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Dr. Staps nahm noch am selben Abend von seiner Sekretärin einen zusammenfassenden Bericht entgegen über das, was ihr während ihres Aufenthaltes bei Kattners bemerkenswert erschienen war:

1) Nach Erhalt des letzten Drohbriefes hat Rita Kattner eine ernsthafte Rücksprache mit ihrem Verlobten gehabt. Hiernach hat Rita einen erneuten Vorschlag Nissens, die Verlobung aufzulösen, auf das entschiedenste zurückgewiesen. Die Auflösung der Verlobung sollte die Drohung hinfällig machen. Brade ist sich nicht klar, ob diese Ablehnung aus Trotz stammt oder ob Rita Kattner Nissen wirklich liebte, wie Brade überhaupt die Einstellung Ritas zu ihrem Verlobten nicht hat feststellen können.

2) Brade hat sämtliche Personen des Falles Kattner kennengelernt und die Charakteristik gegeben, die sich aus ihrer anliegenden Notiz ergibt. Danach ist keinem »anzusehen«, ob er sich zum Mörder eignet.

3) Brade ist am Sonntag mit dem Freundeskreis zusammen gewesen und hat sich durch ein Gesellschaftsspiel die Schrift aller verschafft. Keine dieser Schriften hat Ähnlichkeit mit der Schrift des Gläubigers.

*

Der Tag nach dem Tode Rita Kattners stand unter dem Zeichen zahlloser Vernehmungen, die, wie es den damit beschäftigten Personen schien, überhaupt nie ein Ende nehmen würden.

Bereits um acht Uhr früh saßen Kommissar Förster, Inspektor Lehmann, Dr. Staps und Ilse Brade im Amtszimmer des Leiters der Mordkommission beisammen. Zunächst wurde wieder die Lage besprochen, es war im wesentlichen eine Wiederholung der gestrigen Unterhaltung zwischen Förster und Staps.

Neu waren drei Unterlagen, die anzeigten, daß der Gang der Bearbeitung nunmehr in amtlichen Händen lag, was aber den kleinen Professor in keiner Weise hinderte, seine Untersuchungen auf eigene Faust weiterzubetreiben. Er würde sich auch bestimmt nicht verpflichtet haben, dem Kommissar über alles Rechenschaft abzulegen, was er unternahm und was er erzielte. Aber Förster rechnete sowieso nicht mit Staps' restloser Offenheit. Es hatte von jeher eine Art freundschaftlichen Wettbewerbs zwischen ihnen bestanden, wer wohl am ehesten am Ziel sein würde.

Dabei wahrte aber Staps die Form, indem er dem Kommissar von seinen Ermittlungen unterrichtete, allerdings nur, soweit er dies für gut hielt. Förster wußte das, doch er tat, als wäre er Staps für seine Mitteilungen dankbar. Dafür behielt er von seinen Untersuchungen das Wesentliche auch für sich.

Eben überreichte Dr. Staps dem Kommissar die Notizen, die er und seine Sekretärin in der vergangenen Nacht über die Beobachtungen niedergelegt hatten, die Ilse Brade bei ihrem Beisammensein mit der Ermordeten gemacht hatte. Auch das persönliche Urteil der Sekretärin war angefügt.

Außerdem lag – ebenfalls von Staps überreicht – ein Gutachten von Professor Dr. Ewald vor, der die Schrift des Gläubigers mit den Schriften der beteiligten Personen verglichen und festgestellt hatte, daß keine einzige mit der des Gläubigers übereinstimmte.

Staps war anderer Ansicht, aber er behielt seine Meinung für sich. Förster würde sowieso dem Gutachten Professor Ewalds den Vorzug geben und sich nicht auf Staps' graphologische Erklärungen verlassen.

Weiter war der Sektionsbericht eingegangen. Er bestätigte die Vermutung Ilse Brades, daß der Tod durch Blausäure herbeigeführt worden sei.

Endlich hatte der Gerichtschemiker auf die Bitte des Kommissars noch in der Nacht eine Analyse der Wundsalbe gemacht, die ergab, daß der Porzellantopf bis etwa zur Hälfte mit einer bekannten Schönheitscreme gefüllt war, der obere Teil dagegen eine starke Beimischung von Blausäure enthielt.

Über alle diese Schriftstücke hatte man gesprochen und Kriminalkommissar Förster faßte nun zusammen:

»Die schriftlichen Unterlagen helfen uns in keiner Weise weiter. Sie weisen höchstens auf das hin, was wir ausschalten können und womit wir uns keine Arbeit zu machen brauchen:

1) Es ist überflüssig, nach dem Geschäft zu suchen, in dem sich der Gläubiger das unverfälschte Schönheitsmittel besorgt hat, dem er dann die Blausäure zugesetzt hat. Denn diese Salbe gibt es in jedem Geschäft zu kaufen, das mit solchen Dingen handelt, und wir können den Käufer nicht beschreiben.

2) Wir brauchen uns nicht bevorzugt mit den Personen zu beschäftigen, die Zugang zu Blausäure haben oder sie auf Grund ihrer Fachkenntnis bequemer herstellen können als andere. Denn der Chemiker sagt in seinem Gutachten, daß jeder Laie dies kann, wenn es auch nicht gerade einfach ist. Wir müssen also alle, die für eine Verdächtigung in Frage kommen, über einen Kamm scheren.

3) Die Schrift des Gläubigers weist auf keine der uns bekannten Personen hin.

Sind Sie damit einverstanden, daß wir zunächst jedem die Tat unterstellen, der mit Rita Kattner in näherer Verbindung stand, und nach und nach diejenigen ausscheiden, die nach unserer Überzeugung nicht in Frage kommen?«

Der Kommissar sah so selbstsicher drein, als wolle er von vornherein jeden Widerspruch im Keime ersticken. Nun waren zwar weder Dr. Staps noch Inspektor Lehmann oder Ilse Brade Menschen, die dazu neigten, sich beeinflussen oder beirren zu lassen. Da jedoch der vorgeschlagene Weg wirklich praktisch war, so konnte Förster ein allgemeines, überzeugtes Nicken entgegennehmen.

»Schön! Ich habe den weiteren Gang unserer Arbeit so vorbereitet, daß wir jetzt einen der Verdächtigen nach dem anderen vernehmen und anschließend unsere Meinung über ihn austauschen. Einverstanden?«

Abermaliges Nicken.

»Noch eine Frage, ehe wir anfangen! Sie, Fräulein Brade, sind die einzige von uns, die alle Mitspieler persönlich kennt. Ist einer darunter, der nach ihrer Ansicht unsere Aufmerksamkeit mehr verdient als die andern?«

»Nein, Herr Kommissar! Es sind durchweg nette Leute, von denen keiner in besonders günstiger oder ungünstiger Weise hervorragt.«

»Und doch muß der Mörder unter ihnen sein. Denn der Gläubiger war überraschend gut unterrichtet. Er muß zu den näheren Bekannten der Ermordeten gehört haben. Außerdem läßt die Tatsache, daß sich der letzte Brief in der Handtasche der Ermordeten vorfand, vermuten, daß er ganz besonders gut mit ihr bekannt war. Ein völlig Fremder würde es kaum gewagt haben, sich an ihrer Handtasche zu schaffen zu machen. Und jetzt wollen wir anfangen. Sie sind doch einverstanden, Professor, daß ich bei der Vernehmung die Auskünfte mit verwende, die Sie mir freundlicherweise vermittelt haben?«

»Selbstverständlich, Kommissar!« krächzte Staps belustigt. Er freute sich, daß Förster nicht restlos unterrichtet war.

»Natürlich bitte ich Sie, auch Ihrerseits Fragen zu stellen, wenn ich nicht vollständig sein sollte«, bat der Kommissar.

Nach diesen Vorbereitungen bat er seinen Inspektor, die alte Lina hereinzurufen, die als erste auf der Liste stand.

Die Wirtschafterin sah blaß und müde aus, war aber ruhig. Nachdem sie sich gesetzt hatte, ließ sich der Kommissar ihre Personalien geben. Danach hieß sie Lina Elisabeth verw. Winter geb. Weine und war dreiundsechzig Jahre alt.

