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Wenn's irgend auf dem Erdenrund
Ein unentweihtes Plätzchen giebt,
So ist's ein junges Menschenherz,
Das fromm zum ersten Male liebt.
Geibel
In dem Eßsaal hatten die Rundtänze nicht so recht zur Perfektion kommen können. Die meisten Damen klagten über arge Hitze, über Schwindel und Herzklopfen und waren durchaus nicht damit einverstanden, daß ihre jüngsten Gefährtinnen Röschen und Erika sich ganz allein in schmachtendem Walzer mit dem cher baron wiegen sollten. Es wurden ununterbrochene Polonaisen aufgeführt, und auf den etwas eigensinnigen Wunsch der Frau von Körberitz sogar ein Menuet probirt. – Die Meinungen wurden immer verschiedenartiger und die Spannung zwischen einzelnen Fräuleins immer größer, bis Nennderscheidt schließlich zu allgemeinem Beifall einen sanften »schwarzen Peter« zur Abkühlung vorschlug. – Er hatte verschiedentlich nach Marie-Luise gefragt und zur Antwort erhalten: Das »Kind« sei gewiß schon zu Bett gegangen, – morgen solle der kleine See gefischt werden, und da müsse sie sehr früh heraus, um die Oberin in den ersten beiden Stunden, wo dieselbe nicht im Hause abkömmlich sei, zu vertreten. –
Trotzdem trat Gräfin Herff nach einiger Zeit wieder in das Zimmer, um, auf den Stuhl der Rittmeisterin gelehnt, dem Spiel mit lebhaftestem Interesse zuzuschauen. Olivier bemerkte, daß sie ihm jetzt freier in das Auge schaue, wie zuvor, und voll liebenswürdiger Aufmerksamkeit als Wirthin am Tische waltete. Es schien ganz selbstverständlich, daß sie fast sämmtliche Damen bediente, daß sie herzuholte, was fehlte, und forträumte, was überflüssig war. – Still und bescheiden, grau und lautlos wie ein Schatten ging sie ab und zu, und da Olivier ihre Hand, welche ihm abermals das Glas füllte, festhielt, um nachzusehen, ob der Kaffee wirklich Brandflecke hinterlassen habe, da lachte sie ihm zum ersten Male fast schelmisch entgegen. – Ihr Blick aber leuchtete auf in unendlicher Dankbarkeit, – war sie es doch so gar nicht gewohnt, daß eine Menschenseele Antheil daran nahm, ob sie Schmerzen litt oder nicht, daß man sich dafür interessirte, ob es ihr gut oder schlecht gehe, die Oberin ausgenommen, welche ja für sie sorgte wie eine Mutter. Aber die hatte zu viel zu thun, um alle kleinen Miseren beobachten zu können, und Marie-Luise klagte nie. Unter schallendem Jubel bekam Fräulein Röschen einen Schnurrbart gemalt, und gleicherzeit öffnete die alte Thurmuhr den Mund und rief der unsoliden Gesellschaft drunten im Schlosse zu, daß es über all dem Lärm und Spektakel bereits Mitternacht geworden sei. –
Die Gewohnheit ist eine unerbittliche Tyrannin. So herrlich sich die alten Damen auch amüsirten, so sauer wurde es ihnen schließlich doch, das Gähnen zu unterdrücken, und Olivier hatte den heimlich bittenden Wink der Oberin schließlich verstanden und die Musikanten entlassen. – Noch einen schmetternden Tusch und johlendes »Vivat hoch!« – und dann stolperten sie über den Kiesplatz nach dem Wägelchen zurück. Der Spitz kläffte ihnen entgegen, und das Schimmelchen ward losgebunden und setzte sich resignirt in Trapp, – lange noch hallten seine Eisen von der grabesstillen, harten Landstraße zurück. –
Auch Olivier verabschiedete sich. »Apropos ... wo liegt denn eigentlich das Dorf, und wie heißt die Schenke, in welcher ich übernachten kann?« fragte er zu guter Letzt, als die Dankesergüsse und Lebewohls etwas ermatteter über ihn herstürmten. »Dorf? ... Schenke?« – Alles horchte hoch auf, und die Oberin trat ganz betroffen einen Schritt näher und fragte: »Sie haben doch hoffentlich Ihre Equipage herbestellt. Herr von Nennderscheidt?«
»Natürlich – für Morgen Mittag. Ich finde es ganz amüsant, mal in einem Bauernbette zu kampiren, und wenn nicht gerade die Großmutter vor zwei Stunden an den schwarzen Pocken in demselben gestorben ist, dann gedenke ich sehr sanft darin zu ruhen!«
»Aber um Gottes Willen ... es existirt weder Dorf noch Gasthaus auf eine Stunde Umkreis, Herr Baron!« schlug die Stiftsvorsteherin wahrhaft entsetzt die Hände zusammen. »Hersabrunn liegt ja völlig isolirt, und das nächste Vorwerk selbst kann erst in halbstündigem Marsch erreicht werden!«
»Heiliges Neundonnerwetter!!« – Olivier stemmte die Hände in die Seiten und bog sich in schallendem Gelächter –: »Na, dann kann die Sache ja noch ganz spaßhaft werden! Vielleicht haben Sie die Güte, mir einen Strick zu leihen, gnädigste Frau, damit ich mich bis morgen früh am Garderobehalter aufhängen kann?!« –
Stürmische Aufregung; selbst die schläfrigsten Damen wurden wieder vollständig munter.
