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XII.

Anfänglich waren die Besuche von Ethel und Miß Maud nicht allzu oft und nur von kurzer Dauer gewesen, dann folgten sie immer schneller aufeinander und dehnten sich mehr und mehr aus, und schließlich fragte der Kranke fast täglich: »Kommt Ethel noch nicht?«

Die beiden andern Buben kamen kaum noch von den Kastanienbäumen herunter, von wo aus sie die Chaussee, welche nach der Residenz führte, überblicken konnten, denn »Nichte Ethel« kam zumeist mit dem Wagen herausgefahren, da die Abgangszeit der Züge nicht immer bequem gelegen war.

So vergingen Wochen, und Fräulein von Tempelburg war so bekannt und unentbehrlich im Hause ihrer Stiefgroßmutter geworden, so verehrt und zärtlich geliebt von allen, wie es bei Severa, der kaltherzigen und stets verdrossenen, nie der Fall gewesen war.

Maxel lebte ordentlich auf in der freudigen Erwartung auf jeden neuen Besuch und empfand sein Leiden längst nicht mehr als Qual, seit die Herzensgüte der beiden »Samariterinnen« in stets neuer Weise für seine Unterhaltung sorgte.

Nur ein leiser, tiefer Schatten der Wehmut wich nicht aus seinem blassen Gesicht, und so oft die Flurklingel ertönte, färbten sich seine Wangen, die Augen richteten sich wie in angstvoller Erwartung nach der Türe, und er fragte: »War es der Postbote? Hat er einen Brief von Severa für mich gebracht?«

Nein! – immer wieder nein!

Die sehr flüchtigen Zeilen der jungen Frau trafen nur spärlich ein, und wenn sie Nachricht brachten, so war es nur ein begeistertes Aufzählen von all den Zerstreuungen und Vergnügungen, welche das elegante Badeleben bot, von »idealen« Toiletten und Menschen mit klingendsten Namen, welche nunmehr zu ihrem täglichen Brot gehörten.

Von Maxel kein Wort – kaum eine Frage nach seinem Ergehen.

Daß sie ihm Geld schuldete, und daß der arme Junge mit sehnsuchtskrankem Herzen auf dies Geld wartete, daran schien sie nicht zu denken.

Maxel aber neigte das Haupt tief und tiefer, und als der Arzt erlaubte, daß er wieder in dem Sessel auf dem kleinen Balkon sitzen durfte, freute er sich dessen kaum, weil nur der eine, wehe Gedanke sein Herz erfüllte: »Nun könnte ich doch die Geige halten und könnte eine leise, liebe Melodie spielen und mich an den weichen Zauberklängen entzücken! Ach, wie würde Ethel es gewiß so gern hören!«

* * *

Der Flieder hatte abgeblüht, heißer und heißer brannte die Sonne auf das Asphaltpflaster der Residenz, und Manfred Hoff stand einen Augenblick sinnend vor der Haustüre, lehnte sich auf sein Rad und überlegte, wohin er heute am besten fahren solle, sich in Gottes freier Natur nach der anstrengenden Arbeit zu erfrischen!

Wie in bitterem Weh krampfte sich sein Herz zusammen.

O selige Zeit, wo es diese Frage nicht für ihn gab, wo er nur einen Weg kannte, welchen seine Sehnsucht suchte, nur ein Ziel, nach welchem sein stürmend Herz ihn trieb!

Seit jener unglückseligen Stunde im Park, als sein Lieb ihn treulos von sich stieß, um ein Glück voll Flitter und Blendwerk in den Armen eines reichen Freiers zu suchen – seit dieser Stunde hatte er den Weg nach X. nicht mehr zurückgelegt.

Und doch! wie schattig und kühl ist die herrliche Kastanienallee, wie sonnengolden die Wiesen zwischen den kleinen Seen, wie wogt der rote Sauerampfer im Wind, wie brennen die Goldfunken der Löwenzahnblüten so grell dazwischen!

Die kleine Kiefernschonung duftet im heißen Sonnenschein, – glänzende Käfer rennen über den weißen Sand und die blaue Sylvia wiegt sich mit zarten Flügelchen über dem Thymian.

Wie schön ist gerade dieser Weg!

Und warum soll er ihn meiden, noch immer meiden?

