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XXI.

Der Regen ließ allmählich nach. Eine köstliche, frische, etwas herbe Luft wehte um die Stirn Procznas, welcher einsam durch die menschenleeren Anlagen schritt. – Sein Blick schweifte empor zu den flüchtig ziehenden Wolken, welche sich mehr und mehr zerteilten. Von den Zweigen tropfte es hernieder, die feuchten Kiesel auf dem Wege leuchteten wie Silber und zur Seite flüsterten ein paar welke Blätter im Winde, geheimnisvoll wie die »Saga am Brunnen von Sökwabek.«

Janek schreitet langsam dahin. – Es ist ruhig in ihm geworden, die Wogen der Erregung haben sich geglättet, die heiße Stirn hat sich abgekühlt, es ist ihm zu Mut wie dem Seemann, welcher sich überzeugt, daß er den richtigen Kurs genommen – durch Sturm und Klippen hindurch führt er doch zum heimatlichen Hafen.

Im Parterre der Villa Florian sind alle Fensterläden geschlossen, aus den Salons der Gräfin Dynar leuchtet roter Lichtschein durch die kahlen Baumwipfel.

Leise, gedämpft zittert der Glockenton durch die Flurhalle.

»Der Herr Baron sind im Klub und die beiden Damen trinken den Thee bei der gnädigsten Gräfin!«

»Meine Schwester erwartet noch weitere Gäste?«

»Durchaus nicht, Ew. Gnaden!«

Proczna wandte sich mit leichter Handbewegung zur Treppe und stieg die weißen Marmorstufen empor.

Ein Diener stand bereits wartend droben im Korridor.

»Die Damen sind noch in Anspruch genommen, darf ich bitten, hier in diesen Salon einzutreten!«

Janek ließ sich den regenfeuchten Mantel von den Schultern nehmen, strich mit der Bürste das leichtgewellte Haar aus der Stirn und trat ein.

»Ah, scharmant! – Umarme Sie, Verehrtester!« sporenklirrend erhob sich Heller-Hüningen aus einer Sofaecke und eilte dem Eintretenden entgegen. »Sei mir gegrüßt, Gesegneter des Herrn!« sang er in durchaus eigener Komposition und reichte Proczna die Hand mit herzhaftem Druck.

Aus einem Sessel tauchte, von roten Bandschleifen umflattert, eine allerliebste Toilette, in welcher Fräulein Bicky steckte, die sich in stürmischer Begrüßung an Procznas Arm hing.

»Wie reizend, daß du kommst, Janek, wir spielen zusammen Domino und ich gewinne in einem fort!«

»Na ja, weil Sie eben schon von Kindesbeinen an auf diese heimtückische Sache eingedrillt sind!«

Donat drängte das Cousinchen sehr geschickt von Proczna weg und nahm selber dessen Arm.

»Ein gräßliches Spiel, lieber Proczna, in sinnverwirrender Weise muß man schwarze Punkte zählen und davon eine griechische Karte auf den Tisch bauen – darin erreicht der Witz den Siedepunkt …«

Bickys Antlitz glühte, als habe sie die Hölle angeblasen.

»Weil er's nicht versteht, Janek, und immer andere Geschichten dazwischenkohlt! Ich schlug ihm ja zuerst ›Hammer und Glocke‹ vor, aber da behauptete er, bei derartigem Spiel rühre ihn der Schlag vor Aufregung, worauf ich so gutmütig war und ihm das Domino brachte.«

»Schändlichster Egoismus! Ich muß unter der Devise: ›Lieber tot als unritterlich‹ ein fremdes Spiel riskieren, bei welchem ich ohne jede Garantie in himmelschreiender Weise beschuppt werde! Am ganzen Abend noch kein einziges Mal gewonnen, soll das etwa mit rechten Dingen zugehen? Hier, den halben Inhalt der Bonbonniere, welche ich extra zu dem Zweck des Einsatzes mitgebracht habe, hat meine Gegnerin bereits an sich gebracht!«

Donat kniff seinen Freund heimlich in den Arm, machte ein entrüstetes Gesicht und deutete nach dem Tisch, woselbst Bicky sich mit beiden Armen schützend über eine Schale voll Konfekt warf, welche sie laut ihrer Versicherung auf redlichste Weise verdient habe! Donat könne ja soviel er wolle aus der Boîte essen, aber nein, in purer Ungezogenheit bestehe er darauf, von ihrem Gewinnst zu stehlen, und alles Anbeißen der einzelnen Stücke helfe nichts, solche nehme er erst recht!

