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Kurz nach fünf Uhr nachmittags saß Ilse Brade am Schreibtisch im Arbeitszimmer von Dr. Staps und hatte vor sich das Stenogrammheft liegen. Sie ordnete etwa ein Dutzend überscharf gespitzter Bleistifte noch genauer, als sie bisher schon aneinandergereiht gewesen waren. Dabei dachte sie über die beiden Leute nach, die soeben das Zimmer verlassen hatten.

Währenddessen rannte ihr Chef, Dr. Robert Staps, in dem großen Arbeitszimmer auf und ab. Dabei brummte und schimpfte er vor sich hin, bisher noch so undeutlich, daß Fräulein Brade kein Wort verstand. Aus ihrer jahrelangen Zusammenarbeit mit dem Professor wußte sie, daß sie vorläufig noch nicht die Ohren zu spitzen brauchte. Der Augenblick stand erst noch bevor, an dem Staps so deutlich sprechen oder schimpfen würde, daß man seinen Worten ohne übermäßig angespannte Aufmerksamkeit würde folgen können.

Da die Sekretärin im Augenblick nichts zu denken fand, folgte sie mit den Augen ihrem Chef, den sie zwar in jedem Ausdruck, in jeder Bewegung zu kennen glaubte, der aber so ungewöhnlich, ja fast grotesk war, daß er die Menschen stets von neuem unwiderstehlich dazu hinriß, ihn zu betrachten.

Dr. Staps war kein ausgesprochener Sonderling, wenn seine Art auch nicht weit davon entfernt war. Früher war er das gewesen, was man als Stubengelehrten bezeichnet. Er hatte sich ein umfassendes Wissen in Philosophie und Psychologie angeeignet, war auch schöpferisch tätig gewesen, wie zahlreiche Veröffentlichungen bekundeten, die von der Fachwelt in voller, neidloser Anerkennung sehr hoch geschätzt wurden und teilweise sogar den Ausgangspunkt für neue Forschungen bildeten.

Ursprünglich war Staps reiner Wissenschaftler gewesen, er hatte aber, wenn es erlaubt ist, sich so auszudrücken, nach und nach den Kreis seiner Forschungsgebiete erweitert. Ausgangspunkt war die Psychologie, ihr gliederten sich die Psychopathologie und daraus wachsend die Medizin an. Staps machte schnell im Vorbeigehen noch seinen Dr. med.; sein erster akademischer Titel war der Dr. phil. Es schlossen sich die kriminalistische Psychologie und damit die Kriminalistik selbst an. Daß Staps als zur Charakterologie gehörig die gesamte Ausdruckslehre einschließlich der Graphologie beherrschte, versteht sich. Auch die Erblehre bezog er in sein Wissen ein, sie schien ihm die ausschlaggebende Grundlage zu sein für viele Handlungen der Menschen. Da sich seine Neigung immer mehr der Kriminalistik zuwandte, ohne daß er die andern Wissenszweige vernachlässigte, sah er sich – nach seiner Ansicht – gezwungen, sich auch mit Chemie, Toxikologie (Wissenschaft von den Giften) und allgemeiner Materialkunde vertraut zu machen.

Staps war eine auffallende Erscheinung. Er war klein und dürr, ewig in Bewegung und von einer Gemütsart, für die die Bezeichnung Choleriker ein blasser Ausdruck ist. Das Gesicht war im Verhältnis zum ganzen Kopf klein und hatte unzählige Falten und Fältchen. Der schmallippige, breite Mund konnte Lawinen von im Furioso hervorgesprudelten Worten herausschütten. Die Nase war höchstens insofern ungewöhnlich, als sie in keiner Weise vom Durchschnitt abwich, sie war schön und gerade. Am meisten machten seine Augen den Mitmenschen zu schaffen. In der Ruhe waren sie von vollkommener Schönheit, groß, grau, klar. Wenn er aber zornig war – und das konnte man bei Staps nahezu als Dauerzustand bezeichnen –, kniff er sie zusammen wie ein wütender Affe, über diesen zwiespältigen Augen wölbte sich eine wundervolle runde Stirn, gekrönt von einer dichten, grauweißen Bürste.

Ilse Brade stellte die Unberechenbarkeit ihres Chefs fest, als er mit einem halbkreisförmigen Schwung plötzlich vor ihr stehen blieb und sie mit krächzender Stimme fragte:

»Ist sie nicht eine prächtige Schönheit?«

Ilse starrte Staps an. »Wer?«

»Fragen Sie doch nicht so dämlich, Brade!« fauchte Staps zornig. »Diese – na – ja, ich hab's wieder, diese Rita Kattner, die eben mit ihrem Verlobten bei uns war! Seit wann haben Sie ein so kurzes Gedächtnis, Fräulein Brade?«

»Ich bitte um Entschuldigung, Herr Doktor! Ich konnte nicht annehmen, daß Sie irgend etwas an einer Frau anerkennen.«

Staps zog die dichten, grauweißen Brauen noch tiefer herunter. Krächzend belehrte er seine Sekretärin, daß er keineswegs seine gegen Frauen durchaus ablehnende Einstellung geändert habe.

»Ich habe nichts an dieser Rita Kattner anerkannt, Brade! Für ihre Schönheit kann sie nichts. Höchstwahrscheinlich – nein, sicher taugt sie ebensowenig wie alle Weiber.«

Ilse Brade lächelte. Ihr lag jede Angst vor Dr. Staps fern, dazu kannte sie seine grundgütige Natur viel zu genau. Sie würde ihm nie unhöflich oder gar frech begegnet sein. Ganz abgesehen davon, daß sie gut erzogen war, achtete sie dazu Staps viel zu sehr und hing sogar mit einer kameradschaftlichen Zuneigung an ihm. Aber sie unterließ es nicht, an passender Stelle ihre Meinung zu äußern, und der kleine Professor schätzte, soweit diese Meinung sachlich und die gemeinsame Arbeit fördernd war, die Stellungnahme seiner Sekretärin sehr, wenn er es auch in den allerseltensten Fällen zu erkennen gab.

So erlaubte sich denn Ilse Brade jetzt, nach der allgemeinen Verurteilung der Frauen durch Staps, ein leises und vorwurfsvolles »Hm!«

Staps betrachtete seine Sekretärin, die vergeblich ein ernstes Gesicht zu machen versuchte, forschend.

»Sie sind damit nicht gemeint, Bradelchen!«

Ilse nahm mit einem gebührenden strahlenden Lächeln in den blauen Augen und um den hübschen, gleichmäßig geschwungenen Mund diese Ehrenerklärung entgegen. Ihr Chef war nämlich mit diesen Worten sehr weit gegangen, lag doch in ihnen eine Anerkennung ihrer Person und ihrer Tätigkeit. Sie schufen gleichsam eine Ausnahmestellung für Ilse Brade. Sie konnte zufrieden und stolz sein.

Nach diesem kleinen privaten Zwischenfall nahm Staps seinen Dauerlauf wieder auf.

»Das ist keine bequeme Sache, Bradelchen! Dazu haben wir zu viele Leute, die als Gläubiger in Frage kommen«, ertönte die Rabenstimme von Staps aus der hinteren linken Ecke des Zimmers.

Dieses Arbeitszimmer war ein großer, lichter Raum, so sparsam möbliert, wie dies nur eben anging. Längs der linken Wand standen Bücherschränke, die ein geschlossenes Ganzes bildeten. Die rechte Wand war durch zwei breite Fenster unterbrochen, von deren zweitem aus der mächtige Schreibtisch in das Zimmer hineinragte. Neben dem Schreibtisch stand ein großer Ledersessel. Staps hatte ihn aus der Überlegung heraus gewählt, daß jemand, der bequem untergebracht ist, eher zum Sprechen neigt als jemand, der steif auf seinem Stuhl das Gleichgewicht halten muß und nicht recht weiß, welche Stellung er seinem Körper geben soll. Die Fenster gingen auf einen Schmuckplatz, der mit alten Linden bestanden war, die zur Blütezeit einen berauschenden Duft durch die, soweit es das Wetter zuließ, stets weit geöffneten Fenster sandten.