Fürchtet er eine Begegnung mit den stolzen, kaltblitzenden Augen, welche ein so treuloses Spiel mit ihm getrieben?

O nein! – Die Gemahlin des Kammerherrn von Tempelburg weilt fern von hier, – die sucht die einsam stillen Wege, wo der Mensch mit seinem Gott, seinem Herzen und Gewissen allein ist, gewiß nicht auf!

Da, wo es glänzt und gleißt, wo Reichtum, Genußsucht und Leichtsinn ihren lustigen Jahrmarkt halten, wo die lärmende Musik alles übertönt, was vielleicht noch leise und sehnsuchtsvoll in tiefem Herzensgrunde klingt – da schreitet Severas sieghafte Schönheit einher und hat kein Mitleid mit den armen Faltern, welche ihre Schwingen am Licht verbrennen!

Manfred starrt finster vor sich nieder, er weiß es selber kaum, daß er durch die staubigen Straßen dahinfliegt, dem lieben alten Weg entgegen.

Erst als die Bäume über ihm rauschen, als die Häuserriesen den blauen Himmel nicht mehr verdecken, atmet er auf.

Weiter und weiter durch die blühenden, ländlichen Gärten, durch die gründuftigen Fluren, hinein in die freie Gotteswelt, »die so schön ist allüberall, wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual!«

Das Auge eines gottbegnadeten Künstlers sieht überall, auch in dem Unscheinbarsten, das Schöne!

Jeder moosige Stein, über welchen sich in zarten Formen der Epheu rankt, – jede Blume, um welche ein Spinnlein bräutlichen Schleier gewoben, jede schillernde Fliege, welche alle Farben des Regenbogens auf den Flügeln trägt, – jedes Wölkchen, welches traumhaft und unbegreiflich wie ein Menschenleben dem Himmel entgegenzieht und in seinen Tiefen zerrinnt – alles ist dem Auge des Künstlers eine Offenbarung heiliger Schönheit, ein Gruß aus dem Wunderland der Seligen, von welchem alle reden, welches wenige nur im Traume schauen, und welches wohl nur einem einzigen aus Hunderttausenden seine goldenen Pforten erschließt!

Der Ausdruck bitteren Schmerzes ist aus Manfreds Antlitz verschwunden, – weiche, sinnende Ruhe lächelt aus seinen Augen, der Abglanz eines Entzückens, welches die Seele trunken macht.

Er hat sich längst von dem Rad geschwungen, hat den Hut von dem Haupt gezogen und wandert am blumigen Wegrain entlang.

Die Sonnenstrahlen fallen schräger, Lerchen steigen jubelnd in den offenen Himmel hinein, und drüben, von den Heuwiesen, klingt das Dängeln der Sensen, helles Lachen und Schwatzen herüber.

Wie eine milde, versöhnliche Ruhe kommt es über den einsamen Wanderer.

Der Sturm, welcher seit Wochen in seinem Herzen tobte und immer neue Wolken von Schmerz und Kummer über seinem Haupte ballte, ist dem leisen Säuseln gewichen, in welchem Gott der Herr zu denen redet, denen er finstere Wetter auf den Leidensweg schickte!

Seltsam, – Manfred denkt an jenen Abend in dem Park zurück und zum erstenmal bleibt sein Herz ruhig dabei.

Es ist, als ob die grausam stolze Stimme, welche seinem Glück das Todesurteil gesprochen, in einer andern verklungen wäre, welche so lind und lieblich zu ihm niederklang: »Sind Sie krank? Kann ich Ihnen helfen?«

Wunderlich, – »wem der Herr eine Krankheit schickt, dem schickt er auch den Arzt!« pflegte sein verstorbenes Mütterchen oft zu sagen – und ihm deuchte es in jener qualvollen Stunde, als ob auch neben ihn, den Zerschlagenen, Verwundeten, eine barmherzige Samariterin getreten wäre, welche als Gottes Botin sagte: »Ich helfe dir!«

Holder Traum!

Er denkt so gern an das kindliche Mädchen zurück, welches nicht an einem Leidenden vorübergehen konnte, ohne sorgend die kleine Hand nach ihm auszustrecken.

Wie rührend war ihr Mitgefühl! Wie echt und impulsiv ihre Teilnahme!

Er sieht noch immer die großen, ängstlichen Augen über sich!