»Sie müssen hier logieren! ... selbstverständlich! Sie können doch unmöglich in Nacht und Nebel hinaus! – Ach und die Musikanten sind auch schon abgefahren! – Aber wohin mit ihm? Frau Oberin! ... theuerste Frau Oberin, wo quartiren wir den Baron ein?« –
Wie ein Hagelschauer herniederprasselt, schwirrten die Stimmen, sich überschreiend in allen Klangfärbungen durcheinander, und Nennderscheidt stand und überschaute die erregte Scene, wie Einer, welcher voll Uebermuth in einen Ameisenhaufen sticht und sich des Wirrwarrs freut, welchen er angerichtet. Die Oberin sah unter all den lachenden Gesichtern merkwürdig ernst aus. Sekundenlang grub sich eine feine Falte zwischen ihre Augenbrauen, dann hob sie entschlossen den Kopf: »Ich sehe keine andere Möglichkeit, Herrn von Nennderscheidt unter Dach und Fach zu bringen, als die, ihn hier zu behalten. In dem Schlosse selber jedoch kann und darf ich keinen Gast aufnehmen und muß daher sehr um Verzeihung bitten, wenn mein »Unterschlupf« etwas primitiver Natur sein wird. – Das Gärtnerstübchen ist groß genug, um noch ein Bett stellen zu können, und der alte Conrad muß wohl oder übel als Stubenkamerad mit in den Kauf genommen werden –.«
»Aber Frau Oberin –.« rümpfte Fräulein von Geuderheim die Nase ... »Das ist ja eine entsetzliche Zumuthung ... wie kann Herr von Nennderscheidt in solcher Gesellschaft und in solch einer Bedientenstube existiren!!« –
»Ja wissen Sie bessern Rath, Erika?« Die Oberin zuckte die Achseln. –
Laute Debatte, die verwegensten Vorschläge. Olivier findet die Idee mit der Gärtnerstube ganz kolossal amüsant. –
Marie-Luise berührt leise den Arm der Oberin. »Wir könnten ja Herrn von Nennderscheidt in der alten Kegelbahn unterbringen – flüstert sie. »Staub und Spinnweben giebt's allerdings genug, aber er hat doch einen Raum für sich allein!«
Jubelndes Gelächter. »Vortrefflich! ... ausgezeichnet! in die alte Kegelbahn! Die ist ja ganz nah hier im Garten und nur wenige Schritte von der Gärtnerstube entfernt, – im Nothfall können Sie Conrad rufen, falls Sie etwas wünschen sollten!« –
Olivier ist entzückt und versichert, daß ein Nachtquartier in der Kegelbahn zu seinen originellsten Memoiren zählen werde! –
»Aber fürchten Sie sich auch nicht? Die Thüre schließt nämlich kaum noch in den Pfosten, geschweige in Schloß und Riegel!« haucht Fräulein Röschen so naiv wie möglich, macht angstvoll große Augen und legt den Finger an den Mund.
Der Freiherr zieht mit düsterer Banditenmimik ein Juchtenetui aus der Brusttasche, öffnet es und nimmt einen Revolver heraus. – »Ist nichts auch mein, als Büchse, Schwert und Roß, sind die Mädchen doch stets dem Jäger hold!« – singt er, dieweil die Damen laut schreiend beim Anblick der Waffe auseinanderstieben. »Das Nachtlager von Granada – Hersabrunn, meine Gnädigsten, wer weiß, was für Kämpfe ich noch zu bestehen habe!«
Die Oberin, Marie-Luise und Dörte begeben sich in die Kegelbahn, so gut es geht, ein Lager herzurichten. – Conrad leuchtet mit der Laterne. Alt und baufällig ist der lange Jahre unbenutzt stehende Raum. Mörtel und Kalk sind von den Wänden gefallen, in den Ecken lagern Blumentöpfe, aufgeschüttete Gartenerde, Sämereien und Geräthe. – Die Fensterscheiben sind blind und zerbrochen, theilweise verklebt. Dörte versucht mit gewaltigem Besen etwas Ordnung und Sauberkeit zu schaffen, schlürft in den Holzschuhen laut lachend und schwadronirend über die morschen Dielen und jagt ein paar alte Kegelkugeln die Bahn hinab. Wie Donnerrollen klingt's. Conrad und Marie-Luise richten die eiserne Bettstelle auf, und da der Alte in Eierbier seliger Stimmung mehr dazu neigt, mit Dörte Kegel zu schieben, so läßt Gräfin Herff ihn lächelnd gewähren und breitet still und behende die weißen Linnen über die Kissen. – Es ist ja heute Alles außer Rand und Band in Hersabrunn, – mögen die beiden Alten da auch ihr Späßchen haben und mit krähendem Gelächter Jupiter, dem Donnergott ins Handwerk pfuschen. Endlich ist das improvisirte Logirzimmer hergerichtet, und Dörte schlägt die Hände zusammen über das pfiffige Komteßchen, welches in aller Eile sogar Vorhänge aus zwei weißen Schürzen vor das Fenster gehängt hat. –
Im Triumph wird Nennderscheidt von der ganzen Gesellschaft bis zur Thüre der alten »Burgruine« geleitet und als Prinz-Regent aus dem zahnlosen Munde der Frau von Körberitz andeklamirt. »Und ein ruhiges Gewissen – ist ein sanftes Ruhekissen –.«
Es dauert lang,, bis er alle Hände zum Gute-Nacht geschüttelt, bis sich der Tumult gelegt und die höchlichst animirte Damenschaar sich rückwärts konzentrirt. –
Endlich wird's still über Hersabrunn. Die Lichter verlöschen, – groß und glänzend schwebt der Mond über den dunklen Lindenwipfeln.