»Sie haben uns gestern abend schon gesagt, daß Fräulein Rita am Freitag früh die Probesendung mit der Hautcreme zuging, Frau Winter, und wir wissen auch, daß sie öfters solche Musterpäckchen erhielt. Kamen diese Sendungen immer von derselben Firma?«

»Nein, Herr Kommissar. Sie kamen von verschiedenen Geschäften. Ich hätte nicht darauf geachtet, aber Fräulein Rita hat es mir erzählt.«

»Wie standen Sie sich mit Fräulein Rita?«

Die Alte empfand diese Frage als einen Angriff. Sie richtete sich kerzengerade auf und ihre schwarzen Augen funkelten den Kommissar an.

»Ich hatte mein Fräulein sehr gern«, antwortete sie kurz, besann sich dann aber, daß der Herr ja wahrscheinlich keine Ahnung hatte, wie schön es sich im Hause Kattner gelebt hatte und wie gut der Herr und Fräulein Rita gewesen waren. Darum setzte sie nach einer Weile hinzu: »Herr Kattner und Fräulein Rita waren sehr gute Menschen. Es ist unmöglich, daß es jemand gibt, der sie nicht gern gehabt hat. Ich bin über zwanzig Jahre in dieser Stellung gewesen, und nie ist ein böses Wort gefallen. Ich wäre auch niemals gegangen, wenn ...« Sie unterdrückte ein Aufschluchzen.

Da Förster merkte, daß die Alte nicht ganz einfach zu behandeln war, und er sie nicht kopfscheu machen wollte, nickte er Ilse Brade zu, die neben der Frau saß und ihre Hand streichelte, und hörte zufrieden, wie das junge Mädchen murmelte:

»Lina, seien Sie doch ruhig! Wir wollen alle helfen, den bösen Menschen zu finden, der das Verbrechen beging und Ihnen Fräulein Rita nahm!«

Die alte Lina nickte. »Ja, ja! Schon gut, Fräulein Ilse!«

Förster legte sein Gesicht in die freundlichsten Falten und fragte weiter:

»Ich habe schon gehört, Frau Winter, daß Fräulein Rita sehr an Ihnen hing und daß Sie ihr so halb und halb die Mutter ersetzt haben. Und jetzt muß ich Ihnen eine Frage vorlegen, die Sie mir nicht gleich wieder übelnehmen dürfen. Hatte Fräulein Rita irgendwelche Schulden an Sie?« Förster sah die vor Verblüffung weit aufgerissenen Augen der alten Lina und fügte daher hinzu: »Gerade weil Sie beide so gut zueinander standen, Frau Winter, wäre es doch möglich, daß Sie Fräulein Rita, wenn sie mal kein Geld hatte, ausgeholfen hätten.«

»Aber nein, Herr Kommissar!« Die Alte fuchtelte mit beiden Händen in der Luft herum. »Das ist ein ganz dummer Gedanke, und man sieht, daß Sie unser Fräulein nicht gekannt haben.«

Die Alte taut auf, dachte Förster erheitert, weit entfernt davon, sich ihre urwüchsige Kritik zu verbitten.

»Nein, Herr Kommissar!« sagte Lina noch einmal nachdrücklich. »Im Gegenteil! Fräulein Rita hat mir so viel geschenkt, daß es mich manchmal genierte, es anzunehmen. Was hat sie mir alles gegeben! Geld, Kleider, einmal eine schöne warme Wolljacke, ein andermal weiche, warme Kamelhaarschuhe. Fräulein Rita und Schulden an die alte Lina – nein, Herr Kommissar!«

»Das wäre, glaube ich, alles!« sagte Förster und sah sich fragend im Kreise um.

Da krächzte Staps:

»Hat Ihnen Fräulein Kattner irgend etwas darüber gesagt, Frau Winter, wen sie sich unter dem Gläubiger vorstellte?«

Kattners Wirtschafterin sperrte den Mund auf und sah den kleinen Professor dumm an. »Gläubiger? Wer soll denn das sein?«

Staps warf einen kurzen Blick zu seiner Sekretärin, und Ilse Brade gab ihm durch eine Kopfbewegung zu verstehen, daß die alte Lina über die einzelnen Vorgänge nicht unterrichtet worden war. Darum erklärte er:

»Sie wissen doch, Frau Winter, daß Fräulein Rita in der letzten Zeit ein paar Briefe bekommen hat, die sie sehr beunruhigten, von denen sie nicht wußte, von wem sie kamen?«

Die Alte nickte.

»Nun, der Absender war zu feige, um seinen Namen unter seine dreckigen Schriftstücke zu setzen, und nannte sich ›Der Gläubiger‹. Und jetzt werden Sie meine Frage verstehen: Hat Ihnen Fräulein Rita irgendwann einmal gesagt, daß sie zu wissen glaube, wer ihr diese Briefe schrieb?«

»Nein, Herr ...! Fräulein Rita hat mir nichts darüber erzählt. Ich habe sie oft gefragt, was sie eigentlich habe. Schließlich habe ich ja Augen im Kopf und habe wohl gemerkt, daß mit Fräulein Rita etwas nicht stimmte. Aber sie hat mir nie erzählt, weshalb sie in der letzten Zeit so ernst und unruhig war.«

Es trat eine kleine Pause ein, und als sich niemand mehr zum Wort meldete, sagte der Kommissar verabschiedend: »Ich danke Ihnen für Ihre Auskunft, Frau Winter! Der Inspektor hat niedergeschrieben, was Sie ausgesagt haben, und wird es Ihnen vorlesen, und Sie werden Ihren Namen daruntersetzen, wenn alles richtig ist.«

Die alte Lina hörte aufmerksam zu, und als Lehmann fertig war, malte sie sorgfältig ihren Namen darunter.

Dann stand sie fragend vor dem Schreibtisch.

Kommissar Förster nickte ihr freundlich zu. »Auf Wiedersehen, Frau Winter, und schönen Dank!«

»Auf Wiedersehen, Herr Kommissar!« Lina machte einen kleinen Knicks, den sie durch eine geschickte halbe Drehung auf alle Anwesenden bezog, wandte sich und ging hinaus.

Es lag ein freundliches, versonnenes Lächeln auf den Gesichtern der Zurückgebliebenen; die alte Lina hatte einen guten Eindruck gemacht.

»Sie haben wirklich eine nette Art, die Leute zu vernehmen, Kommissar, das muß ich immer wieder feststellen«, krächzte Staps. »Sie erreichen damit alles, was Sie wollen, und darum beneide ich Sie. Ich könnte es nicht!«

Förster lachte auf. »Das brauchen Sie mir nicht erst zu sagen, Professor. Sie mögen zwar bei Ihren Befragungen mit den letzten psychologischen Feinheiten vorgehen, aber Ihr Temperament spielt Ihnen wohl hin und wieder einen Streich.«

Staps' eben erwähntes Temperament war wirklich ununterdrückbar. Schon öffnete er den Mund zu einer geharnischten Erklärung, als seine Sekretärin ihm zuvorkam, um einer langen Auseinandersetzung zwischen den beiden befreundeten Gegnern vorzubeugen. Auch sie hatte erforderlichenfalls eine spitze Zunge, vor allem wenn ihr Chef angegriffen wurde. Sie sagte halblaut, mit dem liebenswürdigsten Gesicht, über das sie verfügte:

»Es ist nur gut, Herr Kommissar, daß Dr. Staps mit seiner Methode ebenso gute Erfolge aufzuweisen hat wie Sie!«

Der Kommissar lachte begeistert auf, und der Frieden war gerettet, wie aus seinen Worten zu entnehmen war: »Sie hätten Verteidiger werden sollen, Fräulein Brade. Sie hätten jeden Angeklagten freibekommen! Nichts für ungut, liebe Privatsekretärin unseres hochgeschätzten Dr. Staps! Wir vom Polizeipräsidium wissen ganz genau, welche Konkurrenz wir leider an ihm haben. Aber nun zur Sache! Ich glaube, wir können mit gutem Gewissen die alte Lina als Täter ausschalten. Sie mag eine gute Portion Bauernschlauheit haben. Ich halte sie aber für unfähig, so vorzugehen, wie es der Gläubiger getan hat. Es gehört städtische Verschlagenheit dazu, auf den Gedanken der vergifteten Hautcreme zu verfallen. Außerdem ist Frau Winter sicherlich außerstande, eine Schrift zu fabrizieren wie die des Gläubigers. Als Bäuerin – Lina ist ja, wie uns Fräulein Brade erzählt hat, die Tochter eines Kleinbauern – ist sie viel zu mißtrauisch und auf sich selbst gestellt, um einen Dritten in eine solche Sache hereinzuziehen und sich ihm anzuvertrauen. Also hat auch nicht jemand anderes für sie die Drohbriefe geschrieben. Als letztes möchte ich, allerdings mehr gefühlsmäßig – was einem Polizeibeamten strengstens untersagt ist – behaupten, daß Lina Winter viel zu treu an Rita Kattner gehangen hat, um ihr das geringste anzutun. Was meinen Sie zu meinen lichtvollen Ausführungen, Staps?« Es fiel dem Kommissar sehr schwer, nicht hinzuzufügen, daß des Professors Urteil als gelernter Psychologe sicher zuverlässiger sei als sein eigenes, nur kriminalistisches. Doch man wollte ja schließlich vorwärtskommen.