Und noch wunderlicher! Wie tief und wahr blickten diese Kinderaugen!

Sie waren vielleicht die einzigen im ganzen Lande, welche sich nicht von dem Zauber des Studienkopfes blenden ließen, welche es fühlten und empfanden, daß in diesen Flammenaugen, welche nur hungernd und dürstend nach Gold und Glanz ausschauten, niemals die Treue frommer Liebe, welche bis in den Tod währt, wohnt!

Nein, keine Märtyrerin, welche bereit ist, für ihre Überzeugung zu sterben, schaute aus dem lebenden Gemälde hernieder, sondern ein Weib, welches treulos die Ketten, mit welchen es die Liebe band, zersprengt, um sich zur Gebieterin über das rote Gold zu machen!

Wie kann ein so junges Mädchen, halb noch Kind, derart wahr empfinden?

Welch eine Seelengröße muß sie weit über ihre Jahre erheben, welch ein Adel, welch eine Reinheit muß in ihrem Herzen wohnen, wenn es unbewußt schon die Nähe von Falsch und Verrat empfindet!

Wer war sie?

Ihre Begleiterin war fraglos die englische Erzieherin.

Lebten sie in der Residenz?

Manfred hat sie seit jener Unglücksstunde nie wieder gesehen.

Er hat auch nicht das Interesse gehabt, nach ihnen zu forschen.

Als die Verlobung Severas bekannt gegeben wurde, als er, der Vetter der beneidenswerten Braut, mit Fragen und Glückwünschen bestürmt wurde, da ertrug er es nicht mehr, sein blutendes, qualzerrissenes Herz unter die Menschen zu tragen, er floh hinaus in die tiefe Waldeinsamkeit, in das stille, weltentlegene Forsthaus – und dort hat er gearbeitet, Tag und Nacht, um im Schaffen zu vergessen –! Und er vergaß seinen Groll, seine Bitterkeit, er vergaß die grausamen Worte, welche Severa ihm gesagt, aber die süße Kinderstimme voll Trost und Mitleid, die vergaß er nicht.

Im Gegenteil, wie sich der Regenbogen als ein Zeichen des Friedens über den düsteren Gewitterhimmel spannt und desto leuchtender hervortritt, je dunkler der Grund ist, auf welchen Gottes Gnade ihn stellt – so traten Wort und Bild des fremden Mädchens immer deutlicher vor sein seelisches Auge, je mehr sich der Sturm legte, je ruhiger es in seinem finstern Herzen ward.

Wer war sie?

Ein Gefühl inniger Dankbarkeit regt sein Interesse an, mit Bedauern denkt er daran, daß es in einer Großstadt wohl unmöglich ist, zwei Damen aus der Menschenflut herauszufinden.

Hinter ihm klingt der scharfe, kurze Hufschlag eleganter Kutschpferde.

Eine Equipage rollt in flottem Tempo heran, und Manfred, welcher nicht gern den Straßenstaub atmet, tritt hinter die Erlenbüsche am Weg, den Wagen vorüber zu lassen.

Er steht ausruhend und schaut durch die flüsternden Zweige auf die herrlichen Rappen, auf welchen reiche Silbergeschirre mit vielpunktiger Krone und Namenszug blitzen, er streift mit dem Blick den Kutscher und Bedienten und schaut auch in den Wagen hinein.

Einen Augenblick, dann zuckt er empor, wie ein leiser Laut höchster Betroffenheit ringt es sich von seinen Lippen.

Der Wind verweht ihn ungehört.

Dort im Wagen – das weiche, freundliche Gesichtchen, welches sich just mit leuchtenden Augen über einen köstlichen Rosenstrauß neigt und über die Schönheit der einzelnen Blüten zu reden scheint – und daneben die blasse, ältliche Dame mit dem unverkennbar englischen Gesichtsschnitt – –

Sie sind es! – Es ist keine Täuschung! Sie sind's!

Ist seine Begegnung mit den Damen im Park schon sehr eigenartig gewesen, – dieses unverhoffte Wiedersehen grenzt geradezu an ein Wunder! Jetzt, gerade in diesem Augenblick, wo er ihrer so lebhaft gedenkt, führt sie der Zufall abermals in seine Nähe!