Plötzlich ... horch ... ein Schuß! ... und abermals einer, – schauerlich krachts durch die einsame Nacht.
Von Neuem Aufregung und lauter Lärm im Schloß. Die Lichter flackern wieder auf. – Thüren schlagen – in den wunderlichsten Kostümen, gleich Gespenstern der Nacht laufen die Damen auf den Corridoren zusammen, angstvoll fragend, vermuthend, – schreiend. – An die Hausthüre klopft es. – Alles stürmt an die Fenster. –
»Ich bin's, gnädige Fräuleins ... der Conrad!«
»Allmächtiger Gott ... was ist geschehen? ein Unglück? ein Mord?« – zetert es von oben.
»Nee, nee. – gar nischt dergleichen!« tröstet es von unten, dieweil Mond und Laterne die gespenstische Erscheinung des Nachtwandelnden gar grausig matt beleuchten, »ich dachte ja och zuerscht, es müßte sich Eener in Blute wälzen, aber wie ich dann Kourage kriegte und beim Barone anpochte, da rief er mir zu –: Ist Alles in schönster Ordnung, Alter, – ich schieße blos das Licht aus und treffe es verdammter Weise nicht!« –
»Das Licht ausschießen?!« ...
»Ja, gnädige Fräuleins! Ich habe so 'was och mein Lebenlang noch nicht gesehen! Wie ich die Thüre so ein bischen öffne und herein schiele, da sitzen der Herr Baron aufrecht im Bette und zielt nach dem Lichte, welches ganz unten in der Kegelbahn steht, und gleicherzeit geht es wieder – bumm – und ... dunkel ist's: – ›Hahaha! ... jetzt hat die Schnuppe dran glauben müssen!‹ lacht der Junker, und dann sagt er sehr freundlich: ›Na gute Nacht, Zippelkappenmusjö! leg' Er sich auf's Ohr, und träume Er von Hammelswürsten!‹ – ›Schön Dank, Gnädiger Herr‹ – antworte ich. ›wünsche wohl zu ruhen!‹ und dann trollte ich mich schnell hierher, um den Damen zu sagen, daß Sie sich man ja nich ängstigen sollen, von wegen das Geschieße!« –
Lautes Gelächter; – die weißen Nachthauben in den Fenstern verschwinden, und Conrad schlurft auf seinen Filzpantoffeln, so schnell ihn die krummen Kniee tragen, über den Kiesweg zurück. –
Dann ist und bleibt es still in Hersabrunn. Der Nachtwind streicht um Thurm und Giebel, und die alten Linden schütteln sinnend das Haupt, – – wie lang ist's her, daß solch lustig Leben hier pulsirt, daß die Spornstiefeln eines flotten Junkers das Moos auf den Treppenstufen zertreten? ... wie ein Traum aus fernen, fernen Tagen, da noch der Hofstaat der Markgräfinnen auf Stöckelschuhen hier einhergestelzt, zieht es durch die laubigen Wipfel.
Im Giebelstübchen aber faltet Marie-Luise die Hände über der Brust und lächelt in süßem Traum. Sie hatte einmal ein Märchen von einem Prinzen gelesen, schön, ritterlich, fromm und gut; der kam des Wegs und erbarmte sich des armen Aschenbrödels. – – –
Wunderlich ... davon träumte sie jetzt – und der Prinz trug Nennderscheidt's heitere Züge, und sie war das Aschenbrödel – und war so glücklich, ach so unbeschreiblich glücklich, wie nie zuvor im Leben. –
Und da die Morgensonne durch die Scheiben strahlte, und Marie-Luise mit glühenden Wangen aus den Kissen emporschrack, da saßen die Tauben auf dem Fensterbrett und gurrten und nickten ihr zu!
Früher denn gewöhnlich stand Gräfin Herff in dem Milchgewölbe und rahmte die sauberen Satten ab, um Platz für die frisch gemolkene Milch zu schaffen, welche Dörte aus dem Kuhstall herüber bringen wird, in blinkendem Eimer, schäumend und warm.
