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Horst Nissen war nach der Verabschiedung von Rita zum Burgkeller gefahren, wo er bereits von Dr. Felix Schwarz erwartet wurde.

Das Essen war vorüber. Man saß bei einer Zigarre und schwarzem Kaffee und trank einen guten, kräftigen Genever dazu.

»Sie haben mich hierher bestellt, Herr Doktor. Sie wollen doch bestimmt mit mir noch einmal die Möglichkeit besprechen, Ihnen bei der Ausnutzung Ihrer Erfindung behilflich zu sein?«

»Richtig, Herr Nissen!« bestätigte Dr. Schwarz. »Sie wissen ja, worum es sich handelt. Der Filter, den ich gebaut habe, dichtet jeden Rundfunkempfänger zuverlässig gegen Störungen ab. Keine Straßenbahn, kein Schalter, kein Motor kann mehr lästige Geräusche verursachen, die dem Musikfreund bisher so sehr die Freude vergällen konnten. Wenn der Schwarz-Filter, wie ich ihn nenne, zwischen Steckdose und Apparat eingefügt wird, kann man sicher sein, einen einwandfreien Empfang zu haben. Daß dies eine Tatsache ist und nicht von mir als Erfinder nur behauptet wird, haben Ihnen die Gutachten mehrerer Sachverständiger bewiesen.« Dr. Schwarz legte eine kleine Pause ein, während der er sich eine Zigarre anbrannte. Dann fuhr er fort: »Sie haben schon einmal abgelehnt, mir Geld zur Verfügung zu stellen, um eine Fabrik zur Auswertung meiner Erfindung aufzubauen. Trotzdem trete ich nochmals an Sie heran. Denn inzwischen habe ich die letzten Feinheiten an dem Filter herausgearbeitet, so daß nicht das geringste mehr daran zu vervollkommnen ist. Und schließlich weiß ich doch, daß Sie sich bisher häufig an aussichtsreichen Sachen beteiligt haben.«

»Sie übersehen dabei nur zweierlei, Herr Doktor«, erwiderte Nissen ruhig und liebenswürdig. »Erstens handelt es sich bei Ihnen nicht um eine Beteiligung, sondern um ein Darlehen. Sie wünschen die Beteiligungsform ja nicht, um das Unternehmen allein in der Hand behalten zu können. Ein Darlehen aber ist für einen Geschäftsmann immer unsicherer und weniger gewinnbringend als eine Beteiligung ...«

Schwarz unterbrach: »Sie kennen die Sicherheiten, die ich biete, Herr Nissen, und die sind doch wirklich ausreichend.«

»Schon möglich, Herr Doktor! Ich habe sie nicht geprüft, da ich – und das ist die zweite Begründung meiner Ablehnung – überhaupt nicht beabsichtige, mich zur Zeit in irgendeiner Form in ein neues Geschäft einzulassen.«

»Das Schwarz-Filter ist eine vielversprechende Sache, Herr Nissen! Das Darlehen, das Sie mir zur Verfügung stellen würden, wäre für Sie gut angelegtes Geld. Ich habe Ihnen einen sehr beachtlichen Zinsfuß vorgeschlagen. Sie hätten da also eine ungewöhnlich günstige Kapitalanlage.« Dr. Schwarz war hartnäckig.

Horst Nissen betrachtete das Gesicht seines Gegenübers prüfend. Er kannte Schwarz sehr gut und schon seit langem. Die Firma Nissen & Co. stand seit vielen Jahren mit der Firma Radio-Engels, deren Prokurist Dr. Schwarz war, in geschäftlichen Beziehungen. Trotzdem war Nissen zu Schwarz nicht in nähere Beziehungen gekommen, als es zwischen Geschäftsleuten üblich ist.

Schwarz war etwas über mittelgroß und neigte, genau wie Nissen, zum Fettansatz, bei ihm aber trat dies mehr zutage. Der rundliche Kopf mit dem flachen Hinterkopf war von schwarzen Haaren bedeckt, nur die Schläfen schimmerten silbrig. Buschige, braune Augenbrauen saßen über graubraunen Augen mit lebhaftem, nüchternem Blick. Die gutgeformte Nase, der Mund mit den etwas heruntergezogenen Ecken und das rundliche Kinn wirkten in keiner Weise auffallend. Die bräunliche Haut paßte zu den dunklen Haaren. Angenehm empfand Nissen, daß Dr. Schwarz stets sehr gut gekleidet war, sicherlich hatte er einen ausgezeichneten Schneider. Ihm waren nur die meist dunklen Anzüge etwas zu gediegen.

Schwarz wartete geduldig und höflich, aber Nissen enttäuschte ihn. Er schüttelte den Kopf.

»Es tut mir wirklich leid, Ihnen eine Absage erteilen zu müssen, Herr Doktor. Mein Entschluß in dieser Sache steht fest. Ich bin aber gern bereit, mich umzusehen, ob ich unter meinen Geschäftsfreunden jemand finde, der sich für Ihr Filter einsetzt. Sind Sie damit einverstanden?«

»Ich bedaure, daß Sie sich nicht persönlich entschließen können, Herr Nissen. Mir hätte sehr viel daran gelegen, gerade Ihr Schuldner zu werden. So muß ich mich wohl mit Ihrem Vorschlag abfinden, für den ich Ihnen selbstverständlich außerordentlich dankbar bin.«

Nissen betrachtete die Unterredung als beendet und rief den Kellner, um die Rechnung zu begleichen, worauf sich die beiden Herren aufmachten. Vor der Tür des Burgkellers verabschiedeten sie sich voneinander, und Horst Nissen versprach noch einmal, sich um einen andern Geldgeber zu bemühen.