Janek lachte laut auf.

»In welch einen Abgrund der Verderbnis muß ich 'mal wieder blicken! Auch gezeichnete Schafe stiehlt der Wolf, liebe Bicky! Aber nur Mut, ich werde mich energisch auf deine Seite schlagen, denn dieser Knabe Karl fängt an, mir fürchterlich bedenklich zu werden!«

»Nein, Janek, Frieden sollst du stiften! Der Donat muß einsehen, daß ich vollkommen recht habe und ihn wahrhaftig nicht betrüge …«

»Gut, ich werde Schiedsrichter sein. – Heller-Hüningen muß schließlich mit vollster Überzeugung zugeben, daß sein Pech im Spiel einzig auf der anerkannten Thatsache beruht, daß Leute, die Glück in der Liebe haben, noch niemals das große Los gewannen.«

»Glück in der Liebe! – Ach ja, daran wird es wohl liegen …«

Bickys Augen leuchteten auf, voll reizender Naivetät schob sie ihr Konfekt hastig über den Tisch vor den Platz ihres Gegners.

»Hier, Donat, ich schenke Ihnen alles – alles! – und will gar nicht mehr aufpassen – aber dann – « sie sah fast flehend zu ihm empor – »dann lassen Sie mir dafür das Glück in der Liebe!«

»Teilt euch drein, Kinder, für eins allein ist das Glück ein scheuer Vogel, zu zweien hält man's fest!«

»Teilen? – « das Backfischehen schüttelte den Krauskopf, »kein Mensch kriegt von meinem Glück etwas ab, ich verstecke es tief, tief im Herzen – schreibe höchstens in mein Tagebuch: ›An – ‹ und dann drei Kreuze – «

»Drei Kreuze sind gut!!«

»Und darunter mein Lieblingsgedicht – – «

»Blitz und Knall, Cousinchen, schießen Sie 'mal los, ich habe Gedichte rasend gern!«

Donat strich den blonden; Schnurrbart noch kühner empor und kniete erwartungsvoll auf einen Sessel.

»Nein – ich sage es nicht.«

»Auch mir nicht, Bicky?«

Sie drehte sich hastig um, sah einen Moment heiß erglühend in Procznas lächelndes Antlitz und schmiegte sich dann in fast ungestümem Jubel an seinen Arm.

»Ja, du sollst es wissen, Janek, du wirst mich nicht auslachen, du hast mich ja selber so glücklich gemacht!«

»Jetzt hören aber die Witze auf!«

Donat schob sich sehr energisch zwischen die beiden und hatte zum erstenmal im Leben eine Falte auf der Stirn.

»Weitergespielt wird! – Punkte gezählt … keine lyrischen Gespräche mehr geführt, ich kann Gedichte in den Tod nicht leiden, und Proczna thut auch nur so, als ob er 'was davon verstünde! – Avanti – bringen Sie erst 'mal die Partie hier zu Ende – Sie waren dran!«

Er bemächtigte sich ihres Armes und führte die junge Dame in etwas diktatorischer Weise an den Tisch zurück. An der einen Seite neben ihrem Sessel erhob sich die schützende Wand, an die andere baute sich der junge Offizier selber als Schanze vor. – Proczna war kalt gestellt.

»Also wir spielen jetzt!«

Donat legte mit großer Behaglichkeit einen sehr süßen Gewinn aus und drehte den Kopf nach Janek.

»Sie können sich ja inzwischen die Illustrationen von der ›Glocke‹ ansehen, rechts auf dem kleinen Tisch der rote Prachtband – in der Nebenstube ist es auch ganz interessant Xenias Arbeitszimmer! … Vertreiben Sie sich noch ein Weilchen die Zeit, Proczna, die beiden anderen Damen werden gleich wieder erscheinen, sie bekommen irgend so ein neues Wams angepaßt! …«

»Danke verbindlichst für Ihre Fürsorge!« Janek neigte sich lachend zu dem jungen Fürsten nieder, »ich laufe Ihnen ja doch noch den Rang ab, Herr Kamerad, – aber darum keine Feindschaft, Sie wissen, daß es in jedem Lustspiel Rivalen gibt!«

Donat lachte gutmütig auf.