So etwas passiert sonst nur in Romanen, aber nicht in dem öden, prosaischen Leben, welches für gewöhnlich nur alle schönen Träume zerstört, anstatt sie zu verwirklichen!

Wie wunderbar!

Manfred weiß selber nicht, was er tut, als er voll beinahe nervöser Hast auf sein Rad springt und dem Wagen in flottestem Tempo folgt.

Was will er eigentlich?

Sie einholen? – Anreden?

Nimmermehr, dazu ist er viel zu feinfühlig, viel zu bescheiden!

Aber sehen will er, wohin sie fahren, ihnen folgen und auskundschaften, wo sie wohnen. Ob sie ein Sommerquartier in der kleinen Stadt bewohnen? oder ob sie nur den weiten Umweg machen und durch den Buchwald und Park nach der Residenz zurückkehren? Seine Augen leuchten so hell, wie seit Wochen nicht mehr, als er der Equipage in angemessener Entfernung folgt und zum erstenmal seit Severas Verheiratung einen Gedanken wieder voll Interesse ausspinnt!

Schon tauchen die kleinen Vorstadthäuschen aus dem Frühlingsgrün vor ihnen auf.

Ein alter Chausseearbeiter scheint den eleganten Wagen schon zu kennen, – er richtet sich von der Arbeit auf und hebt die Hand grüßend an die verblichene Soldatenmütze!

Die Damen grüßen sehr freundlich und lebhaft wieder, und der Gesichtsausdruck des Alten beweist es, daß er nicht zum erstenmal ein Grüß Gott! mit ihnen wechselt.

Nun geht es hinein in die breite Straße mit dem holprigen Pflaster und den niedrigen, weißgetünchten Häuschen rechts und links. Vor den Fenstern, auf grünen Simsen nicken Nelken und Hirtentäschel, und in der Haustür hocken die Kinder, sitzt gravitätisch das schwarze Spitzel und folgt dem Wagen nur mit kritischen Blicken, ohne ihm kläffend zu folgen.

Wohin fährt denn der?

Nicht geradeaus durch die Hauptstraße nach dem Feldweg, welcher zum Buchwald führt, sondern seitlich biegt er ein in die Kastanienallee, an deren Ende das Haus liegt ... jenes Haus ...

Unwillkürlich verlangsamt Manfred das Tempo und folgt mit beinah starrem Blick dem voransausenden Gefährt ... dort ... noch zwei Häuser weiter ... ah! unmöglich!

Der junge Maler springt von dem Rad und steht einen Augenblick fassungslos, in stummes Schauen versunken.

Wahrlich, seine unbekannten Samariterinnen scheinen das Ziel ihrer Fahrt erreicht zu haben, und dies ist das Haus seiner Tante Hoff.

Der Wagen hält, – der Diener springt vom Bock und reißt den Schlag auf, aber ehe die Damen noch aussteigen können, springen Hans und Ludolf, die beiden jüngsten Vettern, aus dem Garten, strecken helfend die Hände aus und begrüßen die Ankommenden mit einer so stürmischen Herzlichkeit, wie Manfred sie noch nie bei den scheuen, verlegenen Buben gesehen hat!

Hans schiebt sogar sehr ungeniert seinen Arm in den der jungen Dame und zieht sie im »Sturmgalopp« nach der Haustüre, Ludolf hat verschiedene Pakete entgegengenommen und steht höflich wartend neben der Engländerin, welche dem Kutscher einen Befehl zu erteilen scheint.

Und inzwischen wandern Ludolfs scharfe Augen umher und haften plötzlich auf dem Radler, welcher noch immer steht und das Unbegreifliche mit großen Augen anstarrt.

»Holla, Manfred! – Manfred!! Endlich einmal wieder!« klingt es in hellem Jubel von des Tertianers Lippen, er springt noch einen Schritt weiter auf die Straße vor und schwenkt dem Vetter grüßend eines der weißen Pakete entgegen.

Manfred zuckt zusammen.

Er hat das Gefühl, blutrot zu werden, wie ein keckes Büblein, welches beim Kirschenplündern ertappt ist.

Was soll er tun?

Harmlos, ganz harmlos erscheinen.

Er wollte sich einmal nach dem Befinden der Tante erkundigen, in deren Hause er so viel Gutes erfahren, – ist das verwunderlich?