Die Luft ist schwer und kellerig in dem gewölbten Raum, und Marie-Luise streift den dunkelblauen Kattunärmel noch höher an dem Arm empor und öffnet das kleinscheibige Fenster, welches hinaus in den Garten geht. Das Weinlaub schaukelt sich, bunt gefleckt, vor den Gitterstäben, durchleuchtet in farbenheller Pracht von der Morgensonne, deren Strahlen warm und goldig um das zarte Gesichtchen des jungen Mädchens fluthen. Entzückt athmet Marie-Luise den würzigen Duft, welchen der Luftzug durch's Fenster weht, ihr Blick schweift sekundenlang empor zu dem klaren Himmel, an welchem die Lerchen jubelnd emporsteigen und die Schwalben zwitschern; und wie sie stets beim Anblick solch schöner Gotteswelt Dessen gedenkt, der Himmel und Erde geschaffen, so geht es auch in diesem Augenblick wie ein stilles, dankesfrohes Morgengebet durch ihre Seele. – Dann aber regt sie die kleinen Hände, welche so viele Spuren emsiger Arbeit an sich tragen, und waltet ihres Amtes als Hausmütterchen. –
Dörte läßt heute lange auf sich warten. Marie-Luise legt den Holzlöffel über die Schüssel, streicht die graue Leinenschürze glatt und setzt sich, lächelnd und sinnend auf das niedere Fensterbrett. Draußen erklingen Stimmen, und wie sie neugierig das Köpfchen hebt und mit großen Augen durch die Rebengewinde lugt, da sieht sie den alten Conrad, in Hemdsärmeln, mit dem großen, etwas defekten Strohhut auf dem Kopf und der Gießkanne in der Hand, wie er behaglich schwadronirend den Kiesweg entlang schlendert, um die Rabatten längs des Hauses zu inspiziren. Neben ihm schreitet Baron Nennderscheidt. Wie ein majestätischer Eichbaum neben einem verkümmerten und verkrüppelten Weidenstumpf sieht er neben der gebeugten Gestalt des Alten aus. In die Wangen der Lauscherin steigt es heiß und roth empor vor Freude, daß sie ihn endlich einmal so ganz unbemerkt anschauen kann, – recht gründlich anschauen! – Die Sonne glänzt auf seinem blonden Haar, auf welchem der Hut weit in den Nacken zurück geschoben ist, und die graublauen Augen unter den starken Brauen sehen heller und ruhiger aus wie gestern Abend, wo es dunkel und heiß in ihnen geblitzt hat, wie Wetterleuchten. – Er hält eine Cigarrette zwischen den Zähnen und hat beide Hände tief in die Taschen seines Beinkleides versenkt; etwas äußerst Behagliches liegt in seinem ganzen Wesen. – Und wie er mit dem Conrad, diesem schlichten, gewöhnlichem Manne plaudert und spricht, wie er sich von ihm über Dies und Jenes der Gartenkunst belehren läßt und zwischendurch mit hellem Lachen seine Scherze macht. – – nein, so hatten die Damen droben niemals die Kavaliere geschildert! Sie kannten ja sämmtlichst Welt und Menschen, hatten fast alle am Hof gelebt, aber die Art und Weise, wie sie in all ihren Geschichten und Erlebnissen die vornehmen Lebemänner geschildert hatten, die war Marie-Luise nie sympathisch gewesen. Nennderscheidt war doch auch ein vornehmer Mann, ein Höfling und Kavalier, aber er schien ganz anderen Schlags zu sein, wie die stolzen, jähzornigen und leichtlebigen Herren, welche nur durch Reitpeitsche und Fußtritte zu ihren Untergebenen reden. Röschen erzählte mit Vorliebe eine Geschichte von ihrem Vetter, welcher immer querfeldein ritt und fuhr, dahin, wo's ihm gerade beliebte, egal, ob der köstlichste Blumenflor der Beete dabei in Grund und Boden gestampft wurde. »Bah ... die Männer sind sämmtlich herzlose Tyrannen und Egoisten, welche alle Blüthen erbarmungslos in den Staub treten!« Das war jedes Mal der Refrain, welcher bei allen Fräuleins seufzende Bestätigung fand. –
Marie-Luises Augen leuchteten auf, sie sah es herzklopfend mit an, wie Olivier sich nieder neigte und eine geknickte Malvenstaude sorglich aufrichtete und an ein Rosenstämmchen lehnte. Nein – er war nicht herzlos, nicht tyrannisch und erbarmungslos, er war gut und edel wie jene Traumgestalt, welche sich das junge Mädchen als Ideal eines Mannes im Herzen ausgemalt hatte. – – Wüßte sie nur, wie er es mit seinem Gott hält, ob er auch über die Religion spottet und lacht, wie Erika von den modernen Herren erzählt, – ach daß sie ihn fragen könnte! – – Sie lehnt die Wange gegen die Eisenstäbe und lauscht seiner Stimme, welche sie jetzt deutlich hört, Wort für Wort versteht sie. – Er hat dem Conrad gerade eine Cigarre gegeben, und der Alte wird dunkelroth vor Wonne und grinst über das ganze, faltige Gesicht.
