erhält damit auch für das Erkenntnisproblem eine große Bedeutung, und da sie noch mitten im Werden ist, so verbietet es sich, in einem gegebenen Augenblick die Erkenntnisarbeit endgültig abzuschließen, da das ein Ausschließen neuer Wendungen des Lebens und neuer Wege des Denkens wäre. Wenn aber dennoch die Arbeit im Fluß verbleibt, so wird sie damit keineswegs dem bloßen Fluß ausgeliefert; denn so gewiß sich für uns das schaffende Leben in der Zeit eröffnet, seinem Gehalt nach steht es über der Zeit und befreit von der Macht der bloßen Zeit; ein Ewigkeitsbestand hebt sich hier von aller Vergänglichkeit ab zu bleibendem Besitz und Gewinn; ja selbst was an Gegensätzen und Kämpfen erscheint, ist kein vages Suchen und Tasten des bloßen Menschen, es steht innerhalb der Lebensbewegung, damit aber im Elemente der Wahrheit.

Liegt so viel an dem Zusammenhange des Denkens mit dem Leben, so wird es für das Denken selbst zu einer zwingenden Forderung, vor allem den Grundbestand des Lebens herauszuarbeiten und von ihm aus die eigne Aufgabe wie das eigne Wirken näher zu bestimmen, vom bloßen Umriß zu voller Durchbildung fortzuschreiten. So vollzieht sich bei ihm selbst eine Abstufung zwischen einem bloßformalen, regulierenden und einem inhaltbildenden, produktiven Denken, eine Abstufung zwischen dem, was in der allgemeinen Natur des Denkens an Forderung liegt, und dem, was durch die Verbindung mit dem Leben an Erfüllung dieser Forderung erreicht wird. Der Kampf um die Wahrheit verlegt sich damit letzthin vom Denken ins Leben, aber das Denken ist der Schauplatz, auf dem er geführt werden muß.


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