*

Schwarz war von dem Ergebnis der Unterredung sehr unbefriedigt. Er wußte, weshalb er so großen Wert darauf legte, gerade den Fabrikanten Nissen zu seinem Gläubiger zu machen. Nissen war ein guter Geschäftsmann und würde seinen Vorteil oder vielmehr eine zuverlässige Sicherung des Darlehens nicht aus dem Auge lassen, zugegeben. Aber auf der andern Seite würde Nissen nicht kleinlich sein und nicht auf dem Buchstaben des Vertrages bestehen, wenn er sah, daß sich das Unternehmen, das Schwarz plante, gut und stetig entwickelte. Und daß es an dem sein würde, stand für Schwarz fest.

Er schlenderte vom Burgkeller zu Fuß nach Hause. Er hatte ja Urlaub, den er nur darum in der Stadt verbrachte, um die Fühlung mit Nissen nicht zu verlieren. Die Zeit, richtig auszuspannen, würde er sich später nehmen, wenn seine Fabrik stand, wenn er selbständig geworden war, Herr nicht nur seiner Zeit, sondern auch seines ganzen Tuns und seiner Entschlüsse. Wie wunderbar würde das sein, nicht mehr gehorchen, nicht mehr einem Gehaltgeber untertan sein zu müssen! Aber noch war er ein Angestellter, ein bezahlter Diener seines Herrn! Warten, warten – das hatte er sein ganzes Leben lang getan. Es hieß die Zähne zusammenbeißen, um noch die letzte Strecke auszuhalten.

Über all dem Grübeln und Überlegen hatte Schwarz seine Wohnung erreicht, die in der Haydnstraße neun im dritten Stockwerk lag. Er öffnete die Tür und ging zunächst in die Küche, nachdem er in dem kleinen Vorraum Hut und Mantel abgelegt hatte. Er verspürte das Verlangen, etwas zu trinken, und wollte sich eine Tasse Tee bereiten, der nicht nur seinen Durst löschen, sondern ihn für ein paar Stunden frisch machen sollte.

Dann betrat er mit dem Tablett das Wohnzimmer, eigentlich mehr ein Arbeitszimmer, in dem auf dem großen Mitteltisch viele Pläne und Zeichnungen lagen, die Dr. Schwarz Blatt um Blatt in die Hand nahm, um sie zu betrachten, zu prüfen. Er nickte vor sich hin. Ja, die Arbeit war reif, es war nichts mehr daran zu tun. Sie war, nicht nur vom Erfinder aus betrachtet, vollkommen und zeigte auch in den Einzelheiten eine Genauigkeit und Überlegung, die eine weitere Arbeit unnötig machten.

Schwarz legte alles zusammen und verschloß die Papiere in einem kleinen Schrank, der rechts vom Fenster stand. Dann ging er ins Schlafzimmer, um sich zurechtzumachen. Er wollte noch einmal ausgehen.

Das Schlafzimmer paßte sich den andern Räumen an. Die ganze Wohnung verriet noch nichts von den Freiheitsgelüsten des jetzigen Prokuristen, späteren Herrn Fabrikbesitzer Dr. Schwarz. Sie war nüchtern, langweilig, zum Teil veraltet. So besaß er im Wohnzimmer noch ein Sofa mit Umbau, und alle Fenster waren mit dunklen, schweren Gardinen, zum Teil gerafft, bekleidet, die das Tageslicht fast völlig ausschlossen. Die Bilder an den Wänden waren von schlechtem Geschmack.

Den genauen Gegensatz bildete die Wohnung des Dr. Giese, zu der sich Schwarz jetzt begab.

*

Horst Nissen stand, nachdem Schwarz ihn verlassen hatte, unschlüssig vor einem Blumenladen, der in seinem erleuchteten Schaufenster den Augen ein Meer von Farben bot.

Mit den geschäftlichen Angelegenheiten war er für heute endlich fertig. Schade, daß er nicht doch mit Rita wegen des späteren Abends eine Verabredung getroffen hatte! Aber er hatte nicht voraussehen können, daß die Besprechung mit Schwarz so schnell beendet sein würde. Nach Hause gehen? Nein, dazu war es zu zeitig, erst halb zehn Uhr. Rita anzurufen hatte keinen Zweck, sie war ja schon längst mit diesem Fred Krampe zusammen.

Er gab sich einen Ruck. Da er den Wagen nicht hier lassen konnte, fuhr er zur Leila-Bar hinüber, wo sich Rita hin und wieder aufhielt.

Als er in der Kleiderabgabe den Mantel abgab, wurde er angerufen.

»Horst! Hallo! Sind Sie allein?«

Nissen drehte sich um und stand Nedwal gegenüber, der ihm, lächelnd und vergnügt wie immer, die Hand zum Gruß hinhielt.

»Guten Abend, Heinz! Ja, ich bin allein. Und Sie? Wollen Sie mir Gesellschaft leisten?«

»Aber gern, Horst! Deshalb habe ich mich ja gefreut, als ich Sie sah. Wo ist denn Rita?«

»Sie hat sich etwas anderes vorgenommen, da ich nicht wußte, daß ich so zeitig mit meiner Besprechung fertig sein würde. Wenn wir Glück haben, ist sie zufällig hier. Kommen Sie, Heinz.«

Die beiden Herren sahen sich im Lokal um, das noch ziemlich leer war. Aber Rita war nicht da. So setzten sie sich denn an einen Tisch, der am Fenster gegenüber dem Eingang stand.

»Was trinken wir, Heinz?« fragte Nissen, in die Karte vertieft, die der Kellner ihm gereicht hatte. Auch hierin war er heute unschlüssig. Er versuchte, seine Gedanken abzulenken, die sich immer wieder mit Rita im allgemeinen und mit dem Drohbrief im besonderen beschäftigten. Aber es gelang ihm schlecht. Sie waren zudringlich wie Fliegen, die den Menschen durch ihre sture Beharrlichkeit zur Raserei bringen können. Nur daß sich Nissen wenig zur Raserei eignete.