Ilse Brade griff Staps' Bemerkung wegen des Täters auf und fragte: »Wen haben Sie im Verdacht, Herr Doktor? Welche Frau ist diesmal schuld?«

Staps ging auf den Spott seiner Sekretärin nicht ein, sondern antwortete prompt: »Dieser schwarze Satan!«

Ilse stand auf und holte aus dem Vorzimmer, ihrem Arbeitsraum, Zigaretten. Sie wußte, daß jetzt wahrscheinlich eine längere Unterhaltung kam, und eine Zigarette war ihrem Denken förderlich, abgesehen von dem Genuß, den sie bot.

»Rita Kattner soll daran schuld sein?« fragte sie, zurückgekehrt. »Aber Herr Doktor! Erstens hat doch das Mädchen gar kein Interesse daran, sich selbst Drohbriefe zu schreiben. Zweitens hat Rita Kattner Angst, eine deutlich bemerkbare Angst. Drittens lautet die Unterschrift: ›Der Gläubiger‹. Also ist doch wohl ein Mann der Absender.«

»Sie gehen nicht auf meine Gedanken ein, Brade!« fauchte Staps ungerecht. »Ich meine doch, daß diese schwarzhaarige schöne Hexe durch ihre Bereitschaft, sich von allen Männern ihrer Umgebung den Hof machen zu lassen, ihre Anbeter durcheinanderhetzt, sie eifersüchtig aufeinander macht. Darin sehe ich ihre Schuld. Außerdem möchte ich trotz Ihrer Bemerkung die Möglichkeit nicht ausschließen, daß doch eine Frau diese Briefe geschrieben hat und durch das männliche Unterschriftswort nur ihre Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht zu tarnen versucht. Es gibt bestimmt mehr als eine eifersüchtige Frau im Kreise Rita Kattners.«

Ilse Brade war bei einer Erörterung stets sachlich genug, um einen Ausfall Stapsens nicht übelzunehmen. Darum erwiderte sie auch jetzt unpersönlich: »Sie unterschätzen den Widerspruchsgeist der Frauen, Herr Doktor, und übersehen, daß niemand eine genauere Kenntnis ausgesprochen weiblicher Eigenschaften hat als eben eine Frau. Eine Frau hätte deshalb bestimmt Rita Kattner nicht aufgefordert, die Verlobung zu lösen. Denn sie hätte damit gerechnet, daß das Mädchen daraufhin nun gerade auf der Aufrechterhaltung der Verlobung bestehen würde, wie es ja Rita Kattner auch tatsächlich tut. Außerdem hätte eine eifersüchtige Frau aus dem Freundeskreis ja nicht den geringsten Vorteil durch eine Auflösung dieser Verbindung. Denn dadurch würde Fräulein Kattner für einen andern Mann frei, und damit würde gerade das Gegenteil des Erwünschten erreicht.«

Der Professor war auf seiner eiligen Wanderung vor Ilse Brade angelangt und nickte ihr freundlich zu. Er schätzte diese Gespräche mit seiner Sekretärin sehr, sie brachten ihn durch den oft berechtigten Widerspruch vorwärts und halfen ihm, Klarheit zu gewinnen.

»Wenn wir eine Frau als Schreiberin voraussetzen« – Ilse Brade ergötzte sich an der Beharrlichkeit des Professors –, »so wäre es doch möglich, daß sie Rita Kattner durch die Auflösung des Verlöbnisses unmöglich machen und damit dem Interesse eines Mannes, an dem der Schreiberin liegt, entziehen wollte.«

»Das ist kaum anzunehmen, Herr Doktor, denn durch die Entlobung würde Rita Kattner nur interessant und dadurch erst recht begehrenswert.«

Staps krächzte vergnügt, fast schien ein Lachen in seiner Stimme zu liegen: »Hä! Diesmal haben Sie nicht recht, Bradelchen! Eine geschiedene Frau mag interessant sein, nicht aber eine entlobte.«

Ilse Brade schüttelte den Kopf und griff nach den anonymen Briefen, die Nissen auf Staps' Bitte dagelassen hatte. »Ich fürchte, Herr Doktor«, ihre Stimme klang leise, vorsichtig, schonend, »Sie müssen darauf verzichten, den Täter – noch ist er ja im eigentlichen Sinn kein ›Täter‹, aber die Sache sieht gefährlich genug aus – unter den Frauen zu suchen.«

»Sie bestätigen Ihre eigenen Worte von vorhin, Bradelchen, daß nämlich Frauen vom Widerspruchsgeist beherrscht sind. Sie haben auch eine ganz anständige Menge davon.«

Ilse breitete ihr schönstes Lächeln über ihr Gesicht. »Sehen Sie sich doch diese Briefe an, Herr Doktor! Sie sind so männlich wie möglich. Der Stil ist sachlich, beinahe kaufmännisch trocken, und auch der Inhalt – die Kenntnis von Nissens Firma, die Beschäftigung mit sozialen Fragen – läßt eher auf einen Mann schließen als auf eine Frau. Wenn man auch, wie Sie mir mehrfach gesagt haben, nicht immer entscheiden kann, ob eine Schrift von einer Frau oder einem Mann stammt, so möchte ich doch behaupten, daß dies ein Mann geschrieben hat.«

Staps setzte sich Ilse Brade gegenüber. Er nahm die Briefe entgegen, die sie ihm hinüberreichte.

»Hm!« knurrte er nach einem Augenblick. »Sie haben vielleicht nicht ganz unrecht, Bradelchen, wenn Sie auch keine Ahnung von Schriftkunde haben. Diese Schrift ist zwar eine ausgesprochene Kunstschrift und obendrein wahrscheinlich verstellt. Aber sie beweist eine derartige Selbstbeherrschung und Ausdauer sowie Folgerichtigkeit, daß sie kaum von einer Frau stammen kann. Dieser Mann – Sie sehen, ich bekenne mich zu Ihrer Ansicht, Brade, und bitte mir aus, daß Sie das würdigen – ist gefährlich. Er ist außerordentlich selbstsicher, verschlossen, gescheit und überlegt – sachlich, wie Sie ganz richtig sagten, sogar sehr sachlich. Er ist hart, mißtrauisch und verlogen. Ob er von Natur aus verlogen ist oder sich aus irgendwelchen Gründen dazu erzogen hat, weiß ich natürlich nicht. Ich kenne ihn ja noch nicht persönlich!«

Sowohl Dr. Staps als Ilse Brade hatten vor sich ein mit Maschine beschriebenes Blatt liegen, das Notizen und eine Liste all der Personen enthielt, die irgendwie mit Rita Kattner in Zusammenhang standen. Es war eine erkleckliche Anzahl. Die Sekretärin murmelte die Namen vor sich hin, als wolle sie sie auswendig lernen:

»Rita Kattner, Buchhändlerstochter,
Heinrich Kattner, ihr Vater,
Horst Nissen, Fabrikant, ihr Verlobter,
Dr. Artur Glaß, Arzt, liebt Rita Kattner,
Dr. Annette Schreiber, Ärztin, scheint Glaß nahezustehen,
Heinz Nedwal, Sohn eines reichen Vaters, liebt Rita Kattner,
Christa Straube, Stenotypistin, Nedwals Geliebte,
Fritz Ruh, Chemiker, liebt Rita Kattner,
Hedwig Reinhard, Modellzeichnerin, liebt Ruh,
Dr. Werner Giese.
Angeblich haben weder Rita Kattner noch Nissen Schulden, so daß ihnen der Ausdruck ›Gläubiger‹ unverständlich ist.
Rita Kattner lehnt Entlobung ab.
Rita Kattner und Nissen können nicht den geringsten Hinweis auf den Gläubiger geben oder auch nur eine Vermutung aussprechen.
Weder Rita Kattner noch Horst Nissen oder Dr. Glaß kennen in ihrem Kreis eine Handschrift, die auch nur einen Anklang an die Schrift des Gläubigers aufweist.«

»Verdammt wenig!« knurrte Staps und griff nach dem Telefonhörer, da der schwarze Kasten einen schnarrenden Ton von sich gegeben hatte.

»Staps!« bellte er in die Muschel. Dann hörte er einen Augenblick auf eine Frauenstimme, die bis zu Ilse Brade an der andern Seite des Schreibtisches hinüberklang. »Verzeihung, Fräulein Kattner! Ich gebe den Hörer meiner Sekretärin. Lesen Sie ihr bitte den Brief vor, den sie nachschreiben wird.«

Ilse Brade nahm den Hörer herüber und stenographierte nach:

 

»Sehr geehrtes gnädiges Fräulein!