»Gut, Förster! Einverstanden!« knurrte Staps, immer noch nicht ganz versöhnt.

»Leider ergibt sich aus der Aussage Linas auch nichts, was uns weiterbringt«, schloß der Kommissar. »Bitte, Lehmann, rufen Sie uns Herrn Nissen herein.«

Jetzt saß also der Fabrikant auf dem Zeugenstuhl.

Personalien: Horst Alfred Nissen, achtundzwanzig Jahre alt, Fabrikbesitzer, wohnhaft Nürnbergerstraße 68, Verlobter der Ermordeten.

»Herr Nissen, es tut mir sehr leid, daß ich Sie so bald nach dem schweren Verlust, der Sie gestern betroffen hat, herbitten mußte. Aber Sie werden verstehen, daß es unvermeidlich war.«

»Selbstverständlich, Herr Kommissar!« Nissen saß ruhig da. Er schien auch jetzt seine kaufmännische Sachlichkeit und die ihm eigene Farblosigkeit nicht ablegen zu können, und Ilse Brade fragte sich wieder einmal, ob denn dieser Mann Rita Kattner geliebt habe, ja, ob er überhaupt lieben könne.

Förster gab ihm an Sachlichkeit und Trockenheit nichts nach und bewies damit die von Staps gerühmte Geschicklichkeit bei seinen Vernehmungen.

»Seit wann waren Sie mit Fräulein Kattner verlobt, Herr Nissen?«

»Seit acht Monaten ungefähr.«

»Sie haben Fräulein Kattner anläßlich der Drohbriefe die Entlobung angeboten. Weshalb taten Sie das?«

Nissen blieb unbeweglich. »Weil ich darin eine Möglichkeit sah, Fräulein Kattner die Unannehmlichkeit dieser Briefe zu ersparen. Nach dem vierten Brief habe ich meinen Vorschlag in eindringlichster Form wiederholt, weil ich keinen andern Weg sah, die Gefahr abzuwenden.«

»Entschuldigen Sie die folgende Frage, Herr Nissen – liebten Sie Ihre Braut?«

Ilse Brade spitzte die Ohren.

Das Gesicht des Fabrikanten wurde ablehnend. »Ich kann keinen Zusammenhang zwischen dieser Frage und der Suche nach dem Mörder sehen.«

Dem Kommissar war diese Zurückweisung sympathisch, er schätzte es durchaus nicht, wenn die Zeugen ihre Gefühle vor ihm ausbreiteten. Trotzdem ...

»Ich bedaure, ich muß auf der Antwort bestehen.«

Nissen konnte in dem Gesicht des Kommissars nur Höflichkeit und Sachlichkeit finden, keine sture Hartnäckigkeit. Da er empfand, daß der Beamte einen Grund haben mußte, die Beantwortung seiner Frage zu verlangen, so erwiderte er:

»Ja, ich liebte Fräulein Kattner. Deshalb wollte ich unsere Verlobung auflösen, sah ich doch darin die einzige Möglichkeit einer Rettung. Ob Fräulein Kattner mich liebte, vermag ich nicht zu sagen. Ich nehme es aber an, denn sie hatte keine andere Veranlassung, sich für mich zu entscheiden. Sie war reich.«

Der Kommissar machte eine kleine Verbeugung. »Ich danke Ihnen für die Auskunft, Herr Nissen! Wer außer Ihnen bemühte sich noch um Fräulein Kattner?«

»Dr. Glaß, Nedwal und Ruh haben mir mitgeteilt, daß sie sich für meine Verlobte interessierten.«

»Interessierten?« fragte Förster gedehnt.

»Daß sie sie liebten!« berichtigte sich Nissen etwas schroff.

Krächzend aus der linken Ecke: »Und Dr. Giese?« Staps war nun einmal übergenau.

»Ich habe Dr. Giese nur einmal gesehen und mich mit ihm nicht persönlich unterhalten. Ich habe auch nichts darüber gehört, ob er sich meiner Verlobten zu nähern versucht hat. Aus ihren Erzählungen weiß ich nur, daß sie ihn bei einem Mittagessen mit Dr. Glaß kennenlernte und einmal mit ihm nach dem dunklen See zum Schwimmen gefahren ist.«

»Außerdem war sie am letzten Sonntag mit dem Freundeskreis, einschließlich Dr. Giese, in der Sandkule«, vervollständigte Ilse Brade. »Herr Nissen konnte sich nicht frei machen.«

»Nun zu etwas anderem, Herr Nissen«, fuhr der Kommissar fort, nachdem er sich bei den Worten der Sekretärin eine Notiz gemacht hatte. »Der Gläubiger deutet in seinen Briefen eine nicht näher bezeichnete Forderung an. Weder Sie noch Fräulein Kattner hatten irgendwelche Schulden oder Verpflichtungen. Es besteht aber noch die Möglichkeit, daß sich ein Geldsuchender als Gläubiger bezeichnet. Mit wem standen Sie in dieser Hinsicht in Beziehungen, und was können Sie uns darüber sagen?«

»Es haben sich im Lauf des letzten Jahres, eine längere Zeitspanne kommt wohl nicht in Frage, vier Personen an mich gewandt. Von ihnen stand nur Herr Ruh mit meiner Verlobten in Verbindung. Die andern kannten Fräulein Kattner nicht, und Fräulein Kattner kannte sie nicht. Es sind dies Ludwig Nicolaus aus der Kunstseidenbranche, der ein verhältnismäßig kleines Kapital brauchte, um ein neues Verfahren fabrikationsreif zu machen. Ferdinand Fischer brachte eine völlig unbrauchbare Sache, die ich finanzieren sollte, und Dr. Felix Schwarz wollte sich eine Fabrik zur Herstellung einer Radioneuerung einrichten.«

Nissen hatte während seiner Darlegungen wohl erwogen, dem Polizeikommissar von dem letzten Besuch Ferdinand Fischers zu berichten, doch er unterließ es. Er hielt Fischer zwar für einen Krakeeler, nicht aber für einen wirklich gefährlichen Menschen. Außerdem würde sich die Mordkommission sowieso mit ihm beschäftigen, nachdem sein Name einmal gefallen war. Mochte die Polizei sich ihre eigene Meinung über ihn bilden, das war besser, als wenn Nissen ein Bild entwarf, das vielleicht durch die persönliche Auseinandersetzung getrübt war.

»Sie haben sämtliche Ersuchen abgelehnt?«

»Den Betreffenden gegenüber – ja.«

Der Kommissar hob den Kopf. »Was soll das heißen?«

»Daß ich mich noch nicht endgültig entschlossen habe, Fritz Ruh abzuweisen. Er bringt ein Rezept, das auf dem Gebiet der Medizin einen wesentlichen Fortschritt bedeutet.«

»Aber Ruh weiß noch nichts von Ihrem Zögern, Herr Nissen? Er betrachtet seinen Versuch, Sie für seine Sache zu gewinnen, als aussichtslos?«

Der Fabrikant nickte ruhig. »So ist es, Herr Kommissar.«

Förster ließ sich von Nissen noch die Adressen der vier Geldsuchenden geben und schloß diese Vernehmung, da niemand etwas zu fragen hatte, nach der üblichen Protokollunterschrift.

»Hat irgend jemand etwas über diesen Zeugen zu bemerken?« fragte Förster, nachdem der Fabrikant das Zimmer verlassen hatte.