Mit geschäftlichen Fragen wußte er besser umzugehen, die packte er an und erledigte sie so, wie sie kamen, der Reihe nach und mit unerschütterlicher Ruhe und Sicherheit. Persönliche Angelegenheiten dagegen brachten ihn leicht aus dem inneren Gleichgewicht, obwohl es ihm noch nie jemand angemerkt hatte. Sorgen – er nannte alles Sorgen, was nicht so einfach und sachlich zu erledigen war wie beispielsweise die Bestellung einiger Tonnen Edelstahl –, Sorgen machten ihm viel zu schaffen, da er sich meist nicht entschließen konnte, an ihre Beseitigung zu gehen. Erst wenn die »Sorgen« nicht von selbst wieder schwanden, gab er sich einen Ruck und versuchte, sich von ihnen zu befreien.

Nissen hatte seine Frage nach der Wahl des Getränks wieder vergessen und wurde von Nedwal aufgeschreckt. »Was wir trinken, Horst? Wie wäre es mit einer Flasche Sekt? Ich habe Appetit darauf.«

»Einverstanden, Heinz, aber auf meine Kosten«, erwiderte Nissen, dem Nedwals chronischer Geldmangel kein Geheimnis war.

»Hm!« brummte Nedwal. »Muß ich anstandshalber widersprechen?«

»Nicht nötig!« lachte Nissen, der anfing, lebendig zu werden, je länger er in das vergnügte Gesicht seines Tischgefährten blickte, dem es wahrscheinlich auch bei der größten Geldknappheit und trotz heftigster Anstrengungen nicht gelungen wäre, einen traurigen oder gar leidenden Ausdruck in seine wasserblauen Augen zu zaubern.

Nedwal musterte die Tänzerinnen und nickte zufrieden. »Sehen Sie mal, Horst, dort ist ein hübsches Mädchen, dort an der Bar, die werde ich mir nachher mal zum Tanzen holen. Sie tanzen doch auch?«

Jetzt sah sich Nissen erst richtig im Lokal um und betrachtete das Mädchen, das Nedwals Gefallen gefunden hatte. Offenbar war doch etwas daran, wenn manche Menschen von ihrem Typ sprachen. Denn die Frau auf dem Barhocker hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Christa Straube, Nedwals derzeitiger Flamme. Auch sie war groß und schlank, hatte rote Locken und schöne Beine, die sie ebenso ausgiebig zeigte wie ihren wirklich tadellosen Rücken. Wie mochte das Gesicht sein? Wahrscheinlich würde es so aussehen, wie man es hier erwartete und wie es zur Figur und den Haaren paßte – hell, reizvoll und ein bißchen frech.

Da Nissen keine Lust hatte, allein dazusitzen und vor sich hin zu dösen, wenn Nedwal tanzte, sah er sich nach einer geeigneten Partnerin um und fand sie am übernächsten Tisch – eine Frau, die nicht mehr ganz jung sein mochte, mit schmalem, gebräuntem Gesicht und dunklem Madonnenhaar. Sie sah gut aus, und Nissen war sich nicht ganz klar, ob sie sich ohne weiteres zum Tanz würde holen lassen. Er war halb enttäuscht und halb zufrieden, als sie mit einem freundlichen Lächeln in den braunen Augen seiner Aufforderung nachkam und sich erhob.

Zwischen zwei Tänzen rauchten die beiden Herren eine Zigarette und tranken von dem Sekt. Es war bereits die zweite Flasche, natürlich auch diese auf Kosten Nissens.

»Ein Jammer, daß die schöne Rita nicht da ist!« sagte Nedwal mit einem ungewöhnlich nachdenklichen Ausdruck in seinem runden Gesicht, das manchmal lächerlich jung aussah, viel zu jung für den vierschrötigen, massigen Körper.

Nissen lächelte. »Gehören Sie vielleicht auch zu den Anbetern meiner Braut, Heinz?« fragte er.

Heinz Nedwal sah ungewiß in Nissens Gesicht. Da er aber keine Verweisung darin las, gab er das Lächeln mit einem Lachen zurück. »Nicht nur Anbeter, Horst, sondern ich möchte es die große Liebe nennen. Ich habe eben Pech, daß Rita schon mit Ihnen verlobt ist und ich zu spät komme!«

»Aber, Heinz! Sie vergessen ganz und gar Christa!«

»Christa ist zwar durchaus nicht zu verachten, sie ist ein hübsches Mädchen, aber schließlich doch nichts für die Dauer. Und ich würde mich keine Sekunde bedenken, Rita zu bitten, meine Frau zu werden, wenn nicht eben Sie schon da wären. Ja, ich würde um Ritas willen sogar arbeiten!«

Und das war in der Tat der höchste Preis, den Nedwal jemals für eine Frau zahlen würde.

Nissen machte ein eigentümliches Gesicht, als er Nedwal vorschlug: »Wer weiß, Heinz, vielleicht hätten Sie bei Rita mehr Erfolg, als Sie vermuten! Versuchen Sie es doch einmal!«

Wieder wußte Nedwal nicht, woran er mit Nissen war, um so mehr, als dessen Gesicht ihm diesmal keinen Aufschluß gab. Nedwal gehörte nicht zu den Menschenkennern; bedeutete das Lächeln, das mehr in den Augen Nissens saß als um den Mund, daß er sich darüber lustig machte, daß ausgerechnet dieser junge Mann als Sieger in Frage kommen könnte? Oder war es der Ausdruck einer unerschütterlichen Besitzergewißheit?