Gewiß nicht.

Er hat wohl mehr Berechtigung hier einzukehren wie jene fremden Damen, welche gewiß gute Bekannte von Severa aus der Hofgesellschaft sind!

Er erwidert den Zuruf Ludolfs durch ein schnelles Winken und muß wohl oder übel näherschreiten.

Die Engländerin hat überrascht den Kopf gewandt und schaut ihm mit merkbar kurzsichtigen Augen entgegen, auch Hans hat sich in der Haustüre umgewandt und hält Ethel jählings zurück.

»Da kommt Manfred! – Faktisch, Manfred!« stößt er kurz hervor, und dann fuchtelt er mit dem schlacksigen Arm durch die Luft und ergeht sich in einem schauerlich schönen Jodler, bei dessen hohem Ton die Stimme, welche just im Wechsel begriffen ist, bedenklich überschnappt.

Ethel steht einen Augenblick wie angewurzelt. Auch in ihr zartes Gesichtchen steigt es heiß und rot empor.

»Manfred ...« wiederholt sie leise, »dein Vetter Manfred Hoff, welcher Severa malte?«

Die Frage ist sehr überflüssig, denn schon hat der Genannte den Hut vor Miß Maud gezogen und begrüßt sie in seiner gewinnenden Weise.

Ethel hat Zeit, seine Züge zu erkennen, dieses so sehr sympathische Gesicht, welches sie nicht vergessen hat!

Nun wendet er sich und eilt mit schnellen Schritten durch den kleinen Vorgarten, während Hans sich auf das Rad stürzt und mit flehender Stimme ruft: »Du bleibst doch ein paar Stunden bei uns, Manfred? Bis zum Kaffee hat es gut noch eine halbe Stunde Zeit, ich radle derweil mal ins Holz hinaus! – Weißt ja, daß es meine größte Freude ist!«

»Ja, das weiß ich!« lacht Manfred zurück. »Aber halt, du Straßenräuber! Heute habe ich keine Zeit ...«

»Papperlapapp!!« Eine übermütige Grimasse, und dahin saust Freund Hans, um im nächsten Augenblick hinter der Schlehdornhecke zu verschwinden.

»Also regelrecht zum Gefangenen gemacht!« scherzt Manfred und verneigt sich in seiner ritterlichen Weise vor Ethel. »Ich weiß nicht, mein gnädiges Fräulein, ob Sie sich meiner noch entsinnen? Wenn nicht, bin ich doppelt erfreut, unsere so flüchtige Bekanntschaft im Park noch einmal auffrischen zu können!«

Ethel hat ihm in unbefangenster Freude die Hand entgegengereicht.

»Ob ich mich Ihrer noch entsinne? O, fragen Sie Miß Maud, wieviel wir an Sie gedacht und von Ihnen gesprochen haben!« lächelt sie ihm voll entzückender Treuherzigkeit entgegen, und Manfreds Blut wallt abermals heiß empor und in seinen Augen steht es ganz deutlich, daß er dem Hans durchaus nicht zürnt, weil er ihn zum Gefangenen machte.

»Sie beschämen und beglücken mich zu gleicher Zeit, mein gnädiges Fräulein!« antwortet er mit warmem Händedruck. »Wenn Sie meine neuesten Bilder mit demselben tiefgehenden Interesse anschauten, wie ehemals den ›Studienkopf‹, so begreife ich wohl, daß mir ein Plätzchen in Ihrem Kunstleben gesichert war! – Sie beabsichtigen – ebenso wie ich – Tante Klärchen zu besuchen?«

»Tante Klärchen? Das ist Frau Hoff wohl nur für Sie ...«

»Auch die Freundschaft bedient sich oft dieses trauten Titels!«

Ethel lächelt ein wenig erstaunt: »Das wohl, aber ich glaube, Großmama hat wenig Freunde hier und in der Residenz!«

»Großmama?«

Er neigt sich vor, als habe er nicht recht gehört.

Miß Maud steht neben ihnen und schlägt wie in jähem Schreck die Hände zusammen.

»O – Sie wissen noch gar nicht, wer wir sind? Ich habe unsere Namen im Park nicht genannt? Das kam nur durch das so ungewöhnliche Kennenlernen! – Und auf der Hochzeit waren Sie ja auch nicht! – O, Ethel – Herr Hoff erfuhr es noch gar nicht, daß du die Stieftochter seiner Cousine geworden bist!«

»Fräulein von Tempelburg?!« – Wie ein leiser Aufschrei, rauh und erschreckt, klingt es von seinen Lippen.