»Der Teufel soll Sie holen, Proczna, wenn Sie einem solch ungleichen Gegner wie mir nicht einen riesigen Vorsprung lassen!«

Am Tische herrschte die größte Eintracht, man gewann jetzt abwechselnd; mit einiger Willkür wurden die schwarzen und heiteren Lose gemischt.

Der Erbherr von Proczna lächelte still vor sich hin. Die Unterhaltung dieser beiden großen Kinder zu verfolgen, hatte Reiz für ihn und er amüsierte sich köstlich. Nebenbei besah er die »Glocke«. –

»Warum sind Sie denn heute erst um ein halb acht Uhr gekommen, Donat?«

»Infame Schreiberei hielt mich auf … war noch persönlich auf dem Telegraphenamt, um einem Freunde zu gratulieren!«

»Und in der Post haben Sie Schreibereien gehabt?«

»Natürlich. – Depesche aufsetzen. Aber ich sage Ihnen, Bicky, großartig! – Sie ahnen gar nicht, was für ein talentierter Kerl ich bin! So im Handumdrehen war die Sache auf das Papier geworfen: ›Meinem alten, fidelen Rennonkel Lämmchen die herzlichsten Glückwünsche zum heutigen Tag!‹ – Famos gesagt, was? Und nicht einmal Konzept dazu gemacht!«

»Und an einen Onkel war's?« – Bicky faltete die Hände und bewunderte das Genie, welches die Depeschen nur so aus dem Ärmel schüttelt.

»I wo! – Rennonkel ist nur so ein familiärer Titel für Sportsmann, und Lämmchen ist ein Spitzname. Der Kerl war nämlich eine der vernagelsten Hirnschalen, welche jemals auf der Presse waren – so sehr ›Lämmchen‹, daß ein paar Schandmäuler behaupteten, er trüge ein Pistol bei sich, mit welchem er sich sofort erschießen würde, wenn ihm einer begegnete, der noch dümmer wäre, wie er – aber er lebt immer noch. – Sonst ein brillanter Mensch – konnte Häuser auf ihn bauen!«

»Woher kannten Sie ihn denn?«

»Von der Presse, bin zweimal mit ihm zusammen durchgerasselt … Sie müssen setzen, Bicky! … nein? Pontius und Pilatus … wo nichts ist, hat der Kaiser das Recht verloren … springen Sie 'mal mit einer Fünfe an! …«

O, daß sie ewig grünen bliebe die schöne Zeit der jungen Liebe! … Janek neigte sich tief über die reizende Zeichnung der beiden jugendlichen Gestalten, neben welchen die Rosen blühen und ein zärtliches Taubenpaar im Wipfel gurrt; aber jene zwei in Fleisch und Blut am Tische drüben gefallen ihm noch bei weitem besser!

Donat ist glücklicher Besitzer eines grandiosen Gewinnes geworden, welchen er selbstlos und ritterlich dem allerliebsten Bäschen zu Füßen legen will. Ein Kampf der Großmut entbrennt, dann wird geteilt.

Der junge Offizier beißt eine Liqueurbohne an und betrachtet sie als Becher.

»Prost, Cousinchen«, sagt er galant und kippt den süßen Inhalt.

Bicky überzählt gerade ihren Reichtum, sie blickt mit runden, sehr erstaunten Augen auf. –

»Ich habe ja gar nicht geniest!«

Proczna kann sich wunderbar beherrschen, er blättert geräuschvoll weiter.

»Wissen Sie noch, Bicky, wie Sie mich 'mal als Avantageur zuerst gegrüßt haben?«

Das Backfischchen wird verlegen. »Nein!« lügt sie mit dem harmlosesten Gesicht von der Welt.

»Na, hören Sie 'mal, Cousinchen, das war ja die fidelste Geschichte, die Sie je geliefert haben! Donnerwetter ja, ich sehe mich noch immer dastehen, zum erstenmal im Leben als Posten vor dem Hause des Herrn Kommandeurs, ein unglaublich schlacksiger, verlegener Bengel mit drei Schnurrbarthaaren, der das Postenstehen für eine geradezu feierliche Angelegenheit hielt, und plötzlich kamen Sie mit Ihrer Bonne des Weges und erinnerten sich, mich bereits als Vetter kennen gelernt zu haben – hahaha! … Es war gar zu niedlich, wie Sie kleines Ding sich vor mich hinstellten und ein Knickschen nach dem andern machten – «