»Sind Sie so überzeugt, Horst, daß ich Ihnen Rita nicht ausspannen könnte?« fragte Nedwal lauernd.

Nissens Lächeln streifte das Undeutbare ab, vertiefte sich und wurde gut. Er war sich Ritas zwar durchaus nicht sicher. Gegen solche Jünglinge aber wie Nedwal glaubte er sie doch unbedingt gefeit. »Versuchen Sie es, Heinz! Aber natürlich bin ich nicht gerade dafür zuständig, Ihnen einen Erfolg zu versprechen.«

Nedwal seufzte. »Indem Sie mir erlauben, mich um Rita ernstlich zu bemühen, machen Sie es mir verdammt schwer, anständig zu bleiben, Horst! Schließlich gehört es nicht zum guten Benehmen, sich um eine Frau zu bemühen, die einem andern gehört. Aber Rita ist es wert, ihretwegen eine noch größere Gemeinheit zu begehen!«

»Kommen Sie, wir wollen wieder tanzen«, sagte Nissen und stand auf. Das Gespräch gefiel ihm nicht.

An den Tisch zurückgekehrt, streiften sie das Thema Rita in der bisherigen Form nicht wieder. Wohl aber stand das schöne Mädchen noch einmal unsichtbar zwischen ihnen, als Dr. Giese durch das Lokal ging und Nedwals Gruß höflich erwiderte.

Nissen fragte verwundert, wer dieser Herr sei, der in einer Tanzbar einen so hellen und für seinen Geschmack ein wenig zu sportlich geschnittenen Anzug trage.

»Es ist Dr. Giese, ein neuer Bekannter unseres Freundeskreises. Ich glaube aber nicht, daß er bei uns heimisch werden wird. Er paßt irgendwie nicht zu uns.«

»Soso!« machte Nissen nachdenklich und betrachtete diesen Mann, der gut aussah, und er hielt es für möglich, daß Rita Gefallen an ihm fand. Sie ließ sich leicht durch Menschen oder Dinge anziehen, die außerhalb des Gewöhnlichen, Alltäglichen standen. Und dieser Giese war bestimmt keine Dutzendware.

*

»Entschuldige mich, Horst, ich habe sehr wenig Zeit, Fritz Ruh wartet unten im Wagen auf mich. Ich wollte dir bloß diesen neuen Drohbrief bringen.« Mit diesen Worten reichte Rita Kattner ihrem Verlobten einen Umschlag. Sie stand in seinem Arbeitszimmer vor dem Schreibtisch, da sie nicht einmal das Angebot Nissens angenommen hatte, sich zu setzen.

Nissen zog den Brief aus dem Umschlag und entfaltete ihn, um ihn zu lesen. Er kam nicht dazu, er mußte Ritas Hand ergreifen, die sich ihm zum Abschied entgegenstreckte.

»Schade, daß wir nicht über den Brief sprechen können, Rita. Aber wenn du dir etwas vorgenommen hast, ist es nicht zu ändern. Viel Vergnügen mit Fritz Ruh!«

Rita wandte sich zum Gehen, machte aber schnell eine halbe Drehung zurück, um das Gesicht ihres Verlobten anzusehen. Seine Worte hatten einen so merkwürdigen Klang gehabt. War er etwa eifersüchtig? Paßten ihm ihre Bekannten auf einmal nicht mehr? Neulich schon hatte er ihr Vorwürfe gemacht! Sie biß sich unruhig auf die Lippen, unterdrückte eine Bemerkung, die sie hatte machen wollen, und verließ das Geschäftszimmer Nissens.

Der junge Fabrikant sah seiner Verlobten nach, bis sich die Tür hinter ihr schloß. Er hatte sie nicht begleitet, sondern war am Schreibtisch stehengeblieben. Er wußte nicht, was er aus Rita machen sollte. Sie war in der letzten Zeit unruhig und ungleichmäßig. Es war nicht nur ihr übliches Flirten und ihr Spiel mit jedem Menschen, der in ihren Gesichtskreis trat; irgend etwas Übersteigertes lag in ihrem Wesen. Hatten etwa die Drohbriefe eine so starke Wirkung auf sie? Oder entfernte sie sich von ihm, um sich einem andern anzuschließen?

Nissen hob ergeben die Schultern. Er wußte nicht, was los war, und er würde sich nicht die Mühe machen, es zu ergründen, oder gar etwas unternehmen, falls Rita Entschlüsse faßte, die seinen Wünschen entgegen waren. Es wäre aussichtslos, darüber war er sich klar. Er liebte Rita, und er war bereit, alles für sie zu tun, was in seinen Kräften lag. Aber er kannte sie hinreichend, um sich nicht in einen Kampf einzulassen, von dem er genau wußte, daß er ihn verlieren würde.

Er ließ sich in seinen Stuhl sinken und strich mit der Rechten über das beschriebene Blatt, das die merkwürdige kunstvolle Schrift aufwies, die Nissen von dem ersten Brief her kannte.

 

»Sehr geehrtes gnädiges Fräulein!

Da ich in jeder Beziehung über Ihr Tun, ja sogar Ihre Gedanken und Absichten auf dem laufenden bin, weiß ich, daß Sie nicht im Sinn haben, meinen Hinweis zu berücksichtigen und Ihr Verlöbnis aufzulösen.

Ich bedaure das um Ihretwillen.

Denn Sie sind ein schöner, froher und das Leben genießender und liebender Mensch.

Und dieses Leben würde ein Ende haben, wenn Sie sich meinem Willen nicht anpaßten.

Ich hoffe, daß diese Warnung genügt!

Ergebenst
Der Gläubiger.«

 

Nissen machte eine zornige Bewegung. Dieser Brief war ebenso geschmacklos wie der erste. Das einfachste wäre, ihn in den Papierkorb zu werfen.