Nur Staps meldete sich, wenn er auch nichts Besonderes zu sagen hatte. »Ich kann mir nicht recht denken, daß Nissen seine Braut umgebracht hat. Der Mann scheint über sein Verhältnis zu Rita Kattner die Wahrheit gesagt zu haben. Ich sehe auch kein Motiv für ihn.«

»Rita Kattner hatte ihren Verlobten gern«, ließ sich Ilse Brade hören. »Ich glaube aber, sie war sich selbst nicht darüber klar, ob es die große Liebe sei. Rita hing an dem bunten Leben, das sie führte, und sie glaubte, in Nissen einen Menschen gefunden zu haben, der sie auch als ihr Mann nicht daran hindern würde. Ich persönlich kann mir diese Verbindung Ritas mit Nissen höchstens so erklären, daß sie keine Vorstellung davon hatte, was Liebe eigentlich ist. Denn Rita, mochte es auch nicht so aussehen, war ein guter Mensch, viel tiefer veranlagt, als ihre Freunde und Bekannten sie einschätzten. Wäre sie später einmal, bereits verheiratet, dem Manne begegnet, den sie wirklich geliebt hätte, so wäre die Trennung von Nissen unvermeidlich gewesen.«

»Wie gefühlvoll!« krächzte der Professor leise.

Prompt nahm der Kommissar Stellung gegen Staps. »Es ist mir sehr angenehm, Fräulein Brade, daß Sie mir diesen Aufschluß gaben. Jetzt sehe ich doch einigermaßen klar bezüglich der Verlobung Kattner-Nissen!« Er blickte auf seine Liste. »Fräulein Reinhard ist die nächste.«

Personalien: Maria Hedwig Reinhard, fünfundzwanzig Jahre alt, Modellzeichnerin.

Bis auf Inspektor Lehmann, der die Aussagen nachschrieb, betrachteten wohl alle das junge Mädchen, das ausgezeichnet gekleidet war. Hedwig Reinhard neigte offensichtlich zur Fülle, hielt aber gerade noch die Grenze ein, die vor der Bezeichnung »vollschlank« einen Strich zieht, und sah demzufolge gesund und frisch aus. Sie hatte sehr schönes, volles, aschblondes Haar, das der Hut, der Mode entsprechend, nur wenig bedeckte, so daß die Fülle der Locken sichtbar wurde, die bis auf die Schultern herabreichten.

»Fräulein Reinhard«, fragte der Kommissar, »Sie kennen die Drohbriefe, die Fräulein Kattner erhielt. Inzwischen werden Sie auch von ihrem Tode gehört haben.«

Hedwig Reinhard nickte, und es lag ein ehrlich bekümmerter Ausdruck auf ihrem rundlichen Gesicht.

»Sie werden sich sicherlich Gedanken über den Mörder gemacht haben«, fuhr Förster fort. »Können Sie uns einen Hinweis geben, sei es gefühlsmäßig, sei es auf Tatsachen beruhend, der unserer Suche nach dem Täter förderlich sein könnte?«

Hedwig Reinhard schüttelte den Kopf. »Nein, Herr Kommissar! Natürlich habe ich mir überlegt, wer es sein könnte. Meines Erachtens hatte Rita außer den Mitgliedern unseres Freundeskreises, ihrem Verlobten und seit einiger Zeit Dr. Giese, der sich uns anschloß, keine weiteren Bekannten, mit denen sie häufig zusammenkam. Auf der einen Seite ist es völlig ausgeschlossen, daß einer von uns Rita – etwas getan hat. Auf der andern Seite muß es aber doch jemand sein, der irgendwie in ihrer Nähe lebte und sie gut kannte. Woher sonst hätte der Gläubiger die Einzelheiten aus ihrem Leben gekannt? Nein, ich weiß nicht, wer es war!« wiederholte sie in ihrer ruhigen, etwas phlegmatischen Art.

»Wie standen Sie zu Fräulein Kattner?«

Hedwig Reinhard sah den Kommissar fragend an, dann flog ein kleines Lächeln über ihr Gesicht. »Sie prüfen auch mich auf die Möglichkeit hin, ob ich die Täterin sein könnte, Herr Kommissar? Nun, ich kann Ihnen mit gutem Gewissen folgendes antworten: Ich mochte Rita Kattner sehr gut leiden, sie war ein froher, frischer Mensch, den anzusehen allein schon Freude bereitete. Ich sage Ihnen sicherlich nichts Neues, wenn ich Ihnen mitteile, daß zwischen mir und Fritz Ruh eine engere Bindung bestand als zwischen mir und den andern. Ich weiß, daß sich Ruh Rita Kattner zu nähern versuchte. Aber ich konnte warten, Herr Kommissar! Rita hätte eines Tages Nissen geheiratet, und Ruh wäre zu mir zurückgekehrt. Er hat mich sehr gern, und die Neigung zu Rita hätte sich nach und nach gegeben.«

Das alles war ruhig, ohne Prahlerei oder Überheblichkeit gesagt. Hier saß eine Frau, die um ihren Wert für einen bestimmten Mann wußte.

»Ich danke Ihnen für Ihre offene Auskunft, Fräulein Reinhard. Sie schließt in der Tat die Beantwortung einer Reihe von Fragen ein, die ich Ihnen noch gestellt hätte. Noch eine, und dann brauche ich Sie nicht mehr aufzuhalten. Wissen Sie, ob Herr Ruh für seine Erfindung inzwischen Kapital gefunden hat?«

Hedwig Reinhard sah verblüfft drein. Zögernd antwortete sie: »Herr Kommissar – ich weiß weder von einer Erfindung, die Fritz Ruh gemacht haben soll, noch ob er dafür Geld sucht oder gefunden hat. Worum handelt es sich denn?«

Förster lächelte. »Ich glaube, das besprechen Sie lieber mit Herrn Ruh persönlich, Fräulein Reinhard. Ich möchte ihm nicht die Freude nehmen, Ihnen selbst darüber Einzelheiten zu erzählen. Ich bedauere schon, daß ich durch meine Frage sein Geheimnis verraten habe.«

Als Hedwig Reinhard gegangen war, fragte Förster: »Ist etwas zur Zeugin Reinhard zu sagen?«

»Nichts weiter, als daß sie einen recht sympathischen Eindruck macht, was ja aber mit der Mordsache nichts zu tun hat«, sagte Inspektor Lehmann, der also doch offenbar Zeit gehabt hatte, einen Blick auf die Modellzeichnerin zu werfen. »Sie scheint tatsächlich nichts von der Erfindung gewußt zu haben.«

»Ich glaub's auch nicht!« bestätigte der Kommissar. »Warum aber hat Ruh ihr bisher noch nichts davon erzählt?«

Eine zuverlässige Beantwortung dieser Frage konnte natürlich niemand geben. Nur Ilse Brade sprach eine Vermutung aus.

»So wie ich Fritz Ruh beurteile, und ich hatte am Sonntag Gelegenheit, mich einen Augenblick mit ihm allein zu unterhalten, hat er nicht darüber gesprochen, weil ihm das Schicksal dieser Erfindung noch unbekannt ist. Ich glaube nicht, daß Ruh ein Mensch ist, der über halbfertige Sachen spricht.«

»Schön, Fräulein Brade! Wir werden bei seiner Vernehmung sehen, ob sich der Eindruck bestätigt, den Sie von ihm haben.«

Nedwal war der nächste, dessen Personalien folgendermaßen lauteten: Heinz Werner Nedwal, siebenundzwanzig Jahre alt, Kaufmann, angestellt beim Vater.

Nedwals Vernehmung förderte nicht das geringste zutage. Er war unwissender als ein neugeborenes Kind und machte in der Offenheit, mit der er bestätigte, unsterblich in Rita Kattner verliebt gewesen zu sein, einen unwichtigen Eindruck.

Nach Nedwals Weggang verzichtete Förster, sich bei den andern Herren nach der Stellungnahme zu diesem Zeugen zu erkundigen. Er sah die Antwort auf die ungestellte Frage in dem Schweigen, das folgte, nachdem der junge Mann das Zimmer verlassen hatte.

Darauf hielt Christa Straube ihren Einzug. Eine große Schauspielerin hätte nicht effektvoller auftreten können. Nur daß sich die Schauspielerin wahrscheinlich mehr dem Zweck dieses Auftretens angepaßt hätte – einer Vernehmung durch einen Kriminalkommissar in einem Amtszimmer eines Polizeipräsidiums.

Christa Straube trug ein Kleid, das aus einer Überfülle von leichtem Sommerstoff hergestellt war und unwahrscheinlich große, gelbe Chrysanthemen auf grünlichem Grund zeigte. Dazu, aber nur zu dem Kleid, nicht zur polizeilichen Vernehmung, paßte ausgezeichnet ein riesiger, fast weißer Hut aus weichem Stroh mit gelbem Samtband. Das Gesicht war eine Farbenpalette.