»Natürlich, meine Nichte Ethel!« ruft Ludolf, sich voll Humor in die Brust werfend, »Menschenkinder! kommt ihr denn beide aus dem Mustopf, daß ihr euch jetzt erst, hier zwischen Tür und Angel kennen lernt?«

Dieser Tertianerscherz wirkt wie erlösend auf Manfred.

Er hört das lustige Lachen, er sieht in Ethels strahlende Augen und hört, wie sie in ihrer kindlichen Weise jubelt: »Und weil Frau Hoff meine Großmama geworden ist, sind Sie nun auch mit mir verwandt, und ich habe ein Recht, sehr stolz auf den berühmten Vetter zu sein ... und wir dürfen künftighin all Ihre Bilder noch viel eher und länger sehen, wie alle fremden Menschen?«

Wie ist es möglich, daß der Schatten, welcher sich so jäh verdunkelnd vor seine Augen legte, diesem leuchtenden Blick standhält?

Er zerrinnt und verweht und das Herz, welches momentan so schmerzlich zusammenzuckte, schlägt desto höher und wärmer in der Brust, als er die dargebotene kleine Hand zum zweitenmal erfaßt und sie an die Lippen zieht.

»Wenn Sie mich zu den Ihren rechnen wollen, Fräulein Ethel, werde ich stolz und glücklich sein!« sagt er schlicht. »Daß wir stets treue und gute Freunde sein werden, davon bin ich schon jetzt überzeugt!«

Droben knarrt die Balkontüre und die Rätin neigt sich über das Holzgeländer.

»Ist ein Eisenbahnunglück passiert, daß kein Mensch bei mir ankommt?« ruft sie heiter herab. »Wenn Maxel nicht so sehr dagegen wäre, hätte ich den Kaffee schon in den Garten geschickt!«

Manfred schwenkt den Hut empor!

»Nein, Tante, Glück! lauter Glück! So wie heute habe ich es dir noch niemals ins Haus gebracht!«

Die Rätin reißt die Augen weit auf.

»Manfred! – Das nenne ich in der Tat eine freudige Überraschung! Wie lange schon habe ich dich herbeigewünscht, um dir zu zeigen, welch eine beneidenswerte Großmutter ich geworden bin! – Schnell herauf mit euch! Dies ist wahrlich ein Glückstag und muß gefeiert werden!«

* * *

Welch ein Rätsel ist doch ein Menschenherz!

Aus wieviel tausend Widersprüchen ist es zusammengesetzt, wie hilflos schwach ist es oft in Stunden, wo es wähnte stark zu sein, wie genügt ein Hauch, um seine stolzesten Vorsätze gleich einem Kartenhaus über den Haufen zu werfen, wie lehnt es sich oft so wild und verzweifelt gegen etwas auf und fügt sich plötzlich so lind und mild der Hand des Geschicks, welche es just auf den Weg zwingt, den es glaubte nie und nimmer gehen zu können!

Wie oft hatte Manfred in verzweifelter Stimmung geglaubt, es sei ihm für ewige Zeit unmöglich geworden, je wieder das Haus der Tante zu betreten, jene Räume wieder zu sehen, wo er ehemals in junger Liebesseligkeit so glücklich war. Er wähnte den grausamen Umschwung der Verhältnisse nie ertragen zu können, er war überzeugt davon, daß Weh und Herzeleid, Zorn und Erbitterung nie leidenschaftlicher hervorbrechen könnten als dort, wo alles und jedes ihn an die Größe seines Verlustes gemahnte.

Und nun saß er plötzlich wieder an dem trauten, alten Platz im kleinen Zimmerchen, – die Uhr tickte so hell und eilig wie je zuvor, die Blumen blühten noch ebenso an den Fenstern und von der Wand lächelte der Urgroßvater unter der mächtigen Allongeperücke noch genau so freundlich auf ihn herab, wie damals, als Severa neben ihm saß, und ihre kühle, schlanke Hand die seine voll heimlicher Zärtlichkeit drückte!