Dies ist der vierte und letzte Brief, den ich Ihnen schreibe.

Es tut mir außerordentlich leid, daß Sie mich zu einem Schritt zwingen, der mir peinlich und noch dazu persönlich höchst unerwünscht ist, da Sie mir außerordentlich gefallen: Ich setze Ihnen eine Frist von höchstens drei Tagen bis zu Ihrem Tode.

Es nützt Ihnen nichts, daß Sie sich an Dr. Staps um Hilfe gewandt haben, womit ich nichts gegen die Fähigkeiten des Professors sagen will, den ich sehr hoch schätze. Meine Ansicht über Dr. Staps sage ich nicht nur, weil ich weiß, daß Sie ihm diesen Brief zur Kenntnis bringen werden, sondern sie entspricht meiner Achtung, ja Verehrung für diesen unübertrefflichen Gelehrten und Kriminalisten.

Also, gnädiges Fräulein, so bitter diese Worte auch für mich selbst sind – nehmen Sie Abschied von diesem schönen Leben. Ordnen Sie, was noch zu ordnen ist.

In aufrichtigem Bedauern ergebenst
Der Gläubiger.«

 

Ilse Brade reichte ihrem Chef den Hörer zurück.

»Einen kleinen Augenblick noch, Fräulein Kattner!« bat Staps in die Telefonmuschel. »Ich will mir den Brief noch einmal aus dem Stenogramm vorlesen lassen, um zu sehen, ob er vollständig ist.«

Staps deckte die Muschel mit der Rechten zu und fragte seine Sekretärin:

»Bradelchen, es brennt! Würden Sie bereit sein, die nächsten vier oder fünf Tage Rita Kattner ununterbrochen Gesellschaft zu leisten?«

»Selbstverständlich, Herr Doktor!« nickte Ilse. Sie war gewohnt, in Sekundenschnelle Entschlüsse zu fassen.

Jetzt sprach der Professor wieder ins Telefon und machte der schönen Rita den entsprechenden Vorschlag. Da Rita Kattner offenbar einverstanden war, wanderte der Hörer noch einmal über den Schreibtisch und Ilse Brade vereinbarte mit Rita Kattner, daß sie am Abend gegen sechs Uhr bei ihr einziehen würde.

Dann unterhielt sich Dr. Staps noch ein paar Minuten mit Rita Kattner.

Ilse Brade hörte nicht zu, sie las den neuerlichen und angeblich letzten Brief noch einmal durch. Plötzlich stand sie auf und ging in ihr Zimmer hinüber, um den Drohbrief abzuschreiben. Sie machte wie stets einen Durchschlag für sich, um sämtliche Unterlagen zur Hand zu haben. Denn sie interessierte sich tatsächlich für die Fälle, die der kleine Professor bearbeitete, und hatte durch ihre Überlegungen schon manches Mal den Gang einer Sache gefördert. Außerdem hatte sie einen guten Bekannten, nicht etwa einen Freund in Anführungsstrichen, dazu war sie nach anderer Seite zu fest gebunden, und dem gab sie die Unterlagen der von Staps bearbeiteten Fälle gern so vollständig wie möglich. Daraus machte dann der Bekannte, ein Schriftsteller, Kriminalromane. Wie weit der Professor diesen persönlichen Zweck der Zweitschriften kannte, wußte Ilse Brade nicht. Auf jeden Fall sprach er nicht darüber, duldete es also schweigend.

Dr. Staps sah seiner Sekretärin entgegen, als sie mit den beiden Blättern wieder sein Büro betrat, und nahm stumm die Niederschrift des vierten Briefes, um sie genau durchzulesen.

»Der Gläubiger ist verliebt, Bradelchen!« krächzte er, halb vergnügt, halb sorgenvoll. »Aber ich befürchte, daß seine Liebe nicht dazu reicht, seine Mordpläne aufzugeben.«

Ilse nickte. »Der gibt nicht so leicht auf, was er sich vorgenommen hat, dazu ist er zu verbohrt. Außerdem stammt er aus kleinen Verhältnissen, und wenn diese Menschen der Wunsch packt, mehr zu werden, als sie sind, kann nichts sie aufhalten.«

»Wie kommen Sie darauf, Brade, daß der Gläubiger aus kleinen Verhältnissen stammt?«

»Er spricht im zweiten Absatz davon, er würde zu diesem Schritt – gemeint ist damit der Mord an Rita Kattner –, der ihm peinlich sei, gezwungen. Man bezeichnet doch den Tod eines Menschen nicht als peinlich, noch dazu wenn man ihn selbst herbeiführen will. Wahrscheinlich hat der Gläubiger lange überlegt, welchen Ausdruck er wählen soll, um seine Gefühle anzudeuten.«

Staps nickte mit einem Lächeln. »Bradelchen, ich freue mich wirklich, daß ich Sie seinerzeit als Sekretärin erwischt habe. Sie können denken und sind mir eine Hilfe geworden, die ich nicht mehr missen möchte.«

Ein helles Rot stieg in Ilses hübsches Gesicht. Ein so offenes, uneingeschränktes Lob hatte Staps ihr gegenüber noch nie ausgesprochen. »Ich danke Ihnen, Herr Doktor!« murmelte sie.

»Fräulein Kattner sagte mir am Telefon etwas Merkwürdiges«, nahm der Professor die sachliche Besprechung des Falles wieder auf. »Sie hat diesen letzten Brief auf eine ungewöhnliche Weise zugestellt erhalten, sie fand ihn vorhin, kurz vor dem Anruf, in ihrer Handtasche. Rita Kattner hat im Lauf des Tages sämtliche Personen gesehen und mit ihnen gesprochen, die auf unserer Liste stehen, mit Ausnahme der kleinen Stenotypistin Christa Straube.«

»Pech!« sagte Ilse Brade. »Aber wie kommt es, daß sie heute, Freitag, an einem Wochentag also, mit ihren Freunden hat zusammen sein können? Sie stehen doch fast alle im Beruf.«

»Sie hat heute Geburtstag, und da sich mehrere ihrer Freunde am Abend nicht frei machen können, hat sie die Feier auf das Mittagessen im ›Großen Bären‹ verlegt.«

»Wer hat im Bären neben ihr gesessen?« fragte die Sekretärin und machte sich Notizen, die sie später für den kleinen Professor und für sich schriftlich ausführlicher festhalten wollte.

»Links ihr Verlobter, rechts Fritz Ruh.«

»Mit wem ist sie vom Bären weggefahren?«

»Mit Nissen.«

*

Während Dr. Staps Einzeluntersuchungen in der Sache Kattner vornahm, lebte Ilse Brade seit Freitag abend bei dem Buchhändler Heinrich Kattner und seiner Tochter. Die beiden jungen Mädchen verstanden sich ausgezeichnet, und die frische, lebhafte Art Ilses vermochte es, Rita etwas von den Gedanken abzulenken, die sie niederdrückten, unsicher und fast verzweifelt werden ließen.

So kam der Montagabend heran, an dem die Frist ablief, die der Gläubiger gesetzt hatte. Rita Kattner nahm sich zwar sehr zusammen, konnte aber doch ihre Fahrigkeit nicht verbergen. Sie sprach hastig und viel. Der alte Kattner, der seit Sonnabend um die Lage wußte, schwieg bedrückt und schaute von Zeit zu Zeit liebevoll zu seiner Tochter hinüber. Man war übereingekommen, den Abend zu Hause zu verbringen. Rita hatte sich außerstande erklärt, mit jemand anderm zusammen zu sein als mit dem Vater und Ilse Brade.

Natürlich war dem Freundeskreis die drohende Gefahr bekannt, und um Rita Kattner schwebten viele gute Gedanken. Nur einen gab es, dessen Gedenken und Absichten sich gegen die schöne Rita richteten, und das war der Gläubiger, von dem niemand ahnte, wer er war.