Ich muß Nedwal sagen, daß er die Ausgaben für seine kleine Freundin etwas einschränkt, dachte Ilse Brade, besann sich aber, daß sie dazu wohl kaum Gelegenheit haben würde, da sie mit dem jungen Mann wohl nur noch geschäftlich zusammenkommen würde, wenn überhaupt.

»Wie standen Sie zu Fräulein Kattner?« ertönte die unvermeidliche Frage Försters, nachdem sich das Erstaunen gelegt und Christa ihre Personalien angegeben hatte.

»Gott, sie gehörte zu unserm Kreis, Herr Kommissar! Ich bin ja mit ihr wenig in Berührung gekommen.«

Förster saß der Zeugin gegenüber. Bis jetzt hatte er erst das Kleid verdaut. Nun bemerkte er, daß Christa Straube sehr hübsche Beine hatte, denn sie erschwerte ihm die Aussicht darauf in keiner Weise. Der Kommissar verstand es zwar, kriminellen Dingen auf die Spur zu kommen, aber es blieb ihm unerfindlich, wieso der Kleiderrock, der vor dem Setzen eine gute Handbreit bis unter die Knie gereicht hatte, jetzt nicht einmal mehr diese bedeckte. Da Förster wißbegierig war, beschloß er, am Abend Frau Kriminalkommissar Förster zu fragen. Er übersah nur, daß seine Frau zwar eine ausgezeichnete Hausfrau und bezüglich seiner Wünsche, Nöte und Sorgen eine verständnisvolle Kameradin war, daß sie jedoch kaum die geeignete Person war, über solche kniffligen Fragen der Koketterie Auskunft zu geben. Dazu war sie zu ehrsam und auch ein wenig über die entsprechenden Jahre hinaus.

Trotz aller dieser Nebenerörterungen verlor der Kommissar aber nicht den Faden seiner Vernehmung. Er war mit der ausweichenden Antwort über das Verhältnis der Zeugin zu der Ermordeten nicht zufrieden. »Nun, Fräulein Straube, Sie müssen doch irgendwie zu Fräulein Kattner Stellung nehmen können. Schließlich sind Sie ja in dem Freundeskreis oft genug mit ihr zusammen gewesen!«

»Wirklich, Herr Kommissar«, beteuerte der rote Mund der Zeugin, »auch bei unseren allgemeinen Zusammensein habe ich mich wenig mit ihr unterhalten. Ich habe mich nur um meines Verlobten willen mit dem Kreis abgegeben.«

Der Kommissar verbiß sich mit Mühe ein Lächeln. Um aber sicherzugehen, daß er mit seiner Vermutung recht hatte, Christa Straube verwechsle einen Flirt mit einer Verlobung, fragte er weiter: »Darf ich mich erkundigen, wer Ihr Verlobter ist, Fräulein Straube?«

»Aber gewiß doch, Herr Kommissar! Ich dachte, es wäre Ihnen bekannt. Ich bin mit Herrn Nedwal verlobt!« Dabei warf das rothaarige Mädchen Förster einen Blick zu, der aus kindlichem Erstaunen über sein Unwissen und einer tiefen Unschuld geschickt gemischt war.

»Kennen Sie den Gläubiger, Fräulein Straube?«

Christa zauberte eine herbe Abweisung auf ihr pikantes Gesicht, immerhin eine bemerkenswerte Zusammenstellung, die ihr aber gut gelang. »Ich bitte Sie, Herr Kommissar! Wie sollte ich zu einer solchen Bekanntschaft kommen?«

»Nun, Fräulein Straube, so habe ich das nicht gemeint. Meine Frage ging dahin, ob Sie wissen, wer der Gläubiger, der Schreiber der anonymen Briefe, die Fräulein Kattner erhielt, ist?«

»Ach so! Ich bitte um Entschuldigung!« Ein entzückender, um Verzeihung bettelnder Blick. »Nein, Herr Kommissar! Ich habe mir darüber wirklich nicht den Kopf zerbrochen.«

Auch diesmal brauchte der Kommissar nicht nach der Meinung der andern über die Zeugin zu fragen. Dr. Staps gab sie im Namen aller, indem er verächtlich krächzte: »Eine dumme Pute! Zu nichts weiter gut als zum Gimpelfang! Die hat bestimmt mit dem Mord nichts zu tun. Der ihre Gedanken reichen ja zu nichts anderem, als neue Methoden zu erfinden, wie die Männer am besten auf sie hereinfallen!« Staps war glücklich, endlich einmal einen stichhaltigen Grund zum Schimpfen über ein weibliches Wesen zu haben.

Fräulein Dr. Annette Schreiber war nach Christa Straube eine wohltuende Erscheinung. Sie war achtundzwanzig Jahre alt und eine außerordentlich gepflegt gekleidete Dame, die durch den Schnitt ihres Kostüms und die Wahl ihres Hutes sowie einiger Kleinigkeiten ein wenig das Männliche betonte. Ihr anziehendes, schmales Gesicht mit dem gescheiten, energischen Ausdruck wirkte keineswegs überlegen. Dafür sorgten schon die wundervollen großen, grauen Augen, die jeden, mit dem sie sprach, offen und ehrlich ansahen.

Fräulein Dr. Schreiber gab sehr genaue und sachliche Antworten.

Sie erklärte, sich mit Rita Kattner gut vertragen, ohne ihr jedoch besonders nahegestanden zu haben. Dazu seien sie zu verschiedene Charaktere gewesen.

Ja, sie wisse, daß sich Dr. Glaß aus Fräulein Kattner viel gemacht habe. Doch das habe ihr Verhältnis zu Glaß in keiner Weise berührt, da sie ausschließlich freundschaftlich und kollegial zueinander stünden. Bei dieser Auskunft nahm das Gesicht von Fräulein Dr. Schreiber einen etwas abweisenden und hochmütigen Ausdruck an.

Im übrigen konnte auch sie keinen bestimmten Hinweis auf den Täter geben.

»Sie sind Ärztin an der Klinik von Professor Herbart?«

»Ja, Assistentin von Dr. Glaß.«

»Haben Sie mit chemischen Arbeiten zu tun?«

»Nur soweit es mein Beruf mit sich bringt. Im übrigen bin ich, wie jeder Mediziner, ohne weiteres, auch ohne Zugang zu einem Laboratorium zu haben, in der Lage, Blausäure herzustellen.«

»Blausäure? Wie kommen Sie auf Blausäure?«

Die Dame lachte. Es war ein angenehmes, ruhiges und beruhigendes Lachen. »Nein, Herr Kommissar, ich habe mich mit meinen Worten wirklich nicht verdächtig gemacht. Sie werden verstehen, daß ich mich als Ärztin nach der Todesart von Fräulein Kattner erkundigt habe, und die erbetene Auskunft hat mir heute früh Herr Nissen telefonisch gegeben.«

Nachdem Annette Schreiber gegangen war, nahm der Kommissar selbst Stellung: »Wir werden uns doch noch einmal mit Nissen in Verbindung setzen müssen, um festzustellen, ob es stimmt, daß Fräulein Schreiber sich bei ihm über die Todesart befragt hat. Außerdem mißfällt mir der Widerspruch zwischen ihrer Aussage und dem, was Sie mir gesagt haben, Professor. Danach haben Fräulein Kattner und Fräulein Brade Ihnen erzählt, daß zwischen Dr. Glaß und Fräulein Schreiber ein durchaus nicht nur freundschaftliches Verhältnis bestand. Weshalb gibt sie das nicht zu?«

»Fräulein Schreiber ist viel zu stolz, um uns hier ihre Liebesgeschichte vorzutragen«, warf Staps zornig ein.

Alles blickte verblüfft auf den kleinen Gelehrten, der plötzlich eine Frau in Schutz nahm. Er gab dafür eine Erklärung, die mehr gefaucht als gekrächzt war.

»Tja, in so etwas sieht natürlich der gelernte Psychologe klarer als die Praktiker der heiligen Hermandad. Eine Dr. Annette Schreiber ist immerhin nicht eine Christa Straube.«

»Sie halten es also für möglich, daß Dr. Schreiber die Mörderin ist, Professor?« verlangte der Kommissar glatten Aufschluß über Staps' Gedanken.

»Das weiß ich natürlich ebensowenig wie Sie, Kommissar. Auf jeden Fall halte ich Fräulein Schreiber für nicht verdächtiger als die andern.«

»Schön! Jetzt hätten wir also noch Dr. Glaß und Ruh.«

»Und Giese!« murmelte Ilse Brade.