Doch Nissen tat es nicht, irgend etwas Unerklärliches hinderte ihn daran. Er sah Rita wieder vor sich, wie sie eben noch am Schreibtisch gestanden hatte. Sie hatte mit unruhigen Händen an der Handtasche gespielt. Offenbar war diese Todesdrohung nicht ohne Eindruck auf sie geblieben.

Nissen erwog, mit beiden Briefen zur Polizei zu gehen und um Schutz zu bitten. Aber nach einigem Überlegen gab er dies auf. Wie die meisten Menschen scheute er eine Verbindung mit der Polizei, obwohl es sich doch im vorliegenden Fall darum handelte, sie um Hilfe zu bitten in einer Sache, in der die Polizei nur zu seinen Gunsten zu handeln hätte.

Ja, was sonst?

Endlich setzte er sich mit Dr. Glaß telefonisch in Verbindung.

»Guten Tag, Artur! Sagen Sie einmal, Sie verstehen doch etwas von Schriften?«

»Na, es ist nicht sehr weit her damit«, antwortete am andern Ende der Leitung die frische, angenehme Stimme des jungen Arztes.

»Vielleicht können Sie mir aber doch einen Rat oder einen Hinweis geben. Rita hat einen neuen Brief ohne Unterschrift oder vielmehr mit der Unterzeichnung ›Der Gläubiger‹ erhalten, den möchte ich Ihnen gern vorlegen und Ihre Ansicht darüber hören.«

»Viel kann ich Ihnen bestimmt nicht nützen, Horst. Aber wir könnten uns heute abend treffen und einmal darüber sprechen; kommen Sie doch zu mir!«

»Gern, Artur! Vielen Dank! Um acht bin ich bei Ihnen.«

*

Rita tat etwas selbst für sie Ungewöhnliches: Sie schlug Fritz Ruh, der sie in ihrem Wagen erwartet hatte, vor, bei ihr eine Tasse Tee zu trinken. Bisher hatte sie die einer Verlobten vorgeschriebene Haltung in keiner Weise verletzt; außerdem hatte sie es stets vermieden, einen der Männer aus ihrem Freundeskreis zu bevorzugen. Weshalb sie heute mit Ruh eine Ausnahme machte, wußte sie selbst nicht. Wahrscheinlich zog die stille, zuverlässige Art des Chemikers sie an, und möglicherweise erwartete sie, in seiner Gegenwart eine Entspannung zu finden. Den Rahmen dazu konnte, das wußte sie, ohne sich über den Grund Rechenschaft zu geben, nicht ein geräuschvolles Café abgeben.

So kam es zu der Einladung, die Fritz Ruh froh, wenn auch ein wenig erstaunt, annahm.

An den Fenstern ihres Wohnzimmers waren nur die leichten Gardinen vorgezogen, so daß die Luft, die nach einem in der Nacht niedergegangenen Gewitter eine angenehme Frische mitbrachte, ungehindert eindringen konnte.

Sie saßen an dem kleinen, niedrigen runden Tisch vor dem Fenster und warteten auf den Tee, den die alte Lina bringen sollte. Fritz Ruh betrachtete indessen das Zimmer, das ihm sehr gut gefiel. Es war hell und gut möbliert, fast etwas sparsam. Die eine Wand war mit Bücherschränken vollgestellt, die ihn so anzogen, daß er um die Erlaubnis bat, sich die Titel ansehen zu dürfen. Es war durchweg gute Literatur. Außerdem enthielt ein Teil des linken Schrankes Arbeiten über Kunst der Antike, des Mittelalters und der Jetztzeit, und es waren die besten Werke, die sich da vorfanden. Das konnte Ruh beurteilen, da er sich viel mit diesem Gebiet beschäftigt hatte.

Das Kommen der Wirtschafterin unterbrach seine Betrachtung und rief ihn an seinen Platz zurück.

Als er Rita gedankenvoll in ihrer Tasse herumrühren sah, fragte er: »Was beschäftigt Sie so sehr, Rita? Die Drohbriefe? Kann ich Ihnen irgendwie nützlich sein?«

»Sie sind sehr freundlich, Fritz. Aber ich sehe keine Möglichkeit, mir in dieser Sache zu helfen, wenn man sich nicht an die Polizei wendet. Wahrscheinlich werde ich mich doch dazu entschließen müssen, wenn ich es auch nicht gern tue.«

»Warum lassen Sie sich durch die Briefe so beeindrucken, Rita? Sie richten sich doch nicht gegen Sie. Der Gläubiger will offenbar etwas von Nissen.«

Rita brannte sich eine Zigarette an und sog ein paar Züge tief in die Lungen, ehe sie antwortete. »Die Briefe erschrecken mich, ohne daß ich sagen könnte, weshalb Es ist nicht eigentlich, daß ich mich fürchte. Die Briefe sind etwas so Unbestimmtes, nicht Greifbares. Wer ist dieser Gläubiger? Was will er? Wenn man das nur wüßte, dann könnte man doch etwas dagegen tun! Aber so ... übrigens täuschen Sie sich, wenn Sie glauben, daß der Schreiber etwas gegen Horst Nissen unternehmen will. Er hat ganz offen gedroht, mich umzubringen, wenn ich ihm nicht gehorche.«

»Das heißt also, wenn Sie Ihre Verlobung nicht lösen?«

Rita nickte.

»Und warum tun Sie es nicht, Rita? Sie wollen doch nicht tatsächlich behaupten, daß Sie Nissen lieben? Wenn Sie die Verlobung rückgängig machen, sind Sie die ganze Sache los.«

Das Mädchen blieb zunächst unbeweglich und erwiderte nichts auf die Worte ihres Gastes. Erst nach einigen Sekunden griff sie wieder zu einer Zigarette, um sie anzuzünden.