Staps saß in seinem Büro und wartete. Er hatte telefonisch mit Ilse Brade gesprochen und von ihr erfahren, daß man den Abend bei Kattners verbringen wolle. Natürlich wurde bei diesem Gespräch erörtert, in welcher Weise die Gefahr an Rita herantreten könnte. Es schien beiden unmöglich, daß sich der Mörder bis an Rita herandrängen könne. Jeder, der versuchen würde, mit ihr zu sprechen, wäre von vornherein verdächtig und würde von dem alten Kattner, Ilse Brade und auch Rita so scharf beobachtet werden, daß ein Angriff ausgeschlossen wäre. Trotzdem schärfte der kleine Professor seiner Sekretärin die allergrößte Aufmerksamkeit und Vorsicht ein und verlangte kategorisch, sie solle Fräulein Kattner keinen Augenblick aus den Augen lassen, was Ilse natürlich zusagte.

In einer halben Stunde sollte gegessen werden. Der alte Kattner, der heute nicht in der Buchhandlung gewesen war, weil ihm die Ruhe dazu fehlte, saß mit den beiden jungen Mädchen unter einer Stehlampe, die ihr goldgelbes Licht auf die kleine Runde fallen ließ. Er las in einem Buch, das er sich aus dem Geschäft mitgebracht hatte. Es war eine Neuerscheinung aus dem Gebiet der Renaissance-Kunst. Die Bilder gaben ihm den Vorwand, in dem Band zu blättern. Er brauchte auf diese Weise nicht vorzutäuschen, daß er aufmerksam, lese, wozu er nicht imstande war.

Ilse Brade hatte als Gesprächsthema die Kleiderfrage gewählt, weil sie festgestellt hatte, daß Rita großen Wert darauf legte, hübsch und gepflegt angezogen zu sein.

»Sagen Sie mal, Fräulein Kattner, wo haben Sie eigentlich das hübsche dunkelrote Nachmittagskleid her, das Sie mir heute früh zeigten? Und ist es sehr teuer gewesen? Es steht Ihnen ausgezeichnet. Ich suche schon lange nach einem Geschäft, von dem ich fertige Sachen zu einem annehmbaren Preis beziehen kann. Ich schaffe es neben meiner Arbeit nicht, meine Sachen auch noch selbst zu nähen, wie ich es früher getan habe.«

Rita Kattner, die heute fast ununterbrochen rauchte, legte die Zigarette auf den Aschenbecher und griff nach ihrem Glas. Ilse Brade hatte vorgeschlagen, man möge etwas Kräftiges trinken. Sie wußte, daß Alkohol zwar zunächst einen überwachen Zustand schafft, daß er aber auch die Gedanken etwas lockert. Sie rechnete mit der Wirkung insofern, daß Ritas Grübeln nachlassen und ihr Interesse sich andern Dingen zuwenden würde. Und sie hatte mit diesem Schachzug tatsächlich den erhofften Erfolg. Rita war zwar weiterhin äußerst aufgeregt, aber sie lehnte es durchaus nicht ab, sich über Kleider zu unterhalten. Als sie ihr Glas wieder hingestellt hatte, antwortete sie auf Ilses Frage:

»Ich bin schon jahrelang bei Frenzel in der Lohgerbergasse Kundin und Fräulein Frenzel geht mit sehr gutem Geschmack auf meine Wünsche ein. Der Preis? Hm! Das rote Kleid hat fünfundsiebzig Mark gekostet.« Sie sah Ilse Brade fragend an.

»Das ist allerhand Geld!« sagte diese nachdenklich. »Aber es wird doch bei Frenzel sicherlich auch andere Sachen geben, die mir stehen und für meine Geldverhältnisse erschwinglich sein würden?«

»Bestimmt, Fräulein Brade! Zufälligerweise habe ich vorige Woche ein sehr hübsches schwarzes Kleid mit weißem Besatz gesehen, das Ihnen zu Ihrem blonden Haar ausgezeichnet stehen würde. Sie könnten es nachmittags und auch abends tragen. Dafür war der Preis dreiunddreißig Mark.« Rita Kattner betrachtete die Sekretärin prüfend und stellte sich das eben erwähnte Kleid an ihr vor. Sie erwog, es ihr zu schicken als Ausdruck ihrer Dankbarkeit für die geleistete Gesellschaft.

Wenn sie morgen noch am Leben war!

Ilse Brade lächelte. »Es ist, als kennten Sie meine Garderobe, Fräulein Kattner! Ich brauche tatsächlich etwas für den Nachmittag ...«

Sie wurde unterbrochen durch das Klingeln des Telefons, das im selben Zimmer in der Nähe des Ofens stand. Ehe sie sich erhob – sie hatte es für heute übernommen, Anrufe zu beantworten –, sah sie, daß Rita erschrocken zusammengefahren war! Armes Mädel! dachte sie mitleidig. Sie konnte ihr aber über diese bösen Stunden des Wartens auf ein unbekanntes Schicksal nicht anders hinweghelfen, als sie es tat.

»Bei Kattner!« antwortete sie am Fernsprecher. – »Aber, Herr Nissen!« entgegnete sie lachend, offenbar auf eine dahinzielende Bemerkung des Anrufers. »Sie brauchen sich wirklich keine Sorge zu machen. Wir sitzen hier sehr gemütlich zusammen. Augenblick, ich rufe Ihre Verlobte an den Apparat. Auf Wiedersehen, Herr Nissen!«

Rita Kattner nahm den Hörer und unterhielt sich eine kurze Weile mit Horst Nissen, der sich erkundigte, was sie mache und wie es ihr gehe. Ilse Brade bewunderte, in welch vollendeter Weise sich Rita bei dem Gespräch beherrschte. In ihrer Stimme war nichts von der Aufregung zu spüren, in der sie sich befand.

Als Rita wieder saß, griff sie nach dem Glas, das Ilse Brade inzwischen wieder vollgeschenkt hatte. Ihre Hand zitterte.

Gerade als sie das Glas wieder niedersetzen wollte, klingelte das Telefon von neuem. Rita erschrak so sehr, daß sie aufschrie und das Glas so hart auf den Tisch aufsetzte, daß zunächst der Fuß abbrach und dann noch der auf den Tisch stürzende Kelch zersplitterte. Auch der alte Kattner war am Ende seiner Selbstbeherrschung. Er sprang auf, als seine Tochter schrie, nahm sich aber sofort zusammen und setzte sich schnell wieder.

Ilse Brade meldete sich. Es war Fritz Ruh, der sich entschuldigte und um Mitteilung über die Lage bat. Es sei ihm unmöglich, ohne Nachricht zu bleiben. Fräulein Brade gab Auskunft und beendete das Gespräch, ohne Rita heranzurufen, da Ruh nicht nach ihr verlangt hatte und Rita Kattner offenbar in einer derartigen Verfassung war, daß sie das Gespräch mit Ruh kaum so überlegen hätte führen können wie das mit ihrem Verlobten.

Als Ilse zum Tisch zurückkehrte, sah sie, daß Rita mit einem entsetzten Gesichtsausdruck auf ihre Rechte starrte. Aus dem Zeigefinger quoll etwas helles rotes Blut, das, als der Tropfen zu groß und dick geworden war, langsam am Finger zum Handteller herunterglitt. Rita hatte sich an dem zerbrechenden Glas ein wenig geschnitten.

Ilse lachte laut auf und beugte sich über Rita Kattner. Sie legte den Arm um ihre Schultern und schüttelte das Mädchen.

»Rita, was bist du dumm!« sagte sie mit weicher Stimme, in der noch das Lachen mitschwang. Keiner bemerkte das vertrauliche Du, das Staps' Sekretärin auf einmal anwandte.

Ilse hob die Hand Ritas etwas höher. »Sieh doch mal her, Rita, Kind! Es ist nichts weiter als ein winziger Schnitt. Nimm dein Taschentuch und wische das bißchen Blut ab. Wir wollen dann den Finger kunstgerecht verbinden, damit du wenigstens etwas von diesem denkwürdigen Abend hast. Denn daß unser Herr Gläubiger noch auftaucht, das glaube ich nie und nimmer.«

Rita sah auf und blickte in das strahlende, fast übermütige Gesicht der neugewonnenen Freundin. Nach und nach entspannte sich ihr Gesicht und es erschien etwas wie ein kleines Lächeln darauf. Es war zwar noch reichlich armselig, dieses Lächeln, aber es bewies, daß sich Rita inzwischen etwas gefangen hatte.