»Richtig!«

Der nächste war Dr. Glaß, der aber nichts Neues brachte. Ja, auch er habe für Rita Kattner allerlei empfunden, auch er könne Blausäure herstellen. Diesmal hatte Kommissar Förster als erster das Wort Blausäure genannt, da Glaß auf seine entsprechende Frage nicht einging. Und auch Glaß hatte keine Ahnung, wer der Täter sein könnte.

Fritz Ruh war fünfunddreißig Jahre alt, Chemiker, bei der Firma Dr. Leistner & Co., pharmazeutische Fabrik, angestellt.

Wieder die unerbittliche Frage: »Wie standen Sie zu Fräulein Kattner?«

Ruh, der etwas vornübergeneigt durch das Leben ging, sank noch mehr in sich zusammen. Sein blasses, schmales Gesicht sah erbarmungswürdig weiß und verhärmt aus. »Muß ich Antwort geben?« fragte er leise. Als niemand sprach, sagte er, noch leiser als vorher: »Ich stand ihr sehr nahe.«

»Als Chemiker haben Sie natürlich die Möglichkeit, Blausäure herzustellen, Herr Ruh?«

»Blausäure? Natürlich, Herr Kommissar! Weshalb?«

»Fräulein Kattner wurde durch eine mit Blausäure vergiftete Schönheitscreme getötet.«

Ruh sah den Kommissar erstaunt an. Dann wurde er sich bewußt, was Förster mit diesen Worten gemeint hatte, und seine Stirn rötete sich. »Es erübrigt sich wohl, daß ich zu Ihrer Bemerkung Stellung nehme, Herr Kommissar!«

»Das ist selbstverständlich Ihre Sache, Herr Ruh! Nun etwas anderes. Mir ist mehrfach gesagt worden, daß Fräulein Kattner keine Schulden oder Verpflichtungen irgendwelcher Art hatte. Wie stellen Sie sich zu dieser Ansicht?«

»Sie ist richtig. Rita Kattner hat mir persönlich bestätigt, daß es keine Forderung gebe, die der Gläubiger geltend machen könne. Und was Rita Kattner mir gesagt hat, das stimmt.«

»Wen vermuten Sie als Täter?«

»Dem Namen nach kann ich niemand bezeichnen, Herr Kommissar. Ich halte es aber nicht für unmöglich, daß jemand, der zu irgendwelchen Zwecken von Nissen Geld haben wollte, ihn durch die Drohbriefe erschrecken und gefügig machen wollte und dann, als die Briefe keinen Erfolg hatten, Rita Kattner aus dem Weg räumte, um das Geld frei zu machen, das Nissen für seinen zukünftigen Hausstand verwenden wollte.«

Einem so ungeschickten, unpraktischen Zeugen, der sich unaufgefordert selbst schwer belastete, war der Kommissar in einer Mordsache kaum je begegnet. »Hm!« sagte er. »Um welche chemische Neuerung handelt es sich, für deren Herstellung Sie von Nissen Geld erbaten?«

Wieder flog eine Röte über das Gesicht des Mannes, der sich wohl durch die Worte des Kommissars bewußt wurde, daß er sich mit seinen Ausführungen möglicherweise selbst geschadet hatte. Ruh stellte bei dieser Vernehmung eine merkwürdige Mischung von Niedergeschlagenheit und Zappeligkeit dar. Einmal kreuzte er das linke Bein über das rechte, dann wieder das rechte über das linke. Er fuhr mit der Hand in die Jackentasche, als suche er dort etwas, dann legte er wieder beide Hände auf die Knie und faltete sie.

»Es ist ein neues Medikament, das den Ärzten, und natürlich auch den Patienten, bestimmt willkommen sein wird«, antwortete er. »Sie werden verstehen, Herr Kommissar, daß ich mich darüber nicht näher äußern kann.«

»Warum weiß Fräulein Reinhard nichts von Ihren Arbeiten, Herr Ruh?«

Einen Augenblick zögerte der junge Chemiker mit der Antwort. »Ich habe zu niemand darüber gesprochen außer zu Nissen. Ich wollte erst wissen, wie sich die Sache entwickeln würde. Ich komme nicht gern mit halben, noch nicht spruchreifen Dingen.«

»Sie kommen als Täter nicht in Frage, Herr Ruh?«

Der Chemiker sprang vom Stuhl auf und starrte zornig auf den Kommissar. Dann nahm er sich krampfhaft zusammen, stand hochaufgerichtet vor dem Schreibtisch des Kommissars und sagte, so ruhig er konnte, aber doch mit flatternder Stimme: »Herr Kommissar, ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß ich Rita Kattner geliebt habe!«

Die vier Personen, die sich mit der Suche nach dem Mörder der schönen Rita beschäftigten, sahen Fritz Ruh nach, als er mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf den Raum verließ.

Der letzte war Dr. Werner Giese, der nicht das allermindeste zur Aufklärung des Falles beitragen konnte, dazu sei er erst vor zu kurzer Zeit mit dem Freundeskreis bekannt geworden. Seine Personalien ergaben, daß er fünfundvierzig Jahre alt war und von dem Ertrag eines Rittergutes sowie eines mittleren Vermögens lebte.

Der letzte Zeuge hatte das Arbeitszimmer des Kommissars verlassen.

»Das waren viele Leute, viel Rederei und praktisch nichts, was uns dem Mörder einen Schritt näherbringt«, brummte Förster unzufrieden.

»Am meisten ist wohl dieser Ruh belastet«, nahm Inspektor Lehmann Stellung, indem er in den Protokollen blätterte. »Er ist Chemiker und wollte von Nissen Geld. Trotzdem möchte ich mich nicht allzusehr auf diese Merkmale verlassen, denn er macht einen guten Eindruck. Seine Fahrigkeit ist erklärlich, wenn man bedenkt, daß er gestern diesen Verlust erlitten hat.«

»Nissen hat den gleichen Verlust gehabt«, warf der Kommissar ein.

»Schon richtig, Chef! Aber der Fabrikant ist eine bei weitem weniger romantische Natur als der Chemiker.«

Förster schaute ärgerlich auf den Inspektor, der sich so seltsamer Worte wie romantisch bediente, und es beruhigte ihn in keiner Weise, daß der Professor dem Inspektor beipflichtend zunickte.

Um seinen Ärger zu verbergen, wurde er amtlich. »Wir müssen noch die drei andern Geldsuchenden vernehmen. Im übrigen gefällt mir die ganze Geschichte nicht. Uns fehlen sämtliche Hilfsmittel, die sonst wenigstens einen Anhaltspunkt geben. Der Mord ist in Abwesenheit des Mörders geschehen, und deshalb haben wir keine Spuren, keine fehlenden Alibis, keine brauchbaren Aussagen, niemand, den wir wesentlich verdächtigen könnten, ja nicht einmal ein zuverlässiges Motiv. Daß der Mörder jemand ist, der von Nissen Geld wollte, ist nur eine Vermutung, die völlig falsch sein kann. Denn es wäre immerhin eine Seltenheit, daß jemand denjenigen, um dessentwillen hohe Geldausgaben geplant werden, ermordet, um eben diese Geldausgaben zu verhindern und möglicherweise dann selbst der Empfänger des Geldes zu sein, und diese Geldausgaben ...« Hier schwieg der Kommissar. Er sah keine Möglichkeit, diesen schwierigen Satz zu beenden.

»Wir haben die Briefe des Gläubigers«, krächzte Staps.

»Was sollen wir mit den Briefen? Professor Ewald hat ja gesagt, daß er keine Möglichkeit sieht, sie mit der Schrift irgendeines unserer Schäfchen in Zusammenhang zu bringen. Und seine Anschrift und Telefonnummer hat der Gläubiger ja bekanntlich nicht mitgeteilt.«

Wieder meldete sich Inspektor Lehmann. »Wenn auch der Gerichtschemiker gesagt hat, daß jeder Laie Blausäure selbst herstellen kann, so müßten wir uns doch meines Erachtens am meisten mit denen beschäftigen, die berufsmäßig mit solchen Dingen zu tun haben, also Dr. Glaß, Dr. Annette Schreiber und Fritz Ruh. Außerdem wäre unser Augenmerk auf die Personen zu richten, die von Nissen Geld haben möchten, demnach wieder Fritz Ruh, außerdem Dr. Schwarz, Nicolaus und Fischer. Damit hätten wir die Zahl der verdächtigen Personen zunächst auf nur sechs eingeschränkt.«

»Nur!« Dieser Ausruf kam gleichzeitig von Kommissar Förster und von Ilse Brade.