Und Sie standen wie ein Ladestock und sahen mich wütend an, mit blutrotem Kopf, und ich meinte es doch so gut!«

»Na selbstverständlich, aber – ich dämlicher Bengel genierte mich so rasend, weil Reussek gerade zum Fenster herausguckte und laut loslachte über das drollige Bild. Ich hatte Sie ja damals schon riesig gern, Bicky, so klein wie Sie auch noch waren, und hätte am liebsten mein Gewehr in die Scheide gesteckt und Sie dafür in den Arm genommen …«

Bicky senkte das Köpfchen wie eine tauschwere Rose, es stand ihr gar zu gut, wenn die heißen Blutwellen bis in die Schläfen emporstiegen, Donat aber knipste voll wohligsten Behagens die Dominosteine gegeneinander und fuhr sehr animiert fort:

»Ja, wir waren stets gute Kameraden, Bickychen,wir haben uns immer sehr gut vertragen – «

»Bis auf den Zopf!« dachte Proczna hinter den Coulissen.

»Und so einen alten, treuen Freund wie mich haben Sie auf der ganzen Welt nicht! …«

»O bitte recht sehr! Janek ist stets am allerfreundlichsten zu mir gewesen, den habe ich auch viel früher gekannt wie Sie – « und Bicky wollte sich lebhaft erheben – »nicht wahr, Janek, wir beide haben uns seit jeher furchtbar lieb gehabt?«

Heller-Hüningen schwenkte seinen Sessel mit kühnem Ruck so dicht vor die junge Dame und streckte die Füße so weit in das Zimmer, daß Bicky vollständig abgesperrt war.

»Hören Sie 'mal, Proczna, es ist gräßlich, wenn einer immer dabeisitzt, wenn man auf ihn räsonnieren will! Sie binden mir ja vollständig die Hände, gegen Sie zu intrigieren!«

»Genieren Sie sich ja nicht, Verehrtester, in dieser Beziehung geht es mir wie dem Jungen, der Prügel bekam und nur eine einzige Erwiderung darauf hatte: ›Was hinter mir passiert, geht mich nichts an!‹«

»Brillant! – Sie sind ein unglaublich netter Mensch, Proczna! – Kommen Sie doch ran, wir spielen alle drei zusammen: Meine Tante, deine Tante!«

»Sofort; – erst dieses Buch zu Ende bewundern, ich kann mich nicht losreißen!«

» Bon; – die ganze Bonbonniere als Einsatz, Bicky; – va banque

Von neuem ein wahrer Feuereifer am Tisch, Janek aber erhob sich und schritt lautlos über den weichen Teppich in das Nebenzimmer.

Gedämpftes Licht floß wie Mondschein aus den kleingeschraubten Flammen der Kuppel hernieder. – Wie ein leichter Dämmerschleier lag es rings über dem Gemach, gleichsam als ob ein schönes Weib sinnend die langen Wimpern niederschlägt, Einkehr in sich selbst zu halten. – Und die Krystallpenten, welche hie und da mit mildem Glanze hervorschimmern, sind Thränen, welche heimlich an diesen Wimpern erzittern.

Wie Blumenseelen schwebt es zart duftig durch den stillen Raum – etliche Gardenenblüten neigen die blassen Kelche in einer Vase, welche auf Xenias Schreibtisch steht. – Janek erinnert sich, von Bicky gehört zu haben, daß Gräfin Dynar keine Blumen in ihrer Umgebung liebt, sie lächelt über solche Sentimentalitäten – oder hat es gethan.

Zwischen Blumen und Weiberherzen sind feine Zauberfäden gesponnen, eine Brücke, über welche der Frühling schreitet. – Seele und Blüte sind Schwestern, wenn die Sonne kommt, öffnen beide die Augen, und flüstern es sich heimlich, voll süßer Scheu ins Ohr, wie lieb sie den Lenz, den kühnen, lockigen Freier, haben! –

Wer verstünde eines Mädchenherzens Gedanken auch besser, denn die Blüte am Strauch, welche innige Antwort duftet? – : »Ich bin glücklich! Namenlose Seligkeit droht mir die Brust zu zersprengen, wie Feuerflammen glüht die Liebe durch mein ganzes Sein und Wesen, freue dich mit mir! Schmücke mich für den Herrlichsten von allen!« – und die Rose leuchtet in heißerer Glut und jubelt aus jedem Dufthauch der Glücklichen einen Psalter berauschender Lust – : »Ich bin geliebt von ihm; wie Glockenläuten hallt es durch meine Seele, laß mich die Hände falten, danke und bete mit mir!« – Und die priesterliche Lilie neigt sich im Wind und blickt wie ein verklärtes Heiligenangesicht an der Seite der frommen Maid zum Himmel! »Allein, verlassen, unerkannt und ungeliebt von ihm, zu stolz, es der Welt zu zeigen, flüchte ich mich zu euch, ihr bleichen, traurigen Blumen, und bitt' euch, weint mit mir!« – Dann zittert es in hellen Tropfen auf den Wangen und den Blumen.