»Du bist wirklich ein netter Kerl, Ilse, daß du dir um mich dumme, hysterische Pute so viel Mühe gibst.«

»Hast du dir nicht ernstlich weh getan, Rita?« fragte aus der Tiefe seines Sessels der alte Kattner. Er sah ungeheuer müde aus, als erwarte er sehnsüchtig, daß man ihm erlaube, ins Bett zu gehen.

»Ach wo, Vater!« Rita ging zu Kattner hinüber, streichelte ihm das weiße Haar und gab ihm einen Kuß auf die Wange. Der alte Kattner drückte seine Tochter zärtlich an sich. Sie mußte sich aus seinen Armen frei machen, um mit Ilse Brade in ihr Schlafzimmer gehen zu können, wo sie das Nötige hatte, mit dem sie die kleine Wunde am Finger behandeln konnte.

Die beiden Mädchen standen vor einem Wandschrank, in dem Rita Kattner alles untergebracht hatte, was zur Schönheitspflege und zur Apotheke gehörte. Sie reichte Ilse eine Schachtel mit Schnellverband und eine Schere.

Ilse Brade schnitt ein passendes Stück von dem Streifen ab und griff nach der Hand Rita Kattners. Aber Rita bat:

»Einen Augenblick! Ich will erst etwas Heilsalbe darauf tun. Sie soll die Wunde schnell schließen.«

Rita nahm mit der Linken ein kleines Porzellantöpfchen von ihrem Toilettentisch, entfernte den Deckel und hielt Ilse die verletzte Rechte hin, um das Taschentuch abzuwickeln. Das Blut quoll nur noch ganz wenig heraus und Ilse stellte fest, daß der Schnitt wirklich sehr klein sei.

»Ja«, nickte Rita, »aber er ist ziemlich tief und mir wäre es lieb, wenn er schnell wieder zuheilte. Man ist so ungeschickt, wenn man etwas an der Hand hat.«

Damit strich sie ein wenig von der weißen Salbe auf. Sie war so in ihr Tun vertieft, daß sie gänzlich ihre Sorgen und Ängste vergaß.

Ilse schnupperte. »Das riecht gut! Als habe man soeben frische Mandeln gebrüht, um sie abzupellen. Außerdem scheint eine Spur von Parfüm beigemischt zu sein. Wo hast du die Creme her, Rita? Wenn sie dir schnell hilft, möchte ich mir auch welche zulegen.«

»Sie wurde mir kürzlich als Muster zugeschickt.«

»Nanu? Als Muster? Du bist aber vornehm! Mir schickt niemand Muster in Toiletteartikeln.«

»Ich bekomme öfters so etwas«, erwiderte Rita, während sie Ilse Brade den Finger zum Auflegen des Schnellverbandes hinhielt.

Dann schloß sie den Porzellantopf und die beiden Mädchen gingen ins Wohnzimmer zurück.

Auf dem Korridor sagte Rita: »Mir ist aber komisch! So viel habe ich doch gar nicht getrunken!'

Als sie das Wohnzimmer betrat, taumelte sie leicht und plötzlich fiel sie zusammen.

Diesmal war es der alte Kattner, der wie ein Irrsinniger aufschrie. Er sprang hoch und stürzte mehr, als er ging, zu seiner Tochter, die reglos auf dem Teppich lag.

Schneller noch als er kniete Ilse Brade bei Rita. Mit zitternder Hand faßte sie nach ihrem Puls und blickte ihr bang forschend ins Gesicht. Dann erhob sie sich mühsam; sie schwankte und mußte sich stützen. Nicht zum erstenmal befand sie sich in einer solchen Lage, dafür sorgte die Zusammenarbeit mit dem Kriminalisten Staps, und es war ihr nie gleichgültig gewesen, wenn sie neben einem Menschen gestanden hatte, der auf so gewaltsame Art plötzlich aus dem Leben gerissen worden war. Diesmal aber traf es sie ganz anders; denn in den Tagen ihres ständigen Beisammenseins hatte sie Rita kennen und schätzen gelernt.

Doch nicht lange dauerte ihre Schwäche, dann kehrte ihre Energie zurück und zwei Gedanken zwangen sie zu raschem Handeln: helfen, wenn Hilfe vielleicht doch noch möglich war, und Staps und die Polizei rufen, damit der Schuft möglichst bald gefaßt werden konnte.

Sie eilte zum Telefon und rief den Polizeiarzt Dr. Weißke an.

»Hier Brade, Privatsekretärin von Dr. Staps. Herr Doktor, kommen Sie bitte umgehend her, Buchhändler Kattner, Hermannstraße siebzehn. Es scheint ein erwarteter Mord oder Mordversuch an der Tochter Rita Kattner verübt worden zu sein.«

Weißke sagte ohne Zögern sein sofortiges Erscheinen zu und Ilse verband sich mit Dr. Staps, der in seinem Büro am Telefon saß. Ihre Meldung war kurz:

»Brade! Es ist geschehen, Herr Doktor! Ich habe Dr. Weißke hergebeten.«

Auf Staps' Anweisung hin verständigte sie noch Kriminalkommissar Förster vom Morddezernat. Da man im Polizeipräsidium wußte, daß sie die Privatsekretärin des kleinen Professors war, hatte sie sofort die gewünschte Verbindung erhalten.

Dann kehrte sie zu Rita zurück und mußte zu ihrem Schmerz erkennen, daß Hilfe nicht mehr möglich war. Rita Kattner war tot.

Der alte Kattner kniete neben seiner Tochter. Er war im Augenblick nicht zurechnungsfähig. Das Taumeln und dann das Hinfallen Ritas hatte seinen Nerven, die durch das stundenlange Warten auf irgend etwas Schreckliches schon bis zum äußersten angespannt gewesen waren, einen derartigen Schock versetzt, daß er gar nicht mehr wußte, was geschehen war, noch weniger, daß überhaupt etwas erwartet worden war.

»Rita, kleine Rita! Was hast du nur? Du kannst doch nicht hier schlafen! Das ist unbequem! Komm, Kleines, steh auf, ich bringe dich ins Schlafzimmer hinüber.«

Ununterbrochen murmelte er Ähnliches zu der Toten, und dabei streichelte er ihr Haar, ihr Gesicht, versuchte sie an den Schultern hochzuzerren.

Ilse Brade war erschüttert. Helfen konnte sie im Augenblick nicht, nur beruhigen. Sie legte die Hand auf die Schulter des Mannes.

»Stehen Sie auf, Herr Kattner, und kommen Sie mit mir. Sie müssen Rita jetzt ausruhen lassen, sie ist zu müde, um aufzustehen. Ich werde sie nachher hinüberbringen.«

Kattner sah mit leeren Augen auf. »Sie ist müde, nicht wahr? Sie sehen es auch, Fräulein ...« Hilflos blieb er stecken, er hatte Ilse Brades Namen vergessen.

»Rita muß jetzt weiterschlafen, Herr Kattner. Wir wollen sie nicht stören. Kommen Sie!«

Sie erreichte, daß der alte Mann aufstand und mit ihr in sein Arbeitszimmer ging. Auf dem Vorsaal sah er sich noch ein paarmal nach der Wohnzimmertür um, die Ilse Brade abgeschlossen hatte.

Im Zimmer Kattners geleitete sie ihn zur Couch und brachte ihn durch einen sanften Druck auf die Schultern dazu, daß er sich hinlegte. Dann breitete sie eine Decke über ihn.

Der Alte sah dankbar zu ihr auf und streichelte ihre Hand.

»Ich bin so müde, Fräuleinchen! So müde wie Rita!«

Er drehte den Kopf nach der Wand und seufzte, wie ein Mensch es kurz vor dem Einschlafen manchmal tut.

Es ist das beste, wenn er jetzt schläft! dachte Ilse. So kommt er über den ersten seelischen Stoß hinweg.

Und nun hatte Ilse Brade noch eine sehr schwere Aufgabe, sie mußte die alte Lina von dem Vorgefallenen unterrichten. Denn die Wirtschafterin hing sehr an Rita, das wußte Ilse.