Ruh legte seine Rechte auf ihre Hand. »Rita, bitte, rauchen Sie doch nicht so viel!«

Zögernd zog Rita Kattner die Hand zurück, ohne sich eine Zigarette zu nehmen.

Ruh legte diese schöne, schmale, braungebrannte Hand zwischen seine beiden Hände und streichelte sie.

»Rita – Sie wissen doch, daß und wie ich Sie liebe. Wollen Sie nicht Nissen aufgeben? Ich bitte Sie darum!«

Jetzt legte Rita ihre Linke auf Ruhs Hände und strich behutsam darüber hin. »Ich danke Ihnen, Fritz! Aber – ich kann nicht.« Sie war großmütig und sagte nicht: Ich will nicht!

Fritz Ruh blieb bewegungslos. Sein Gesicht hatte einen traurigen und ergebenen Ausdruck. Auch er wußte, daß unabänderlich war, was eine Rita Kattner sagte.

Ritas dunkle, warme Stimme klang zu ihm: »Fritz, Hedwig Reinhard hat Sie sehr lieb, und sie ist Ihrer großen, guten Liebe wert.«

Fritz Ruh erhob sich mit langsamen Bewegungen. »Bitte, Rita, entschuldigen Sie mich. Ich – kann nicht länger bleiben.«

Rita Kattner stand in ihrer Schönheit vor ihm, aber es war heute eine weiche, mütterliche, beglückende Schönheit. Sie neigte sich Fritz Ruh entgegen und küßte ihn auf den Mund.

»Leben Sie wohl, Fritz, ich habe Sie sehr gern!«

*

Nach Rita Kattners so kurzem Besuch in seinen Arbeitsräumen, bei dem sie ihrem Verlobten den zweiten Brief des Gläubigers gegeben hatte, mußte Nissen eine Besprechung über sich ergehen lassen, die alles eher als angenehm war. Ferdinand Fischer ließ sich melden, der ihn in aufdringlicher Weise schon mehrere Male bestürmt hatte, sich an der Verwertung einer Erfindung zu beteiligen, die Nissen für eine mehr als zweifelhafte Sache hielt. Einen Augenblick lang erwog er, den Bittsteiler nicht zu empfangen. Aber dann entschloß er sich doch, mit ihm zu sprechen, um der Angelegenheit ein Ende zu machen.

»Da bin ich wieder, Herr Nissen!« führte sich der Erfinder ein. »Sie sehen, mich werden Sie so leicht nicht los! Ich muß und ich werde Sie überzeugen!« Dabei packte er unaufgefordert aus einer Aktentasche eine Flut von Zeichnungen aus, die er auf dem Schreibtisch auseinanderflattern ließ.

Der Fabrikant sah ihm ruhig zu. Fischer war ihm wenig angenehm, und nicht nur, weil sie gegensätzliche Naturen waren. Fischer war ein großer, schlaksiger Mensch von etwas über dreißig Jahren. Schwarzes Haar lag glatt wie ein Helm an einem Schädel, der viel zu klein war für den langen Körper. Alles an ihm war spitz, der kleine Mund, der immer zum Pfeifen anzusetzen schien, die ihn wenig überragende spitze Nase, und sogar die Ohren schienen oben in einer kleinen Spitze auszulaufen. Dazu gehörten ein Paar unruhige, schwarze Augen, die den Blick des andern kaum mehr als eine Sekunde aushielten.

»So, Herr Nissen!« fing Fischer wieder an. »Jetzt will ich Ihnen alles nochmals in Ruhe auseinandersetzen.«

Nissen winkte ab. »Nicht nötig, Herr Fischer! Ich bin entschlossen, mich an Ihrer Erfindung in keiner Weise zu beteiligen. Ich habe Ihre Pläne, die Sie mir ja überließen, von einem Sachverständigen prüfen lassen und die Bestätigung meiner Annahme erhalten, daß Ihre Erfindung – zum mindesten noch nicht reif ist.«

»Welchen Dummkopf haben Sie denn befragt? Der Mann versteht von der Sache nichts, das sage ich Ihnen!« knurrte Ferdinand Fischer wütend.

»Doch, der Mann versteht etwas, Herr Fischer, und ich habe durchaus die Absicht, mich nach seinem Gutachten zu richten. Packen Sie also Ihre Zeichnungen wieder ein. Mein Entschluß ist unabänderlich.«

»Das ist häßlich von Ihnen, Herr Nissen!« fuhr Fischer auf. »Ich habe mich darauf verlassen, daß Sie sich diese ungewöhnlich gute Gelegenheit, Geld zu verdienen, ohne einen Finger krumm zu machen, nicht entgehen lassen würden.«

Jetzt wurde sogar der ruhige Nissen warm. »Ich habe Ihnen keinerlei Veranlassung zu dieser Annahme gegeben. Im Gegenteil, ich habe Ihnen von Anfang an wenig Hoffnung gemacht. Wenn es eine so gute Sache ist, die Sie da haben, werden Sie bestimmt andere Geldgeber finden.«

»Auch noch Hohn und Spott für meine Gutmütigkeit, mich an Sie zu wenden, Herr Nissen, und nicht jemand anders zu bevorzugen!« schimpfte Fischer los. »Aber natürlich, Sie haben nichts anderes im Kopf als Ihre schöne Braut! Für das Dämchen Häuser bauen und so weiter, ja, dafür haben Sie Geld, noch und noch! Das pfeifen ja schon die Spatzen von den Dächern. Aber wenn einer zu Ihnen kommt, der jahrelang an einer Sache geschuftet hat, Tag und Nacht, der gehungert hat, um seine Erfindung bis ins letzte ausarbeiten zu können, eine Erfindung, auf die die Welt wartet, die jeden angeht, dann machen Sie Ausflüchte. Aber für das Fräulein Braut ...! Hm – Braut!« Fischer ließ seinen Worten eine unverschämte Pause folgen.