Ja, Thränenperlen, köstlichster Tau, schmerzlich-süße Lust für Weiberherzen und Blüten, ohne euch welken sie dahin, sterbend in Sonnenglut, oder verschmachtend in Ode und Einsamkeit –

Proczna war an den Schreibtisch herangetreten, hatte die Vase emporgehoben und das Antlitz auf die kühlen Blättlein geneigt, wie ein Durstender trank er den betäubenden Duft. – Träume wehten daraus empor, liebe, beseligende Träume.

Nebenan erscholl, der »gesprengten Bank« zu Ehren, ein zweistimmiger Tusch – Janek setzte die Vase schnell nieder und wollte sich wieder der Thür des Nebenzimmers zuwenden, sein Blick streifte hastig den Schreibtisch, schärfte sich und blieb dort haften.

Was war das?! … Gelbe Pergamente, die Lebensgeschichte der Ahnfrau Xenia, welche die späte Enkeltochter damals in Proczna so verächtlich von sich gestoßen hatte, als empfinde sie einen Abscheu vor dieser pflichtvergessenen Gräfin, welcher die Liebe zu einem Polen höher galt als Name, Reichtum und Heimat? – Wie kommt diese verpönte Schrift auf den Arbeitstisch seiner stolzen, kaltherzigen Schwester?

»Sie ist nicht stolz, sie ist nicht kalt!« duften die Gardenen.

Janek tritt näher und blickt auf die vergilbten Blätter hernieder. – Sie liegen aufgeschlagen, als sei die Leserin soeben erst von der Lektüre abgerufen, ein silberner Bleistift liegt dazwischen. Hier ist eine Stelle angestrichen, mit unsicherer, zitternder Linie.

Es flimmert vor den Augen des jungen Mannes, er starrt auf die Worte hernieder.

»War selbe Liebe über sie kommen, wie ein tückisch Fieber, von dessen Leiden kein Chirurgie heilen kann. War verwandelt über Nacht, fand sich keine Qualität ihres Charakters mehr von eh! – Ist ein heillos und verderblich Ding, so man Leidenschaft heißt« – und weiter unten: »War von polnischem Blut, unerforschet ob ein Edelmann, aber ein manierlicher Gesell mit langem Schnauzbart und flammigem Auge, voll Gelächter und Legeriteh, wie erschaffen für die Weiber.« Wenige Zeilen danach: »Hat kein fürnehmer Glück gekannt denn ihn, hat alles darhinten gelassen und sich an ihn gehangen, sind heimlich davon.«

Regungslos stand Proczna und blickte auf den vergilbten, am Rande arg zersetzten Pergamentstreifen hernieder.

Dann ging es wie ein Sturm durch all seine Sinne. Er riß das Heft empor und preßte die Lippen auf die Bleistiftstriche, atmete tief auf und trat hastig, als brenne der Boden unter seinen Füßen, in das Nebenzimmer zurück.

Wenige Augenblicke später traten Frau von Drach und Xenia ein, Janek hatte das Gefühl, als erzittere die heiße, schlanke Hand, welche sich in die seine legte.

»Welch eine scharmante Überraschung! Siehst du, Xenia, wie recht wir beide thaten, heute abend nicht in das Theater zu fahren! Und Sie sind schon länger da, lieber Donat? Mon Dieu, wie langweilig für Sie, so lange antichambrieren zu müssen!«

»O nein, Mama, es war gar nicht langweilig, ich war ja von Anfang an bei ihm!«

Die Kammerherrin that mit ihrem feinen Spitzentuch scherzend einen Schlag gegen die kleine Stumpfnase ihres Töchterchens, dennoch klang es wie Staunen und Strenge durch ihre Stimme.