Die alte Frau hatte sich besser in der Hand, als Ilse erwartet hatte. Als sie vorsichtig sagte: »Lina, mit Rita ist etwas geschehen«, sah die Wirtschafterin das junge Mädchen an. Das Gesicht der Alten verfiel in Sekundenschnelle, blieb aber unbeweglich. Sie stellte behutsam den Teller, den sie in der Hand hielt, auf den Küchentisch nieder und fragte:

»Ist Fräulein Rita tot?«

Ilse Brade nickte. »Ja, Lina!«

»Der arme Herr!«

Ilse Brade pflichtete den Gedanken der Alten bei, aber sie erzählte ihr nicht, wie Kattner das Geschehen hingenommen hatte. Sie gab nur kurz Aufklärung, daß sich der Buchhändler jetzt in seinem Zimmer ausruhe, und kündigte das Kommen der Mordkommission und ihres Chefs an.

Ilse hatte noch nicht fertig gesprochen, als es klingelte. Sie winkte der alten Lina ab, die hinauseilen wollte, und ging selbst, die Tür zu öffnen.

Es war die Mordkommission. Kriminalkommissar Förster begrüßte Ilse Brade freundlich, die er von der Zusammenarbeit mit dem Professor kannte. Er ließ sich gleich im Vorsaal kurz von dem Vorgefallenen berichten.

Förster war von seinem engsten Mitarbeiter Inspektor Lehmann begleitet, mit dem Ilse auch schon zu tun gehabt hatte, von Inspektor Opitz, dem Sachverständigen für Fingerspuren, und Inspektor Lampe, dem Polizeifotografen.

Nun schloß die Sekretärin das Wohnzimmer auf, in dem sie vor kurzem zu dritt gesessen, gelesen und geplaudert hatten. Sie blieb an der Tür stehen und ließ die Herren eintreten. In diesem Augenblick klingelte es wieder und der Polizeiarzt Dr. Weißke reichte Ilse Brade in väterlich freundlicher Weise die Hand.

»Na, Ilselein! Wieder ein Toter, oder kann ich noch helfen?«

»Leider nicht, Doktor!« Ilse sah ihren Chef die Treppe heraufkommen. »Bitte, Doktor, gehen Sie immer in das Zimmer dort, die Herren von der Mordkommission sind schon drin.«

Ilse Brade blickte ihrem Chef entgegen, und sie bemerkte ohne Schwierigkeit, daß er wütend war. Er grüßte nicht, sondern fauchte sie zornig an:

»Wozu schicke ich Sie denn zur Bewachung her, Sie verdammtes Frauenzimmer? Damit Sie Ihren Schützling vor Ihren eigenen Augen mit aller Gemütsruhe ermorden lassen? Können Sie denn nicht einmal bei einer so heiklen Aufgabe ein bißchen aufpassen?«

Er riß sich mit heftigen Bewegungen den Mantel von den Schultern und warf ihn auf einen Haken der Kleiderablage, der Hut folgte mit einem gleichen harten Schwung.

Ilse, die die Ruhe bewahrt hatte, wenn es ihr auch schwerfiel, wunderte sich, daß der Haken den Hut nicht durchbohrte. Sie wußte genau, daß sie die Worte des Professors nicht auf die Goldwaage legen durfte. Staps fühlte sich wohl in seiner Ehre gekränkt, weil er den Mord nicht hatte verhindern können. Aber das war sicher nicht der einzige Grund für seinen Zorn. Er war ein viel zu gütiger Mensch, um nur an sich selber zu denken, und trotz seines ewigen Tobens gegen die Frauen bedauerte er bestimmt, daß das Leben der schönen Rita so schroff abgeschnitten worden war. Sie erwiderte daher nichts. Auch dieser Sturm würde, wie so mancher andere, vorübergehen.

Staps betrachtete seine Sekretärin, die gleichmütig vor ihm stand, ohne Furcht und ohne Bitte um Beherrschung. Und Staps, der große Geist, nahm sich angesichts dieses selbstsicheren und im Grunde sehr geschätzten Mädchens zusammen. Ja, er überwand sich in einer von Ilse nicht erwarteten Weise. Er streckte ihr die Hand hin und bat: »Bradelchen!«

Ilse lächelte ernst und nahm die Hand ihres Chefs.

Staps atmete ein wenig auf. Wirklich, er hätte sich nicht so gehen lassen dürfen. »So!« sagte er gleichsam abschließend. »Geben Sie mir ganz schnell einen Überblick über das Vorgefallene, und dann wollen wir hineingehen.«

»Soso!« murmelte Staps, als sie fertig war. »Blausäure! Keine Gegenwart des Mörders! Na, da kann uns niemand einen Vorwurf machen.«

Chef und Sekretärin fanden die Mordkommission in voller Tätigkeit, als sie das Wohnzimmer betraten.

Kommissar Förster begrüßte Staps: »Sie sind in die Sache eingeweiht, Sie bearbeiten Sie schon seit ein paar Tagen? Das wird meine Arbeit natürlich wesentlich erleichtern.«

Er sah sich im Raum um, bemerkte, daß an dem runden Tisch die Stehlampe brannte und auf dem Tisch benutzte Gläser standen. Deshalb zog er Staps und Ilse Brade nach einem viereckigen Tisch in der Nähe des Ofens. Dabei drehte er den Kopf in das Zimmer und rief: »Lehmann, seien Sie bitte so freundlich und setzen Sie sich zu uns! Ich möchte, daß Sie die Aussage von Fräulein Brade und den Bericht von Dr. Staps gleich ins Stenogramm nehmen.« Und dann: »Opitz und Lampe, untersuchen Sie auch den runden Tisch und die Gläser genauestens. Passen Sie bei dem zerbrochenen Glas auf! Unser Chemiker wird es zur Untersuchung brauchen.« Als er sah, daß Ilse Brade bei seinen Worten den Kopf schüttelte, fügte er hinzu: »Lassen Sie sich durch das Fräulein Sekretärin nicht beeinflussen, das da behauptet, an dem Glas sei nichts. Auch wenn sie recht hätte, wollen wir doch gründlich vorgehen und nichts übersehen.«

Unaufgefordert setzte sich auch der Polizeiarzt an den Tisch, ein älterer, bedächtiger, freundlicher Herr. Er gab nur kurz sein Urteil ab: »Fräulein Kattner ist tot. Ich kann nicht feststellen, wodurch sie den Tod fand, das muß die Leichenöffnung ergeben. Die Wunde am rechten Zeigefinger erscheint mir unwichtig. Es ist ein kleiner, frischer Schnitt. Da Fräulein Brade bei dem Tod anwesend war, brauche ich den Zeitpunkt ausnahmsweise einmal nicht festzustellen.«

Kommissar Förster konnte sich nicht verkneifen, dem Arzt spöttisch entgegenzuhalten: »Was Ihnen sehr angenehm ist, nicht wahr, Doktor? Für euch Mediziner ist doch unsere Frage nach dem Zeitpunkt des eingetretenen Todes immer äußerst peinlich!« Förster griff damit wieder einmal den ewigen Streitpunkt zwischen ihm und sämtlichen Polizeiärzten auf, mit denen er es bisher zu tun gehabt hatte.

Dr. Weißke nickte dem Kommissar freundlich zu. Sein gutes Großvatergesicht war in keiner Weise erschüttert, er kannte das Steckenpferd des Kommissars. »Sie haben nicht unrecht, Förster, es ist mir sehr angenehm. Ich brauche Ihnen doch nicht meine Ihnen mindestens schon zehnmal erläuterte Erklärung vorzutragen, daß die Natur sich nicht ins Handwerk pfuschen läßt. Wenn sie ein Geheimnis nicht preisgeben will, gibt sie es nicht preis. Und ein solches Geheimnis ist nicht nur der Tod selbst, sondern auch die Minute, in der er den Menschen heimsucht. Wir verfügen nur über Anhaltspunkte, die eine ungefähre Angabe ermöglichen.«

»Der genaue Zeitpunkt des Todes Rita Kattners war achtzehn Uhr siebenunddreißig, Herr Kommissar«, gab Ilse Brade die so ersehnte Auskunft und beendete damit die freundschaftliche Auseinandersetzung.