Das schöne Antlitz weilt fern, fern von hier. Severa hat ihn um eines andern willen treulos verlassen, und dennoch sitzt er am alten Platz, und sein Herz weiß nichts von Groll und Haß und Zorn.

Im Gegenteil, es schlägt so warm und friedlich in seiner Brust, es wird so hell und weit, so oft der Blick des jungen Künstlers das liebe Kindergesicht anschaut, welches ihm just so fromm, so gut und schlicht entgegenlächelt, wie er es bei der schönen Cousine so heiß ersehnte, ohne es je erreichen zu können.

Ist er es, der so völlig verwandelt ist, oder ward hier im Hause alles so neu und anders, so fröhlich und friedlich, als habe ein guter Geist Einkehr gehalten?

Wie heiter und glücklich schaut die ernste, vergrämte Frau plötzlich in die Welt! Wie sind die Buben, die sonst nur scheu und gedrückt nach der Schwester übellaunigem Antlitz schauten, »ob ein neues Wetter heraufziehe«, so aufgetaut, so fidel und gesprächig, so voll Übermut und Begeisterung für die liebe, neue »Nichte!«

Selbst Maxels blasses Gesicht schaut lebhafter drein, und der unerklärliche Schatten, welcher oft so trübselig über seinen Augen liegt, weicht für kurze Zeit.

Wie gemütlich, wie traulich ist es in dem erst so öden, kalten Haus geworden.

Ethel hat so viel Sinn für Poesie und Anmut. Ihr duftiger Blumenstrauß ziert den Tisch, sie selber hat ihn so sorgfältig und hübsch gedeckt, ohne die Falte zwischen den Brauen zu zeigen wie Severa, welche derartige Hilfeleistungen so bitter haßte.

Wie gut kennt Ethel schon den Weg zur Küche, wie anspruchslos und emsig schafft sie darin, der Großmutter hilfreich zur Hand zu gehen.

Ethel von Tempelburg! die reiche Erbin! – Die Tochter eines Mannes, dessen Namen und Stellung ihr alles bieten, was das Herz eines jungen, verwöhnten, eleganten Mädchens nur wünschen kann!

Wünschen kann – und es doch nicht wünscht! Miß Maud hat ihre holde Pflegebefohlene gar trefflich erzogen.

Nicht die reichen Geistesgaben hat sie in erster Linie ausgebildet, sondern Herz und Seele, dahinein hat sie goldenen Grund gelegt, hat aus Demut, Frömmigkeit und Edelsinn ein Fundament gebaut, auf welchem nun alles Schöne und alles Wissen wie glänzende und dennoch schlichte Säulen fest und sicher emporragen.

Manfred kann nicht müde werden, diese seltene Erscheinung zu bewundern.

Noch sieht nur das Auge des Künstlers und des guten Menschen die holde Eigenart dieses jungfräulichen Kindes, sein Herz schlägt ihr voll warmer Rührung entgegen, ohne jedoch eine Spur von tieferem Empfinden, ohne nur einmal den Gedanken zu streifen: Wie glücklich der Mann, dem sich solch ein golden Herz zu eigen gibt!

Nur wie ein linder Balsam auf tiefer Wunde wirkt der unbewußte Zauber Ethels auf sein krankes Herz.

Die weiche, sanfte Stimme singt dem Sturm in seinem Innern ein Wiegenlied.

Severas Namen wird genannt, Ethel erzählt von den zahllosen Vergnügungen, über welche die neue Mama so begeistert schreibt.

Wie ruhig bleibt es dabei in Manfreds Brust.

»Möchten Sie nicht an all dem Schönen und Prächtigen teilnehmen und sich mit den lebensfrohen Menschen amüsieren?« fragt er.

Ethel schüttelt beinahe erschreckt das Köpfchen. »Ach nein! Das hat Gottlob auch noch lange Zeit! Ich habe noch viel zu lernen, ehe ich ausgeführt werden kann!«

»Sie wünschen es sich nicht?«

»O nein! Schöner wie jetzt kann mein Leben niemals werden! Ich habe Miß Maud so lieb, und meine beste Zeit wird es stets sein, mit ihr zusammen zu leben und zu wirken, so wie es nur im stillen möglich ist!«

Manfred nickt mit glänzendem Blick – er hatte keine andere Antwort erwartet.


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