»Wie kam das? Es soll dir doch keinerlei Besuch gemeldet werden, bis ich zugegen sein kann?!«

Bicky lachte übermütig auf.

»Hat auch kein Mensch gethan, Mutterchen!«

»Und doch bist du heraufgekommen?«

Fräulein von Drach preßte die Bonbonniere gegen die schnell atmende Brust und zeigte schelmisch die kleinen Perlzähne.

»Natürlich! Ich hatte ja am Fenster aufgepaßt, bis Donat kam! Guck' hier! Alles gewonnen, wir haben Domino gespielt!«

»Ach, es ist keine leichte Sache, Mutter zu sein!«

»Ich habe eine Bitte an Sie, Janek!«

»Befehlen Sie über mich, Xenia, Sie wissen, daß ich stets zu ihren Diensten stehe.«

»Kommen Sie!« –

Gräfin Dynar schritt ihm voran in ein Nebengemach, an dessen getäfelten Wänden lebensgroße Ölbilder Dynarscher Ahnen hingen, welche Xenia zum Teil in Proczna hatte kopieren lassen.

Auf einer Schale von dunklem Porphyr lag eine ziemlich umfangreiche Papierrolle, die Komtesse nahm sie in die Hand und schaute auf sie nieder. Sie bemühte sich, sehr ruhig zu erscheinen.

»Prinz August Ferdinand interessiert sich für unsere Familie, und wünscht sich mit eigenen Augen zu informieren, inwiefern eine Verwandtschaft der Dynars mit dem regierenden Grafenhause zu S. nachzuweisen ist. Ich habe demzufolge unseren Stammbaum in Proczna vervielfältigen lassen, um ihn Seiner Königlichen Hoheit zu unterbreiten.« –

Xenia schwieg und blickte zu Janek empor, es lag ein eigenartig milder, bittender Ausdruck in den dunklen Augen.

»Soll ich die Angelegenheit besorgen?«

Sie schüttelte langsam das Haupt, ihre weißen Hände entrollten den Bogen und breiteten ihn auf dem Tisch aus.

»Sehen Sie hier«, entgegnete sie leise, mit dem rosigen Fingernagel auf das letzte, leere Wappenschild weisend, neben welchem, auf der anderen Seite ihr eigener Namen geschrieben stand, »soll ich das Verzeichnis wahrlich so … unvollkommen vor fremde Augen niederlegen?«

Procznas Lippen zitterten, dennoch schien sein Antlitz eine Verkörperung lächelndsten Gleichmuts.

»Der letzte Wille Ihres Vaters ermächtigt Sie, den Namen des selbst erwählten Bruders neben den Ihren zu stellen; wenn Sie in dem leeren Schild eine Unvollkommenheit sehen, liegt es einzig an einem Federzug Ihrer Hand, derselben abzuhelfen.«

Xenia lächelte fast bitter.

»Der Name eines solchen Schildes ist nie wieder zu löschen!«

»Glauben Sie, daß es ein Opfer für den Sohn eines Kosyniers ist, unwiderruflich ein Graf zu werden?!«

Sie warf fast trotzig das Haupt zurück.

»Janek Proczna läßt es beinahe glauben!«

»Habe ich mich gewehrt, als Graf Dynar der hiesigen Gesellschaft präsentiert zu werden?«

Ihr Haupt sank wieder tief hernieder.

»Nein, Sie haben es geduldet

»Gleichviel, ich bin von jenem Augenblick an auch vor der Welt Ihr Bruder, Xenia.«

Wie in jäher Leidenschaft preßte sie die Hände gegen die Brust.

»Ja, vor der Welt mein Bruder, nur vor der Welt! Wie einen bunten Mantel haben Sie den neuen Namen und Titel um die Schultern geworfen, haben mir einen Zipfel davon dargeboten und gesagt: dies ist das Band, welches uns als Geschwister verknüpft! Hüben und drüben pulsiert fremdes Blut in den Adern, und verschieden wie Tag und Nacht sind die Gedanken der beiden Häupter, welche eine Krone zu einander zwingt! Ein Bruder sind Sie, der mir die Fingerspitzen über einen Abgrund reicht!«

»Nicht ich war es, der die Kluft zwischen uns aufgerissen, ich ging, da Sie mich gehen hießen, und kam zurück, da Sie mich riefen; sagen Sie mir, welch eine Bruderpflicht ich versäumte, seitdem Sie mir die Rechte eines Familienmitgliedes eingeräumt haben, mein Gewissen ist frei und leicht!«

Er stand hoch aufgerichtet vor ihr, seine Stimme klang klar und ruhig.