»Wenn ich nur wüßte, warum der gnädige Herr mir gar so bekannt vorkommt!« schmunzelt er und schneidet mit seinem krummen Messer die Havanna an. – »wo sind denn der Herr Baron eigentlich zu Hause?«
Olivier amüsirt sich gerade damit, einen Goldkäfer über seine Fußspitze rennen zu lassen. »Zu Hause bin ich so selten, daß unsere Bekanntschaft wohl sicher nicht aus Roggerswyl oder Gadebusch stammen kann, alter Grimmbart, aber das Gute liegt sehr nahe, ich wohne in der Residenz!«
Bei Nennung der ersten beiden Namen hatte Conrad mit nicht gerade geistvollem Aussehn den Kopf geschüttelt, jetzt aber schloß er den offenstehenden Mund und nickte ein paar Mal schnell hinter einander her, wie Einer, dem plötzlich ein großes Licht aufgeht. – »Aus der Residenz! na drumm och – jetzt begreif' ich's ja, warum Sie mir gleich so bekannt vorkamen ...«
»So? war Er auch da?« –
»Nee, Ew. Gnaden – aber mein Bruder selig – der hat dort bei's Militair gestanden!«
Wie das Lachen Nennderscheidt's so hell und frisch zu ihr herein klingt! Gräfin Herff lacht unwillkürlich leise mit, und Conrad begreift nicht recht, warum der gnädige Herr plötzlich so vergnügt ist und ihm ganz unvermittelt noch eine zweite Cigarre schenkt. – Dann nimmt der Alte Stein und Zunder und schlägt Feuer. Olivier kneift die Augen zusammen und sieht zu. »Verdammte Schinderei! – da, hier hat Er Schwefelhölzer!«
»I' wo werd' ich denn, gnädiger Herr! Das Deiwelszeug gewöhne ich mir schon lange nicht an ... geht einem das Haus überm Kopf in die Luft –!«
»Blödsinn!« –
Conrad machte ein verschmitztes Gesicht. »In eine Junggesellenwirthschaft taugt kein bequemes Feuerzeug, Ew. Gnaden! Kommt doch mal vor, daß der Hut schief sitzt, wenn man heimkommt, und dann ist der Tisch zu wackelig, um ein Licht darauf stellen zu können! Hier mit dem Steine kriegen Sie in solchem Zustande überhaupt nischt los – und das eben ist das Gute dran.« –
»Ja sieht Er, alter Pfiffikus, wenn Er schon mal von Vorsicht reden will, dann bin ich noch viel ängstlicher in dieser Beziehung! Ich lege mir das schwere Opfer auf, überhaupt niemals in meiner Wohnung des Abends Licht zu brennen, damit kein Unglück passiren kann –«
Conrads Cigarre hatte Feuer gefangen, er unterbrach sich aber im Paffen und sah den Sprecher verdutzt an: – »Ja ... aber ... wenn nun der Herr Baron nach Hause kommen?«
Olivier seufzte tief auf –: » Dann ist es in der Regel schon wieder hell am Himmel!!« –
Nun war die Reihe zu lachen an dem Faktotum von Hersabrunn, und auch Marie-Luise vergaß einen Augenblick ihr Incognito und sekundirte dem Alten mit ihrer weichen, melodischen Stimme. Sie trat auch nicht hinter dem Fenster zurück, als der Freiherr auf's Freudigste überrascht näher trat und ihr mit heiterstem »Guten Morgen« die Hand durch Weinlaub und Gitter entgegen streckte.
»Gott sei Dank, daß Sie da sind, Komteßchen – ich habe rasenden Kaffeedurst!« –
»Ich komme gleich und führe Sie in den Eßsaal! Die anderen Damen schlafen aber noch. Sie müssen mit der Oberin und mir allein trinken!« –
»Charmant! Und dann begleiten Sie Conrad und mich an den See?« –
»Sie wollen mit?« –
»Das will ich meinen!« –
»Ich komme! – ich komme!! – –« wie heller Jubel klang es durch ihre Stimme, dann waren die dunklen Augen hinter dem Fenster verschwunden, und Olivier trat lachend an Conrad's Seite zurück.
»Ein liebes, kleines Ding, die Komtesse Luischen!« sagte er mit der Miene eines sehr zufriedenen väterlichen Freundes. –
Der Alte ließ das Rosenstämmchen, an welchem er just eine halboffene Knospe abgeschnitten hatte, zurückschnellen und blickte den Sprecher mit wahrhaft verklärten Augen an. Langsam nickte er mit dem Kopf. »Das weiß der liebe Gott, daß kein Engel im Himmel braver und schöner sein kann, wie unsere Marie-Luise und wenn's eine Menschenseele giebt, welcher ich schon auf Erden die volle Seligkeit wünsche, dann ist es unser Komteßchen. – Da ... die Rose hier hab' ich für sie abgeschnitten, – können sie ihr neben die Kaffeetasse legen, gnädiger Herr ... ich denk' wohl, dann hat sie doppeltes Plaisir dran!«
»Er ist ein netter Kerl, Conrad. – und hat stylvollere Ideen wie ich! – Losgeschossen mit der Centisoliabombe, – ich denke, bis in's Herz wird sie ja nicht treffen!«
– – – – –
O Schreiten über Berg und Thal
Am Morgen. – welch' ein Segen!