»Na ja!« murmelte Inspektor Lehmann ein wenig gekränkt.

»Für heute sind wir wohl fertig?« fragte Staps.

»Noch nicht ganz«, erwiderte Förster mit einem hinterhältigen Lächeln. Er freute sich, etwas zur Sprache zu bringen, auf das offenbar außer ihm bisher niemand gekommen war. »Wie haben wir folgendes zu erklären und können es mit der doch sichtlich großen Intelligenz des Gläubigers in Übereinstimmung bringen: Der Tod von Rita Kattner beruht doch unbestreitbar auf einem Zufall. Hätte sie sich nicht mit dem zerbrochenen Glas in den Finger geschnitten und wäre Fräulein Brade nicht mit ihr in das Schlafzimmer gegangen und hätte sich Rita Kattner nicht auf die Mustersendung Heilsalbe besonnen, so lebte sie heute noch. Wie vereinbart sich das mit dem bis ins letzte durchdachten und vorbereiteten Plan des Gläubigers und der bis Montag abend gesetzten Frist? Er konnte doch nicht ahnen, daß ihm der Zufall so in die Hände spielen würde, wie es geschehen ist.«

»Die Frage habe ich mir auch schon vorgelegt«, sagte Dr. Staps unerschüttert.

Der Kommissar bezeichnete in Gedanken diese Behauptung als eine faustdicke Lüge, ausschließlich zu dem Zweck von dem kleinen Professor vorgebracht, sich nicht mit dem Übersehen eines so wichtigen Punktes zu blamieren.

Staps schmunzelte, als er das zweifelnde Gesicht Försters sah, und fügte gelassen hinzu: »... und gestern eingehend mit Fräulein Brade besprochen.«

Da Ilse Brade nickte, war der Kommissar geschlagen. Er überwand sich und fragte ganz zahm: »Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen, Professor?«

»Zu gar keinem, Kommissar! Es geht mir wie Ihnen, ich kann mir bei dem sonstigen Verhalten des Gläubigers dieses Spiel mit dem Zufall nicht erklären. Ich bin der Ansicht, daß wir diesen Punkt zur Seite legen müssen und darauf angewiesen sind, später den Gläubiger selbst darüber zu befragen.«

»Wenn wir ihn finden!« warf Inspektor Lehmann ein, was ihm einen strafenden Blick des Kommissars eintrug.

»Ich meinerseits gehe jetzt«, sagte Staps, indem er entschlossen aufstand.

So löste sich denn die kleine Gesellschaft mit dem Versprechen auf, sich weiterhin nachdrücklich mit der Klärung des Falles Kattner zu beschäftigen und gegenseitig die Ergebnisse auszutauschen, über die Absicht, nur das preiszugeben, was er nicht selbst brauchte, sprachen weder der Kommissar noch Staps.

*

Der jetzige Prokurist Schwarz und zukünftige Herr seiner Entschlüsse und seiner Zeit und, wie er hoffte, vieler Menschen, denn seine Filterfabrik sollte groß und ertragreich werden, war von einer Hartnäckigkeit, die an Verranntheit grenzte.

Es war nachmittags gegen fünf Uhr, und Dr. Felix Schwarz befand sich in seiner Wohnung. Wieder lagen die Pläne und Zeichnungen auf dem Mitteltisch ausgebreitet. Schwarz nahm ein Blatt nach dem andern in die Hand, betrachtete es und legte es von der rechten auf die linke Seite. Diese Papiere waren doch so überzeugend! Wie kam es, daß sich niemand entschließen konnte, sich an seiner Sache zu beteiligen?

Natürlich hatte Schwarz Nissen nicht gesagt, daß er nicht der einzige war, an den er sich wegen des Darlehens gewandt hatte, denn das hätte den Fabrikanten sicherlich verschnupft und noch ablehnender gemacht, als er so schon war.

Und das Gutachten, das Nissen beschafft und von dem er Schwarz eine Abschrift überlassen hatte: Konnte es etwas den Wert der Erfindung Bejahenderes geben? Es mußte wohl etwas an dem sein, was einer der Herren, an die er wegen der Geldhergabe herangetreten war, ihm gesagt hatte: über sämtliche Gelder sei auf lange Zeit im voraus verfügt, und es sei keine Mark vorhanden, die nicht gleichsam schon versprochen sei. Das Kapital sei in dauernder Bewegung, der eine Industriezweig warte auf die Zahlung des andern, um die Mittel an den dritten weiterzugeben.

Schwarz, dessen Beobachtungen diese Begründung zwar bestätigten, sah aber, daß sich innerhalb dieser so lebendigen Wirtschaft neue Zweige bildeten, sich entfalteten, erweiterten, sich einfügten in den bestehenden Aufbau und ihn bereicherten.

Und da sollte für seine Neuerung kein Geld vorhanden sein? Nein, das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen, es mußte irgend etwas gegen ihn wirken. Das wahrscheinlichste war, daß jemand ihn bei den Personen schlecht machte, an die er sich wegen der Beteiligung gewandt hatte. Welche Gründe für dieses Beinstellen maßgeblich waren? Nun, das wußte Schwarz natürlich nicht. Es konnte Neid sein, der ihn nicht aufkommen lassen wollte; man hatte ja oft genug erlebt, welchen Kampf derjenige führen mußte, der von unten kam, mit welchen Schwierigkeiten er sich herumzuschlagen hatte, die der liebe Nächste ihm bereitete. Das war früher so gewesen, und Schwarz vermochte nicht den Glauben aufzubringen, daß sich das heute geändert haben sollte. Wie alle Ichmenschen – und was sind krasse Streber anderes? – glaubte er von dem, was die Umwelt ihm an Erfahrung, Belehrung, Beispiel bot, nur das, was er in einem Sinn auslegen konnte, der sich für seine Person als nutzbringend erwies.

Wohl gab es Augenblicke, in denen Dr. Schwarz, der ja schließlich nicht umsonst Kaufmann und erster Prokurist eines angesehenen Unternehmens war, erkannte, daß die Welt nicht gerade auf den Schwarz-Filter wartete. Denn es gab bereits andere Erzeugnisse dieser Art, die seiner Erfindung gegenüber kaum, vielleicht sogar überhaupt nicht, nachstanden. Als Wirtschaftspolitiker mußte er die Frage, ob denn der Auf- und Ausbau einer Fabrik zur Herstellung dieses Geräuschschutzes für Radio-Empfangsgeräte überhaupt nötig sei, verneinen. Als Mensch mit allen Fehlern, die nun einmal dieser Sorte Lebewesen auf Gottes schöner Erde anhaften, mit einer unüberwindbaren, alles übertönenden Gier nach Reichtum, nicht um des Geldes willen, sondern um der Freiheit willen, belastet, bejahte jedoch Schwarz die Frage nach der Notwendigkeit ›seiner‹ Fabrik.

Dr. Felix Schwarz hatte wieder einmal – zum wievielten Male? – all dies erwogen und wieder einmal alles zur Seite geschoben, was einen unvoreingenommenen Menschen von der Weiterverfolgung einer aussichtslosen Sache abgebracht hätte.

Er mußte mit dem Fabrikanten Nissen sprechen. Schwarz sah nach dem Kalender neben der Schlafzimmertür. Rita Kattner war vor zehn Tagen ermordet worden. Es war anzunehmen, daß sich Nissen so weit erholt hatte, daß er für geschäftliche Fragen wieder zugänglich war. Und die Zeit? Drei Viertel sechs Uhr! Er würde Nissen noch in der Fabrik erreichen, wenn er sich beeilte.

So verließ Schwarz seine Wohnung und ging zum nächsten öffentlichen Fernsprecher, um sich anzumelden. Ein eigenes Telefon hatte er sich bisher nicht einrichten lassen. Vorläufig war er noch der nicht allzu begüterte Prokurist, der im Hinblick auf die Zukunft nur dann Geld ausgab, wenn er es um seiner Pläne willen für angebracht hielt.

Nissen hatte sich nur widerwillig zu der gewünschten Besprechung bereit erklärt, und Schwarz fuhr nun mit der Straßenbahn zur Fabrik hinaus.