In namenloser Erregung schlang Xenia die Hände ineinander.

»Welche Bruderpflicht Sie versäumt haben?!«

Ihr Atem flog, sie trat einen Schritt näher und sah mit sprühendem Auge zu ihm auf.

»Die größte und heiligste, welche Ihnen jemals auferlegt war, die Treue! Sie durften nicht von mir gehen und mich verlassen, denn ich hatte keinen besseren Schutz auf der Welt wie Sie! Sie durften mit Eigensinn und Verblendung nicht rechten, durften nicht in ungestümem Trotz die Bande vollständig entzweireißen, welche Mädchenhände in thörichter Weise gelockert hatten, Sie waren der Ältere und Überlegenere von uns, Janek. Und wenn ich wahrlich Sie von mir gestoßen, ein anderer hatte Sie voll Vertrauen und Zuversicht an meine Seite gestellt, und um dieses anderen, unsres Vaters willen hätten Sie treu bleiben müssen, Janek, denn Ihre Liebe zu mir war der Dank, den er von Ihnen forderte. Hat er in seinem Brief an Sie gar nichts davon geschrieben?«

Die letzte Frage war leiser gesprochen, heiße Glut bedeckte das reizende Antlitz, angstvoll forschend und dennoch voll rätselhafter Scheu tauchte ihr Blick in den seinen. Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann schüttelte Janek ernst das Haupt.

»Nein, der Brief behandelte einzig die Vergangenheit, nicht die Zukunft. Aber wie dem auch sei, ich empfinde den Vorwurf, welchen Sie mir machen, und bin dennoch in diesem Augenblick nicht imstande, Ihnen zu beweisen, daß Sie mir unrecht mit demselben thun.«

Er faßte in jäher Herzlichkeit ihre beiden Hände und hielt sie fest umschlossen.

»Was verlangen Sie von mir, Xenia?! Nur meinen Namen für ein leeres Wappenschild? Dazu hätte es nicht so vieler Worte bedurft! Ein Ausgleich zwischen uns beiden? Wo sehen Sie noch einen Abgrund? Ich stehe neben Ihnen und reiche Ihnen nicht die Fingerspitzen, sondern mit redlichem und ehrlichem Druck beide Hände und ich sehe Ihnen ins Auge, wie damals meinem lieben kleinen Schwesterchen und frage: Was haben Sie auf dem Herzen, Xenia? Zeigen Sie mir das Vertrauen, wie vor langen Jahren, da noch keine Wolke zwischen unseren Seelen gelagert, sagen Sie mir, womit ich Treue beweisen soll!«

Ein Lächeln strahlte verklärend über ihr Antlitz, sie löste ihre Hand aus der seinen, tauchte hastig die Feder in die Tinte und schickte sich zum Schreiben an:

»So darf ich?!« Er nickte lächelnd; ihre Hand bebte, dennoch schrieb sie klar und fest »Janek Stefan« in das Wappenschild an ihre Seite.

»Warum Janek und nicht Hans?!«

»Das klingt so fremd, und … polnische Namen sind ja genau so schön wie deutsche.«

Sie warf die Feder hin, richtete sich hoch auf und legte die schlanken Hände auf seine Schultern.

»Nun sind Sie mir verschrieben mit Leib und Seele, Janek«, scherzte sie mit wunderlichem Gemisch von Jubel und Ernst. »Nun erst, da ich es schwarz auf weiß gesehen, glaube ich daran, und nun will ich offen und ehrlich sein wie zu einem Bruder, und denken, die lange, häßliche Zeit der Trennung sei nur ein Traum gewesen! Wir sind wieder daheim in Proczna wie damals, als unser Vater noch ernst und still am Schreibtisch saß und wir beide vor dem Kamin kauerten, heimlich und traut, und liebe Christmärchen ersannen … hörst du, wie der Wind um die Fenster saust, wie das Feuer hell aufprasselt und rote Funken nach uns wirft? Ganz, ganz wie dazumal, und ich bin wieder ein Kind geworden und lehne den Kopf an deine Schulter, wie ich immer that, wenn ich etwas erbitten wollte, und sage: Janek, willst du mir etwas zulieb thun?!«

Janeks Herz und Verstand rangen einen kurzen, schweren, unmerklichen Kampf, um dem Zauber ihres Anblicks zu entweichen, wandte er langsam das Haupt und küßte die kleine Hand, welche auf seiner Schulter ruhte.