Die frohe Seele jauchzt dem Strahl
Auf hohem Flug entgegen!
H. Vierordt.
Das war ein herrlicher Gang durch die thaufrischen Wiesen, durch den stillen Wald und die duftenden Lupinenäcker.
Langsam und schweigend schritten sie des Wegs, – Conrad und Dörte mit dem großen Netz und den Angelgeräthen voraus, und Marie-Luise an Nennderscheidt's Seite, einen Korb am Arm, über dessen Rand eine schneeweiße Serviette flatterte. Den ungefügen schwarzen Strohhut hatte sie abgenommen; der Wind faßte die weiten Rockfalten des Kleides und trieb sein Spiel damit, und die steifgestärkte weiße Schürze rauschte zornig auf, wenn der Weg durch ein Stücklein Haide führte, und die naseweisen Ginsterbüsche sich an die schmale Zwirnspitze klammerten. Olivier fand den Anzug der jungen Komtesse weder auffallend noch unschön oder spaßhaft, – er konnte sich die Kleine kaum in anderer Toilette denken und fand es auch blitzegal, in was für einem Futteral solch ein Backfischchen steckt, nur das bemerkte er voll harmloser Freude, daß Marie-Luise seine Rose an die Brust gesteckt hatte.
Beim Ersteigen einer kleinen Anhöhe hatten die beiden jugendfrischen Gestalten ihre Begleiter überholt und blieben nun in kurzer Rast stehen, den keuchenden Conrad und seine Partnerin zu erwarten. Sonnig und klar, durchduftet und durchhallt von Vogelstimmen lag das flache Land vor ihnen, begrenzt von Laubwald, welcher bereits einige Wipfel in die üppigsten Farben des Herbstes getaucht hatte, und von dem fernen Gebirge, dessen Conturen in zart violettem Nebel verschwammen. – Auf dem Feld arbeiteten Schnitter, und über die Stoppeln schritt, nach Rebhühnern suchend, der Herr Oberförster mit dem braunen Jagdhund. Olivier schob den Hut noch weiter in den Nacken zurück und strich tiefausathmend über die Stirne. Sein Antlitz hatte einen völlig veränderten Ausdruck, ernst und nachdenklich, und dennoch verklärt von einem Schimmer glücklichster Zufriedenheit, wie sie nur ein warmfühlendes und braves Herz kennt. – Das junge Mädchen hatte mit langem, forschendem Blick zu ihm aufgesehn: »Nicht wahr, es ist schön in dieser Morgenfrühe durch's Feld zu gehn?« fragte sie leise, zum ersten Mal ihn anredend. Er sah lächelnd zu ihr nieder: »Glauben Sie wohl, Komteßchen, daß ein solch köstlicher, wolkenloser Frieden in Wald und Flur mich feierlicher stimmt wie eine Kirche? Hier kann ich fromm sein und beten, hier erkenne ich meinen Gott in tausend Werken seiner Hand, und jeder Grashalm, der im Winde raschelt, hält mir eine bessere Predigt wie mancher studirte Herr Pfarrer. – Sehen Sie mal, wie klar die Luft ist, wie hoch und endlos sich der Himmel über uns wölbt! da könnte ich närrischer Kerl nun stundenlang im Moose liegen und in solch ein gewaltiges Räthsel der Unendlichkeit hinauf starren!« –
Wie ein jähes, freudiges Erschrecken zitterte es durch ihr Herz. – »Sie haben Natur und Einsamkeit so lieb wie ich, Herr von Nennderscheidt,« entgegnete sie hastig, mit strahlenden Augen: »und doch bleiben Sie in der Residenz zwischen engen dumpfen Mauern, die keine andere Kirche aufweisen, als solche, wo kaum ein Sonnenstrahl durch die Fenster fällt, von Gottes Lieb und Güte zu künden?« –
Er nickte sinnend mit dem Haupt: »Ja, Sie haben recht; es ist thöricht, wenn sich der Mensch, der frei wie ein Falk, zu seinem eigenen Sklaven macht. Ich bin überzeugt, das Landleben würde einen ganz brauchbaren, braven und guten Menschen aus mir machen, aber gerade darum schicken die bösen Mächte ihre Abgesandten, mir einen Strick um den Fuß zu legen, mich auf dem heißen Pflaster festzuhalten.«
»Sie sollen heraus auf's Land kommen, um glücklich zu sein; nicht um brav und gut zu werden, das sind Sie schon!« – klang es voll jubelnder Ueberzeugung zu ihm auf.