»Sagen Sie einmal, lieber Schwarz, was soll ich denn eigentlich noch für Sie tun?« fragte Nissen, nachdem sich die beiden Herren eine Weile ziemlich ziel- und zwecklos über die Frage der Geldbeschaffung für die Ausbeutung des Filters unterhalten hatten. »Ich selbst kann und will mich an der Sache nicht beteiligen, und wie schwer es ist, jetzt überhaupt jemand für die Einlage von Mitteln zu bewegen, das werden Sie selbst wissen, Sie stehen ja auch im Geschäftsleben. Die Wirtschaft ist zur Zeit so angespannt, daß nirgends Geld übrig ist.«

»Von Übrigsein kann man beim Schwarz-Filter doch wohl nicht gut sprechen, Herr Nissen«, sagte der Prokurist, und es schwang ein beleidigter Klang in seiner Stimme mit.

»Mißverstehen Sie mich bitte nicht, Herr Doktor! Aber Sie werden, wenn Sie Ihre zwar sehr verständlichen, aber nicht ausschlaggebenden persönlichen Wünsche beiseite lassen, mit mir in der Feststellung übereinstimmen, daß es vordringlichere Aufgaben gibt als die Herstellung eines neuen Entstörungsfilters.«

»Darin kann ich Ihnen eben nicht beipflichten, Herr Nissen! Wir sind auf allen Gebieten bestrebt, das Beste auf den Markt zu bringen, was es geben kann, und dazu gehört eben meine Erfindung.«

»Ja – wie gesagt, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.« Nissen wußte nicht, wie die Sache Schwarz einem gedeihlichen Ende zuzuführen sei. Auf der einen Seite stand er, entschlossen, sein Geld nicht hineinzustecken. Auf der andern Seite stand, ebenso entschlossen und beharrlich, Dr. Schwarz, der durchaus nicht gewillt war, seine Geldsuche aufzugeben.

»Wie stellt sich Herr Hertwig zu meinen Vorschlägen, Herr Nissen? Haben Sie von ihm eine bindende Antwort erhalten? Sie sagten mir doch vor einiger Zeit, er würde sich möglicherweise für die Erfindung einsetzen.«

»Das einfachste wäre, Herr Doktor, Sie suchten Hertwig einmal auf. Ich habe mit ihm gesprochen, aber er hat sich noch nicht geäußert; außerdem würde er wohl gern einmal Ihre Pläne sehen. Ich komme nicht so bald wieder mit ihm zusammen, weil mich die Geschäfte allzuviel in Anspruch nehmen.«

Dr. Schwarz lächelte, aber sein Lächeln war nicht ohne Verkniffenheit. »Sie wollen mich nur loswerden, lieber Nissen! Und ich kann Ihnen das nicht einmal übelnehmen, denn schließlich geht Sie ja die ganze Sache nichts an.«

Nissen hob abwehrend die Hand. »Jetzt werden Sie böse, Herr Doktor! Nichts liegt mir ferner, als Sie loswerden zu wollen, wirklich, Sie können mir glauben. Aber was könnte ich Ihnen mehr anbieten, als Sie mit jemand zusammenzubringen, der Ihnen vielleicht helfen kann? Ich persönlich würde es außerordentlich bedauern, wenn Sie die Unmöglichkeit meiner Teilnahme an Ihrer Erfindung als Grund ansehen würden, unsere Bekanntschaft abzubrechen.«

Um den Bruchteil einer Sekunde zu hastig antwortete Schwarz, als wolle er seinen unüberlegten Ausfall wieder gutmachen: »Aber Herr Nissen! Habe ich mich so ungeschickt ausgedrückt? Es würde mir unendlich leid tun, wenn meine Worte Anlaß zu einem Mißverständnis gegeben hätten. Meine Bemerkung bezog sich ausschließlich aufs Geschäftliche.«

Der Fabrikant nickte. »Wie ist es also mit Hertwig, Herr Doktor, soll ich Sie mit ihm in Verbindung bringen?«

Schwarz, der einsah, daß alles vergeblich gewesen war, bejahte und hörte dem Telefongespräch zu, das Nissen mit Hertwig führte. Danach erwartete Hertwig den Prokuristen am nächsten Tag gegen Mittag.

Dr. Schwarz mußte noch einmal in das Wartezimmer von Nissens Büro, um dort Mantel und Hut zu holen. Als er und Nissen den Raum betraten, saß eine junge Dame lesend an dem langen Mitteltisch. Sie sah auf und erwiderte höflich den Gruß der Herren; dann vertiefte sie sich wieder in ihre Zeitschrift, während Nissen und Schwarz Abschiedsworte wechselten. Dabei aber beobachtete sie prüfend das Gesicht des Prokuristen und lauschte seiner Stimme nach.

»Nochmals meinen verbindlichsten Dank für Ihre Bemühungen, Herr Nissen, ich werde Hertwig morgen aufsuchen.«

»Ich würde mich aufrichtig freuen, wenn Sie mir einen günstigen Bericht über diese Unterredung geben könnten, lieber Schwarz«, antwortete der Fabrikant höflich.

»Wenn Sie mir gestatten, werde ich Sie an einem der nächsten Tage abholen, und wir essen irgendwo zu Mittag. Dabei werde ich Ihnen sagen, ob und wie Hertwig und ich zu einem Abschluß gekommen sind. Bitte, machen Sie mir die Freude eines mehr persönlichen Zusammenseins, als unsere Verhandlungen es bisher ergeben haben.«

»Gern, Herr Doktor!« erwiderte Nissen. Er nahm nicht mit Unrecht an, daß Schwarz die Scharte von vorhin auswetzen wollte.

Der Prokurist machte eine Verbeugung vor der Dame, die es aber nicht bemerkte und eifrig weiterlas, und verließ nach einem Händedruck mit Nissen das Wartezimmer.

Jetzt wandte sich Nissen an die Dame. »Es tut mir leid, Fräulein Brade, wenn Sie auf mich gewartet haben sollten. Mir ist Ihr Besuch nicht gemeldet worden.«

Staps' Privatsekretärin erhob sich und reichte dem Fabrikanten die Hand. »Kein Grund für Ihre Worte, Herr Nissen! Ich habe dem Fräulein, das mich anmelden wollte, ausdrücklich gesagt, sie solle es nicht tun und Sie nicht in der Besprechung stören, da ich Zeit hätte.«

»Wenn Sie Zeit haben, Fräulein Brade, so möchte ich Ihnen vorschlagen, daß wir unser Beisammensein in den Ratskeller verlegen. Es ist nach sieben, also Essensstunde, und wir können die Fragen des Herrn Dr. Staps ebensogut und angenehmer dort erörtern. Ich irre mich doch nicht, wenn ich annehme, daß Sie im Auftrag des Professors kommen?«

»Durchaus nicht, Herr Nissen. Ich habe gleichzeitig den Auftrag, meinen Chef auf das höflichste zu entschuldigen. Er ist mit Arbeit überlastet, weil er mehrere Sachen laufen hat, und kann nicht selbst kommen.«

»Ich weiß, was Arbeit heißt, Fräulein Brade. Wie ist es also mit meinem Vorschlag?«

»Er wird gern angenommen, Herr Nissen! Wir können uns dabei über den Eindruck unterhalten, den Sie von den vier Personen haben, die sich wegen Beteiligung an ihrer Erfindung an Sie gewandt haben.«

»Geht der Verdacht in dieser Richtung?«

Ilse Brade hatte während ihrer Tätigkeit bei Staps gelernt, verschwiegen und undurchsichtig zu sein. Nur daß sie anders verfuhr als Staps, der die Antwort wütend herausgekollert haben würde. Die Sekretärin verschönte ihr sowieso sehr hübsches Gesicht mit einem gewinnenden Lächeln und erwiderte: »Auf wen sich der Verdacht im besonderen richtet, kann ich nicht sagen, Herr Nissen, dazu sind die Untersuchungen noch nicht weit genug gediehen.«

Der Fabrikant erwiderte das Lächeln. »Daß ihr Kriminalisten alle solche Geheimniskrämer sein müßt!«

Ilse Brade nahm ohne Widerrede die Einbeziehung ihrer Person in den Kreis der Kriminalisten entgegen, sie gab nur zu bedenken: »Sie wissen doch, daß stets die Meinung vertreten wird, ein, vorzeitiges Bekanntgeben der Vermutung, wer als Täter in Frage kommt, könne den Verbrecher warnen.«

»Richtig, Fräulein Brade! Und nun lassen Sie uns gehen. Ich will mich nur noch abmelden.«

* * *

 


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