Nissen erwiderte kein Wort. Er griff zum Telefon, drückte einen Knopf herunter und sagte: »Bitte, Seifert, sagen Sie dem Hausmeister, er möchte zu mir kommen. Herr Fischer wünscht mein Büro zu verlassen.«

Ferdinand Fischer raffte mit fliegenden Händen seine Papiere zusammen, wobei er vor Wut zitterte, und stopfte sie in wildem Durcheinander in seine Mappe. Dann wandte er sich der Tür zu, in der eben Hausmeister Manning grinsend erschien. Auf halbem Weg drehte er den Kopf und schrie mit überschnappender Stimme:

»Mich sehen Sie nicht wieder, Herr Nissen! Aber Sie werden mir den heutigen Tag bezahlen!«

Nissen blickte dem widerlichen Menschen nach, hinter dem sich endlich die Tür schloß. Er griff nach dem Drohbrief des Gläubigers und betrachtete ihn mit abwesendem Blick. »Wie viele Unannehmlichkeiten doch ein einziger Tag bringen kann!« murmelte er.

Aber seiner Natur entsprechend verwandte er nicht allzuviel Zeit auf ein grüblerisches Betrachten der Lage; er faltete den Bogen zusammen, steckte ihn in die Brusttasche und wandte sich einem Stoß Geschäftsbriefen zu, die heute noch erledigt werden mußten.

*

Nissen war nicht das erstemal bei Dr. Glaß. Er kannte das Zimmer, das der junge Arzt von Frau Pötzsch, einer älteren, sehr netten Handwerkerswitwe, ermietet hatte, bei der er schon seit über fünf Jahren wohnte. Das Zimmer war einfach, aber gediegen möbliert, und Frau Pötzsch versorgte ihren Mieter in nahezu hingebungsvoller Weise. Glaß ließ sich ihre mütterliche Liebe mit großer Selbstverständlichkeit gefallen. Aber Frau Pötzsch konnte doch hin und wieder ein knabenhaft dankbares Lächeln und ein paar von Herzen kommende freundliche Worte einheimsen, und sie fühlte sich dadurch belohnt genug.

»Es ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, Artur, daß Sie mir den Abend opfern«, begrüßte Nissen den Arzt. »Denn schließlich ist es doch eine Zumutung von mir, Sie mit meinen Angelegenheiten zu belästigen und Sie von Ihrer Arbeit oder, was weit schlimmer wäre, von einem Bummelabend abzuhalten.«

»Selbst wenn ich um Ihrer Sorgen willen etwas hätte aufgeben müssen, Horst, so ist mir doch Ihre Gegenwart so wertvoll, daß aus einem Verzicht ein Vergnügen würde!«

Nissen lachte auf. »Das klang eben so ehrlich, lieber Artur, daß ich nicht widerspreche.«

Dr. Glaß hatte schon vor dem Kommen seines Gastes zwei verlockend aussehende Flaschen und dünne, schöngeschliffene Gläser auf den runden Mitteltisch gestellt. Daneben standen zwei Teller mit belegten Broten, die Frau Pötzsch zurechtgemacht hatte. Da außerdem noch zwei bequeme Stühle für beide Herren bereitstanden, war die Stimmung in wenigen Minuten sehr gemütlich.

»Also, zum Wohl, Horst!«

Der Fabrikant erwiderte mit erhobenem Glase den Gruß.

»Ein guter Schluck vor der Erörterung dessen, was Sie beschäftigt, wird dem Gegenstand Ihrer Sorgen doch etwas die Schwere nehmen! Ich hoffe es wenigstens.«

Die klugen Augen des etwa dreißigjährigen Arztes betrachteten das Gesicht seines Gastes unauffällig. Er sah Nissen nicht so oft wie die andern aus dem Freundeskreis, und daher fiel ihm mehr auf, daß Nissen müde aussah. Sollte tatsächlich etwas an dem Gerede sein, daß es zwischen dem Brautpaar Unstimmigkeiten gegeben hatte? Oder hatten die Briefe des Gläubigers einen solchen Eindruck auf ihn gemacht? Na, warten wir ab!

Nissen setzte das leere Glas auf den Tisch und zog seine Brieftasche aus der Jacke.

»Sie kennen ja den ersten Brief des ›Gläubigers‹, Artur. Heute ist nun der zweite gekommen ...« Nissen zögerte, er wußte nicht recht, wie er sich ausdrücken sollte; er wollte nicht übertreiben, aber doch dem mehr als Befremdlichen dieser einseitigen Korrespondenz das richtige Gewicht verleihen.

»Was enthält dieser zweite Brief?« fragte Dr. Glaß, indem er die Flasche zurückstellte, aus der er eben die beiden Gläser wieder gefüllt hatte.

Nissen gab sich einen Ruck und antwortete einfach: »In diesem zweiten Brief ist eine Todesdrohung enthalten, und das beunruhigt mich.«

»Gegen wen?« fragte Glaß gespannt.

»Gegen Rita«, vervollständigte Nissen seine Auskunft.