Da neigte er sich und blickte überrascht in ihr Auge, so herzlich erfreut wie ein alter Mann, welchem Kinderhände einen Strauß Frühlingsblumen bieten. »Wollte Gott, Sie hätten recht. – Das einzige Gute, was an mir ist, ist leider nur die Tugend, daß ich nicht blind für all meine Fehler bin, und weiß Gott, den besten Willen habe, sie abzulegen. Ich bin aber unter die Wölfe gerathen und muß mit ihnen heulen, und nicht nur des Weibes Name ist Schwachheit, sondern auch das starke Geschlecht krankt oftmals mehr wie gut an der kindischen Furcht, sich lächerlich zu machen. – Das sehe ich Alles ein, Fräulein Luischen, und gehe nach wie vor den alten Schlendrian. In diesem Augenblick ist's mir zu Muthe, als müsse ich directen Wegs von hier nach Roggerswyl abreisen, das einsame Nest für ein junges Weib auszubauen und der Residenz für ewige Zeiten den Rücken zu kehren, um brav und solide zu werden, und wissen Sie warum ich es nicht thue? – Weil ich baumstarker Kerl mich vor einem Briefe fürchte, dem Briefe meines besten Freundes Goseck, welcher durch eine ironische Bemerkung all meine guten Vorsätze wie ein Schilf über den Haufen bläst. – Das ist ja das Elend, daß man bei den verrücktesten und blödsinnigsten Streichen über das Urtheil der Welt lacht, und daß man sich schämt wie ein böses Gewissen, wenn man dieser Welt ein einziges Mal eingestehen soll, daß das Gute in unserm Herzen einen Sieg gefeiert!« –
Olivier hatte hastig gesprochen, wie es schien, mehr zu sich selber, wie zu seiner Begleiterin, dann brach er kurz ab und wechselte im Weiterschreiten schnell das Thema. Die Mittheilung, daß die sämmtlichen Stiftsdamen zum Frühstück herauskommen würden, versetzte ihn wieder in beste und übermüthigste Laune. – Vor ihnen, durch eine kleine Kiefernwaldung glitzerte der See, und nach wenigen Minuten standen die vier Fußgänger an seinem Ufer, gegen welches der Wind die leicht gekräuselten Silberwellen trieb. – Das Land trat ein paar Mal weit in die klaren Fluthen vor und theilte den See in mehrere, schilfige kleine Weiher, welche vortrefflich mit dem Netz gefischt werden konnten. Ein Kahn schaukelte sich bereits an dem niedern Holzsteg, und ein halbwüchsiger Bursche, augenscheinlich sein Besitzer, dehnte sich, im dolce far niente alle »Viere« von sich streckend, in dem schwellenden Waldmoos. Er raffte just einen Tannenzapfen auf, um als Hand der Gerechtigkeit in den Streit zweier Elstern, welche droben auf dürrem Zacken einer Kiefer saßen, einzugreifen, als ein etwas schwachathmiger Pfiff aus Conrads schiefgezogenem Munde sein Interesse in friedlichere Bahnen lenkte.
– – – – –
Conrad stand am Steg und kratzte sich nachdenklich den grauen Kopf.
»Na, was simulirt Er denn, alter Schwede? Vorwärts, – eingeschifft!«
»Ja, gnädiger Herr, da mache ich mir Gedanken über die Nachtschnuren, welche wir gelegt haben! Rausheben dürfen wir sie noch nicht, weil noch keine Wasserbütte nich da ist, und wenn wir sie noch liegen lassen, gerathen mir wieder die Fräuleins dran, wie das letzte Mal, wo sie die beiden größten Aale reine im Unfug verloddert haben! – Sind ja immer mit den Händen vorweg ... hilft all kein Reden!!«
»Wo liegen die Angeln?« – Olivier machte ein sehr verschmitztes Gesicht.
»Hier am Steg, – die Damens kennen die Plätze ganz genau!«
»Gut, diesmal sollen sie davon bleiben! – Heda! Du junges Deutschland! such' mir mal einen Stecken dort im Buschwerk, – fingersdick. – aber ein bischen Trapp!« und dabei griff Nennderscheidt in die Rocktasche und zog ein Paar sehr eleganter hellgrauer Glaçéehandschuhe heraus. »Nun geben Sie mal acht, Comtesse, was solch ein harmloses Stück Leder für Effecte erzielen kann!« – Er blies den Handschuh auf, band ihn fest an das Ende des Stockes, welchen der Junge, brennend vor Neugierde, herzu brachte, und krümmte die steifstehenden Finger ein wenig nach innen. Dann stach er den Stock in das Wasser, so daß nur der Handschuh über dem Spiegel sichtbar blieb.