Förster beugte sich über ein Blatt Papier, das er vor sich hingelegt hatte, um in Stichworten die wichtigsten Momente dieser Sache zu notieren. Die erste Zeile wies den Namen »Rita Kattner« auf, die zweite trug die Zeitbezeichnung »18.37 Uhr«. Außerdem legte er die reichlich große Taschenuhr vor sich hin. Dann bat er:

»Zunächst möchte ich Ihre Aussage hören, Fräulein Brade, da Sie ja bei dem Tod zugegen waren.«

Ilse folgte der Aufforderung und erzählte, indem sie die Vorgeschichte aufs kürzeste zusammenfaßte:

»Dr. Staps war ersucht worden, den Schreiber von anonymen Briefen, in denen Rita Kattners Leben bedroht wurde, festzustellen. Als der vierte und letzte Brief eintraf, der den Zeitpunkt des Todes mit spätestens heute abend angab, wurde ich beauftragt, Fräulein Kattner bis zum Ablauf dieser Frist ununterbrochen Gesellschaft zu leisten, um sie zu schützen.«

Kommissar Förster unterbrach. »Welche Sicherungsmaßnahmen hatten Sie getroffen, Fräulein Brade?«

»Ich hielt mich dauernd in der Nähe von Fräulein Kattner auf und trug meine Pistole bei mir.« Ilse Brade öffnete die Handtasche, die vor ihr auf dem Tisch lag, und holte daraus eine kleine, aber sehr zuverlässige Waffe heraus, die sie neben die Tasche legte. »Waren wir allein, das heißt in der Wohnung hier, so wandte ich keine besonderen Vorsichtsmaßregeln an. Waren wir mit einem Fremden zusammen, so hatte ich die Waffe stets schußbereit. Waren wir endlich in einer Menge Menschen, so beschränkte ich mich aufs Aufpassen. Ein Mordversuch unter mehreren Menschen war unwahrscheinlich, da der Täter sofort gefaßt worden wäre.« Ilse Brade machte eine kleine Pause der Überlegung. »Ich trat meinen Wächterposten am letzten Freitag, nachmittags sechs Uhr, an; heute ist Montag. Es ereignete sich nicht das geringste, das einen Angriff oder ähnliches erwarten ließ. Heute war der Vater Fräulein Kattners den ganzen Tag zu Hause, und auch wir verließen die Wohnung nicht. Verständlicherweise war die Stimmung aufs äußerste gespannt.«

Damit kam Ilse zu den Ereignissen, die sich ab etwa achtzehn Uhr abgespielt hatten, und Kommissar Förster stellte folgende Zeittabelle auf:

ab 17 Uhr 40: Zusammensitzen von Heinrich Kattner, Rita Kattner und Ilse Brade in Rita Kattners Wohnzimmer um den runden Tisch unter der Stehlampe. Schnapstrinken.

18 Uhr 15: Anruf Nissen.

18 Uhr 22: Anruf Ruh; Schnittwunde Rita Kattners am zerbrochenen Glas.

18 Uhr 27: Betreten des Schlafzimmers Rita Kattners.

18 Uhr 34: Aufstreichen der Wundsalbe.

18 Uhr 37: Tod Rita Kattners.

18 Uhr 40: Anruf bei Dr. Weißke.

18 Uhr 42: Anruf bei Dr. Staps.

18 Uhr 44: Anruf bei der Mordkommission.

18 Uhr 58: Eintreffen der Mordkommission.

Er betrachtete die Aufstellung sinnend und schüttelte nach einer Weile den Kopf. »Eigentlich haben wir für diese Zeitfestlegung gar keine Verwendung. Auch die ganze Arbeit von den Inspektoren Opitz und Lampe, das Suchen nach Spuren, das Fotografieren der Lage der Leiche und des Zimmers, ist für die Katze. Denn das alles steht in keinem Zusammenhang mit dem Täter, der so feige aus dem Hinterhalt zugeschlagen hat. Jetzt sagen Sie uns bitte noch, Fräulein Brade, wie Sie zu der Behauptung kommen, es läge eine Blausäurevergiftung vor.«

»Behaupten kann ich es nicht, Herr Kommissar, aber ich habe einen starken Verdacht, daß es so ist. Die Wundsalbe, die Fräulein Kattner auf die kleine, aber offene Wunde aufgestrichen hat, roch kräftig nach Mandeln. Blausäure wirkt sehr stark, und Rita Kattner ist wenige Minuten – an sich schon ein langer Zeitraum – nach dem Aufstreichen der Salbe gestorben. Ich kann mir die Dauer von drei ganzen Minuten zwischen Aufstreichen der Creme und Eintritt des Todes nur dadurch erklären, daß die Blausäure wenig konzentriert und außerdem mit irgendeiner Schönheitscreme gemischt war, so daß die übliche blitzschnelle Wirkung nicht eintreten konnte.«

»Was können Sie uns über die Herkunft dieser Salbe sagen?«

»Wenig, Herr Kommissar! Rita Kattner sagte mir, sie habe vor ein paar Tagen – sie hat mir nicht einmal das genaue Datum genannt, und ich hatte keinen Grund, danach zu fragen – eine Probesendung erhalten, wie sie dies mit andern Schönheitsmitteln bereits mehrere Male erlebt hatte.«

Inspektor Lehmann machte sich auf einem gesonderten Blatt eine Notiz. Er hatte vorweggenommen, was sein Chef jetzt sagte: »Wir werden nachher versuchen müssen, festzustellen, woher die Sendung stammt. Kamen Ihnen keine Bedenken, Fräulein Brade, als sie den starken Mandelgeruch verspürten? Sie sind doch später auf die Verwendung von Blausäure gekommen, als Rita Kattner bereits tot war.«

Ilse Brade gab ohne Verlegenheit und Schuldgefühl Auskunft: »Ich hatte keine Veranlassung, gegen die Mustersendung mißtrauisch zu sein, da Rita Kattner, wie sie sagte, nicht nur diese eine erhalten hatte. Über den Geruch haben wir uns unterhalten und waren beide der Meinung, es sei ein Parfümzusatz zu einem andern Parfüm, das einen ganz leichten Untergrund bildete, wenn ich mich so ausdrücken darf. Die Hersteller von Schönheitsmitteln verfallen auf so vieles, um ihren Erzeugnissen einen besonderen Duft zu verleihen, und frische Mandeln riechen doch wirklich nicht unangenehm.«

»Schön! Das wäre wohl alles, was wir von Ihnen erfahren können, Fräulein Brade. Ich danke Ihnen für Ihre Aussage! Nun bitte ich Sie, Professor, mir ein Bild der ganzen Sache zu geben.«

Staps kam der Aufforderung nach und krächzte sein Wissen herunter. Er sprach von Rita Kattner und Nissen, die er kennengelernt hatte, als sie ihm den Auftrag zur Klärung brachten. Er nannte die Personen, die mit Rita Kattner in Verbindung gestanden hatten. Und endlich überreichte er dem Kommissar eine Abschrift der vier Briefe.

»Sie können sich nicht denken, wer von diesen Freunden und Bekannten Rita Kattners als Mörder in Frage kommt, wer der Gläubiger sein könnte?«

»Nein!« krächzte Staps entschieden. »Jeder und keiner kommt in Frage. Wenn man sucht, findet man, daß jeder einen Vorteil von dem Verschwinden des jungen Mädchens haben könnte. Und der Begriff einer Schuld, die jemand zum Gläubiger macht, ist so dehnbar, daß die Feststellung, weder Rita Kattner noch Horst Nissen hätten eine nennenswerte Geldschuld gehabt, uns nicht weiterbringt. Jeder einzelne der Männer aus dem Freundeskreis kann eifersüchtig auf den andern gewesen sein und das Mädchen lieber vernichtet haben, als sie einem andern zu gönnen. Auch für die Frauen in Rita Kattners Umgebung kann das gleiche Motiv gegeben sein. Sie konnten ihre jeweiligen Männer, Geliebten oder Verlobten, von ihr befreien wollen. Das Motiv für die Tat ist mir vorläufig noch völlig schleierhaft.«

Der Kommissar klopfte auf die vor ihm liegenden Briefabschriften. »Glauben Sie nicht doch, Professor, daß eine regelrechte Forderung in Frage kommt? Der Gläubiger spricht ja im ersten Brief einwandfrei und nüchtern von Geld!«

»Aber weder die Kattner noch Nissen hatten Schulden!« warf Staps ungeduldig ein.