»Ganz wie damals!« lächelte er. »Sprechen Sie nur, Schwesterchen, alles, was in meinen Kräften steht, thue und wage ich für Sie!«

»Janek, machen Sie sich nicht zum Werkzeug einer Excellenz Gärtner, der Platz zu den Füßen dieses Weibes ist unwürdig für Sie!«

Ihr flehender Blick suchte den seinen; es lag ein Klang von Angst und Leidenschaft in ihrer Stimme.

»Excellenz Gärtner? – Was um alles in der Welt haben Sie gegen meine gute Freundin?«

Xenia grub die weißen Zähnchen in die Lippe.

»Ich hasse sie! – Ich kenne kein Wesen unter Gottes Sonne, welches mir so verächtlich ist wie dieses Geschöpf!«

Proczna lachte fast amüsiert.

»Sie sehen zu schwarz, Xenia! Oder haben Sie irgend einer Verleumdung Gehör geschenkt? Sie halten sich ostensibel fern von der jungen Frau und haben darum keine Gelegenheit, zu beurteilen, wie reizend sie ist!«

»Und wenn ich Ihnen sage, Janek, daß mir das größte Leid im Leben durch Excellenz Gärtner widerfahren ist?«

»Gesetzt der Fall, ich sei thatsächlich in diese schöne Frau verliebt?«

Xenia erbleichte, mit unnatürlich großen Augen starrte sie ihn an.

»Der Präsident ist ein alter, sehr kränklicher Mann«, fuhr Proczna leichthin fort, »zwar ist es nicht schön und recht, auf jemandes Tod zu lauern, aber die Liebe klammert sich an einen Strohhalm!«

»Nur das nicht, Janek, nur das nicht!« – wie ein Aufschrei klang es.

Er schüttelte fast wehmütig das Haupt.

»Gott schenke der armen, alten Excellenz ein langes Leben, ich bin der letzte, welcher seine Tage zählt. Sagen Sie sich aber selber, Xenia, wie würde es Ihnen zu Mute sein, wenn mir einst der Mann Ihrer Wahl verhaßt wäre und ich würde sagen: Um deines Bruders Freundschaft willen, entsage deiner Liebe?«

Ihre Hand umschloß krampfhaft die Stuhllehne.

»Sie haben recht, Janek, ich weiß selber nicht, wie ich auf den wunderlichen thörichten Gedanken kam«, ein herzzerreißendes Lächeln zuckte um ihre Lippen, »wir gehen ja jeder den eigenen Weg, und der ist breit, so grausam breit, daß Lust und Leid sich nicht berühren! Sie werden meine Gedanken noch oft zurückholen müssen, wenn sie sich bei zu hohem Flug verirren, man muß sich an alles erst gewöhnen, selbst an den Gedanken, einen – – Bruder zu besitzen!« – –


Die Kammerfrau Gustine hatte längst das weißgestickte Nachtkleid um die Schultern ihrer schweigsamen, bleichen Herrin gelegt, umsonst geforscht und gehorcht nach der Ursache der eigentümlichen Veränderung, welche ihr schon seit Tagen im Wesen Xenias aufgefallen, und schließlich beleidigt die Thür hinter sich geschlossen. Als sie aber nach geraumer Zeit abermals auf unhörbaren Sohlen an das Schlüsselloch schlich, da brannten die Lichter noch auf dem Toilettentisch, und Gräfin Dynar hatte das Antlitz auf die gefalteten Hände gedrückt und weinte bitterlich. –

Als sich endlich die heißen Augenlider schlossen, da spannen sich die Gedanken hinüber in den Traum, rote Flammen schlugen aus dem Kamin, die faßten ein weißes Briefblatt … »gebt's zurück, ihr vernichtet mein Lebensglück!« schluchzt die Träumerin und greift voll Verzweiflung in Glut und Funken hinein … umsonst, der Brief ihres Vaters weht als Asche und Staub durch die Finger, und die wirbelnden Rauchwölkchen wandeln sich in das höhnisch lachende Gesicht der Excellenz Gärtner, verzerren sich, wachsen empor und gellen ihr in die Ohren: »Wird sich niemals ein süßeres Lieben in sein Herz schleichen … und dein ist die Schuld!«



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