»Jesses!« kreischte Dörte entsetzt, »accurat wie die gekrallte Hand von einem Ersoffenen!!« –
»Nicht wahr? – ganz patent! – Nun kann Er Gift drauf nehmen, Conrad, daß keine der Damen länger wie zwei Secunden an diesem Platze verweilt!« – Und Nennderscheidt stimmte, sehr zufrieden mit sich, in den lärmenden Beifallsjubel ein, welchen die drei dienstbaren Geister anhuben. Auch Marie-Luise amüsirte sich über diesen Scherz mit der ganzen Naivität ihrer kindlichen Seele, und ihre Scheu wich mehr und mehr, und ihre Augen leuchteten immer glückseliger. – – Es schüttelte der Lebensbaum zum ersten Mal sein Gezweig über dem Aschenbrödel und goß einen funkelnden, sonnigen Goldregen blendend über Augen und Herz. – –
Wie das Wasser so schmeichelnd um den Kahn wiegt, wie es silberperlend von den Rudern träuft und gleich Demanten in dem dunklen Haar des jungen Mädchens aufblitzt, wenn Olivier neckend einen Gruß zu ihr herübersprüht! – Dann treiben sie in das hohe, flüsternde Schilf, darinnen blaue Libellen wohnen, die Seelen der Wassernixen, welche in Mondscheinnächten aus der Fluth emporsteigen und dem Wandrer mit weißen Armen winken. Mit schillernden Flügeln tanzen Mückenschwärme um die braunen Schilfkolben, und eine verspätete Lilie spiegelt ihr weißes Angesicht träumerisch auf dem stillen See. – Olivier läßt die Ruder sinken, und auch Marie-Luises Hände liegen still an dem Holzgriff; wie zwei Flügel bläst der Wind ihre weiten Kleiderärmel zurück, und die Sonne brennt ungehindert auf die weißen, sehr schlanken Arme. Nennderscheidt hat schon beim ersten Begegnen am Kaffeetisch seine Beobachtungen darüber angestellt, jetzt bemerkt er es kaum. Seine Gedanken scheinen überhaupt weit entfernt zu sein, mit offenen Augen träumt er in die sonnige Pracht hinaus, und Keines spricht ein Wort. – Glockentöne zittern voll und weich über den See, Morgenläuten aus dem Nachbarsdorf. Da zieht Olivier langsam den Hut vom Haupt und neigt sich tiefer zu dem klaren Wasserspiegel nieder. Marie-Luise aber blickt unverwandt zu ihm hin, und es däucht ihr, als stehe der Himmel weit offen über ihnen, als halle das Läuten von droben hernieder, wie ein weihevoller Segen ihre ganze Seele zu erfüllen. Die Hände möchte sie vor das Antlitz schlagen und heiße Thränen weinen. Thränen unaussprechlichen, traumhaften Glückes. – Ihre Finger falten sich im Schoß, wie ein jähes, leidenschaftlich heißes Gebet steigt es aus ihrem Herzen empor. Ein einziger Wunsch, die erste Bitte, welche sie voll flehender Innigkeit zum Himmel schickt. – Da ziehen Wolken über die Sonne, da streicht der Wind wie schmerzliches Seufzen durch das hohe Schilf. –
Gleichzeitig ruft Conrad vom Ufer herüber. – Der Freiherr schrickt empor und lacht laut auf: »Ich glaube factisch, Fräulein Luischen, wir waren auf dem besten Wege, lyrische Gedichte zu machen! – Kirchenglocken! weiß der Kuckuk, wie einem solche Töne auf die Nerven fallen können, wenn sie an eine bekannte und liebe Stimme erinnern!«
Das junge Mädchen nickt stumm zur Antwort, ein verklärendes Lächeln schimmert über das fromme Kindergesicht.
Vom Stege herüber tönt vielstimmiges, gellendes Angst- und Hülfegeschrei, – wie ein Schwarm aufgescheuchten Federviehs flattern die Stiftsfräuleins in planloser Verwirrung dem Wald entgegen, und etwas weiter zurück am Ufer liegen sich Conrad und der Fischerjunge in den Armen und schluchzen vor Lachen.
»Hurrah, sie haben die Hand entdeckt!« jubelt Nennderscheidt mit lustfunkelnden Augen. – »Nun mal in die Riemen gelegt, damit ich constatiren kann, welche der Fräuleins dem verunglückten Baron die bittersten Thränen nachweint!«
Die Kirchenglocken tönten fort, aber Olivier hörte sie nicht mehr. – – Die Stunden flogen dahin, reiche Beute zappelte in den Netzen, und Conrad ächzte unter der Last einer Bütte, welche er nach dem Handwägelchen tragen wollte. Verstohlen schaute sich Olivier um. Niemand beobachtete ihn. Da nahm er dem Alten seine Last ab und trug sie mit starken Armen davon. Zwei Augen hatten es aber dennoch gesehen, dieselben dunkeln Augen, welche ihm noch an dem nämlichen Tage lange, lange nachschauten, da er mit flinken Rossen wieder zur Residenz zurückfuhr. – Und an derselben Stelle im Garten stand Marie-Luise nun heimlich manches Mal und spähte die Chaussee hinab, ob er nicht wiederkehren werde? – Aber die Sonne blieb verhüllt, und bleischwere Einsamkeit lastete über Hersabrunn, und der Winter streute seine Flocken und deckte alles Blühen und alle Hoffnung zu. Die Kirchenglocken aber klangen so traurig wie nie zuvor. – Der Winter zog vorüber, junges Grün knospte und trug Blume und Frucht, und der Herbst nahte und mit ihm das Stiftungsfest, – aber diesmal kam der Hof allein, und Marie-Luise neigte das Köpfchen auf die gefalteten Hände und war müde –, müde zum Sterben. –