»Es brauchen keine Schulden zu sein, sondern unberechtigte, unbegründete Forderungen«, gab der Kommissar zu bedenken. »Na, lassen wir vorläufig diese zwecklosen Überlegungen. Wir werden die Herrschaften der Reihe nach vernehmen, vielleicht ergibt sich daraus etwas Brauchbares. Jetzt wollen wir erst einmal nach dem Ursprung der Mustersendung suchen.«

Seine Bemühungen förderten jedoch weder im Wohnzimmer noch im Schlafzimmer Rita Kattners etwas zutage. Förster und sein Inspektor gingen schließlich unaufgefordert, begleitet von Ilse Brade, in die Küche. Hier fanden sie die alte Lina vor, die am Küchentisch saß und still vor sich hin weinte. Ilse gab mit leiser Stimme kurz Aufschluß über die Wirtschafterin, was zur Folge hatte, daß der Kommissar sehr zart und liebenswürdig mit der Alten umging, die sich in bewunderungswürdiger Weise zusammennahm.

Das Ergebnis der Befragung und des gleichzeitigen Suchens war, daß Rita Kattner die Sendung am vorigen Freitag mit der Frühpost erhalten hatte. Man fand im Kohlenkasten die Verpackung mit der unversehrten Anschrift. Aber außer dem Poststempel, der wieder auf das Innere der Stadt hinwies, war nichts daraus zu entnehmen. Die Anschrift war mit Maschine geschrieben und wies keinen Absender auf. Die Anpreisung der neuen Creme und ihre Gebrauchsanweisung waren mit der gleichen Maschine geschrieben worden, was Staps' Sekretärin nach kurzer Prüfung feststellte.

Während man noch über die Sache hin und her redete, wandte sich Ilse Brade an Dr. Weißke. Sie berichtete ihm über das Verhalten des alten Kattner und bat ihn, sich seiner anzunehmen. Der Arzt ließ sich sofort den Weg zeigen und betrat mit Ilse das Wohnzimmer Kattners. Das junge Mädchen hatte vorhin die Schreibtischlampe angebrannt und den Schirm so weit heruntergedrückt und vom Zimmer abgewandt, daß eine Art Dämmerung in dem Zimmer herrschte.

Jetzt drehte sie die Mittellampe an, da Dr. Weißke Licht brauchte und der alte Kattner durch die Untersuchung sowieso geweckt werden mußte. Er lag noch genau so, wie Ilse ihn verlassen hatte, mit dem Gesicht zur Wand.

Weißke beugte sich über ihn und redete ihn an, wobei er die Hand auf die Schulter des Schläfers legte und ihn sanft herumdrehte. Kattner antwortete nicht. Da beugte sich der Arzt aufmerksam noch tiefer und schob mit beiden Händen das Gesicht dem Licht zu.

Das Antlitz des alten Mannes war sehr friedlich, die Augen blickten aus den halbgeschlossenen Lidern unbeweglich ins Zimmer und ins Licht.

»Ilselein!« rief Weißke mit behutsamer Stimme.

Ilse Brade hatte den Arzt beobachtet, deshalb fragte sie: »Ist er tot?«

»Ja, Ilselein! Und nach dem, was Sie mir erzählt haben, ist es wohl das beste so!«

Er untersuchte Heinrich Kattner und kam zu dem Schluß, daß er wahrscheinlich an Herzschwäche gestorben sei, und er setzte den Zeitpunkt auf knapp vor drei Stunden fest. Ilse Brade sah auf die Uhr an ihrem Handgelenk, es war halb zehn Uhr abends.

»Der alte Kattner muß fast in dem Augenblick gestorben sein, als ich ihn verließ«, sagte sie. »Wahrscheinlich war das, was ich für ein Einschlafen hielt, die einsetzende Schwäche und der Tod. Ich gönne ihm diesen schmerzlosen Abschluß des Lebens. Nach dem, was ich in den letzten Tagen beobachtet habe, hätte er sich nie von dem Schlag erholt, der ihn heute getroffen hat.«

Als Dr. Weißke und Ilse Brade diese Nachricht zu den andern brachten, fragte der Kommissar: »Was machen wir mit den Toten? Hatten die beiden Kattners Verwandte?«

»Nein«, antwortete Ilse. »Rita hat mir erzählt, daß sie völlig allein dastünden und weder von ihres Vaters noch von ihrer Mutter Seite aus irgend jemand vorhanden sei. Aber ich glaube, daß sich der Verlobte Ritas, der Fabrikant Horst Nissen, der Aufgabe unterziehen wird, den Nachlaß zu ordnen.«

»Schön! Ich will ihn gleich noch verständigen, und dann wollen wir gehen. Hier können wir doch nichts mehr ausrichten.«

Während Förster mit Nissen telefonierte, der in angstvoller Spannung auf einen Anruf gewartet hatte, begab sich Ilse Brade in die Küche, um der alten Lina die neue traurige Botschaft zu bringen.

Lina saß wieder am Küchentisch, untätig und erschüttert. Ilse zog sich einen Stuhl heran und legte den Arm liebevoll um den Hals der Alten. In den wenigen Tagen, die sie hier verlebt hatte, war eine große Zuneigung zu der Wirtschafterin in ihr aufgeblüht. Die Frau hatte etwas Mütterliches, und das wirkte auf die alleinstehende Ilse ebenso stark, wie Rita Kattner es empfunden hatte.

Nachdem sie ihr schonend mitgeteilt hatte, daß nun auch ihr Brotgeber nicht mehr unter den Lebenden weile, schlug sie vor:

»Lina, ich habe zwei Zimmer. Kommen Sie doch für einige Zeit zu mir! Sie können nicht allein hier bleiben.«

Die alte Frau schluchzte auf. »Das kann ich doch gar nicht annehmen, Fräulein Brade!«

»Von annehmen ist gar keine Rede, Lina! Sehen Sie mal, mich läßt das, was heute hier geschehen ist, auch nicht gleichgültig, um so mehr, als ich Rita nicht habe schützen können. Wenn ich heute nacht nicht allein zu sein brauchte, wäre mir das eine große Erleichterung, und nicht ich tue Ihnen einen Gefallen, sondern Sie helfen mir.«

Die Wirtschafterin stand auf und reichte dem jungen Mädchen die Hand, das sie warm drückte. »Dann werde ich mir gleich ein paar Sachen fertigmachen, Fräulein Brade.«

»Ilse heiße ich!« sagte Ilse Brade, und Lina nickte.

Als Dr. Staps durch seine Sekretärin von der vorübergehenden Umsiedlung der alten Lina erfuhr, da er ja wissen mußte, wo sich die Zeugin aufhielt, knurrte er: »Können Sie bei Ihrer Wirtin noch ein Zimmer abmieten, Fräulein Brade?«

Ilse sah erstaunt in das Gesicht ihres Chefs, dessen Augen jetzt den gütigen Ausdruck hatten. Sie nickte. »Ich glaube, das ließe sich machen, Herr Doktor. Soviel ich weiß, hat Frau Meister noch ein kleines Zimmer übrig, allerdings ist es mehr eine Kammer.«

»Reicht es für ein bescheidenes Schlafzimmer?«

»Bestimmt!« Ilse Brade wurde immer neugieriger.

»Schön, Bradelchen! Warten Sie mal – das Zimmer wird zwanzig Mark kosten, dazu dreißig Mark Lohn und dreißig fürs Essen, macht zwanzig – fünfzig – achtzig Mark! Sie beziehen von heute ab achtzig Mark mehr Gehalt von mir, und die alte Lina bleibt bei Ihnen.«

»Herr Doktor!« rief Ilse strahlend. »Vielen, vielen Dank!«

»Unsinn – Dank!« fauchte der kleine Professor wütend, und seine Augen kniffen sich zusammen. »Ich tue das nur meinetwegen. Denn wenn Sie sich nicht um Ihre Wirtschaft zu kümmern brauchen, haben Sie mehr Zeit für Ihre Arbeit bei mir!«

So kam Ilse Brade zu einer Wirtschafterin.

* * *

 


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