Glaß schwieg einen Augenblick betroffen. »Es ist natürlich für mich sehr schwer, zu beurteilen, ob der Schreiber dieser anonymen Briefe eine ernsthafte Gefahr bedeutet. Dazu kenne ich doch die persönlichen Verhältnisse nicht gut genug, Freunde, Bekannte, Kollegen, Verwandte – Feinde endlich.«

»Sie sprechen von Feinden, Artur – denn natürlich kommt ein Kollege, ein Bekannter, ein Freund oder gar ein Verwandter weder bei Rita noch bei mir in Frage. Ich finde wenigstens unter ihnen keinen, dem ich eine solche Gemeinheit oder einen solchen schlechten Geschmack zutrauen könnte. Und wenn es sich um einen Scherz handelte, hätte der Betreffende es wohl bei dem ersten Brief bewenden lassen. Selbstverständlich habe ich mir überlegt und auch mit meiner Braut darüber gesprochen, ob ein Feind in Frage kommt. Ich finde niemand.« Nissen reichte Dr. Glaß den Brief über den Tisch. »Bitte, lesen Sie erst einmal!«

Der Arzt überflog schnell die wenigen Zeilen und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, Horst, ich muß Ihnen in der Beziehung recht geben, daß ein schlechter Scherz ausscheidet, dafür ist der Ton des Briefes zu ernst. Es muß also doch einen Feind geben, vielleicht einen Neider, möglicherweise eine Person, die nach Ihrem Geld Verlangen trägt. Denkbar wäre auch – entschuldigen Sie, daß ich darauf zurückkomme, obwohl Rita und Sie es bestritten haben –, daß das Wort ›Gläubiger‹ doch so zu verstehen ist, daß Rita oder Sie irgendeine Schuld haben. Geben Sie Ihr ganzes Geld oder doch sehr viel für Ihre zukünftige Ehe aus, so muß der ›Gläubiger‹ damit rechnen, daß nicht genug übrigbleibt, um seine Forderung zu decken.«

»Auf den ersten Blick sieht es aus, als hätten Sie recht, Artur. Aber Rita versichert, daß es keinen Menschen gibt, der irgendwelche Ansprüche an sie hat, und ich glaube ihr. Bezüglich meiner Person kann ich dasselbe versichern, wenn man von den laufenden geschäftlichen Angelegenheiten absieht, die ich im Namen meiner Firma abschließe. Und was Sie vorhin anschnitten – von mir möchte mancher etwas ergattern. Damit haben Sie vielleicht nicht so unrecht. Ich habe nicht nur mehrere Beteiligungen laufen, sondern es treten immer wieder Personen an mich heran, die meine geldliche Hilfe für die Auswertung von Erfindungen oder etwas Ähnlichem wünschen. Augenblicklich verhandle ich allein mit drei Leuten, einem gewissen Dr. Schwarz und einem Ferdinand Fischer, die Sie beide nicht kennen, außerdem aber auch noch mit Fritz Ruh. Das letztere bitte ich Sie, vertraulich zu behandeln, Artur. Ich beabsichtige, sämtlichen Herren meine Teilnahme zu verweigern.«

»Auch Ruh?« fragte Glaß mit einem bedauernden Klang in der Stimme.

»Hm – auch ihm! Ganz schlüssig bin ich mir aber in dieser Beziehung noch nicht. Auf jeden Fall habe ich Fritz Ruh zunächst einmal abgesagt. Ich will sehen, ob er nicht einen andern Geldgeber findet.«

Glaß nahm den Brief noch einmal in die Hand und betrachtete ihn eingehend.

»Was sagen Sie zu der Schrift, Artur?« fragte Nissen. »Glauben Sie, irgendwen zu kennen, der ähnlich schreibt?«

Ohne zu zögern antwortete der Arzt: »Nein, Horst! Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Die Schrift des Gläubigers ...« Er unterbrach sich und hob den Kopf. »Bitte, Horst, machen Sie sich keine Hoffnungen. Wie ich Ihnen schon am Telefon sagte, verstehe ich von Schriften nur sehr wenig. Ich habe mich wohl etwas damit beschäftigt. Aber es gehört ein so eingehendes Studium dazu, über diese Fragen auch nur einigermaßen zuverlässig auszusagen, daß sich ein Mensch wie ich, der nebenbei noch eine berufliche Beschäftigung hat, diese Wissenschaft nie so zu eigen machen kann, um auf dem Gebiet etwas Brauchbares leisten zu können. Also, soweit ich zu beurteilen vermag, muß der Schreiber sehr intelligent sein, viel Verständnis für Formen und wahrscheinlich auch für das Schöne im Leben haben. Doch wesentlich scheint mir zu sein, daß der Schreiber höchstwahrscheinlich außerordentlich verschlossen, wenn nicht gar verschlagen ist. Diese Schrift hier ist sicherlich nicht seine übliche, denn sie erfordert viel zuviel Mühe und Aufmerksamkeit. Trotzdem weist sie natürlich dieselben charakteristischen Merkmale auf wie seine alltägliche Schrift, was Ihnen jeder wirkliche Schriftenkenner bestätigen wird. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann. Also – die beiden wesentlichen Merkmale sind nach meiner Ansicht: Kunstsinn und Verschlossenheit. Kennen Sie eine solche Mischung?«

Nissen stand auf, steckte die Hände in die Hosentaschen und ging überlegend umher. Nach einer Weile trat er wieder an den Tisch, griff mechanisch nach einer Zigarette und brannte sie an.

»Ich finde niemand in meinem Bekanntenkreis, auch im Kreis der Leute, mit denen ich geschäftlich zu tun habe, auf den die von Ihnen genannten Merkmale passen könnten. Meine Angestellten habe ich dabei nicht übersehen.«

Gründlich und kaufmännisch wie immer, dachte Dr. Glaß. »Sagen Sie mal, Horst, wollen Sie sich nicht an die Polizei wenden und sie um Schutz für Rita bitten? Das wäre doch das einfachste!«

»Nein, Artur! Ich habe schon mit meiner Braut gesprochen und ihr den Vorschlag gemacht, aber sie lehnt ab, und auch mir ist es angenehmer, wenn wir die Polizei nicht hereinzuziehen brauchen. Schließlich spricht es sich doch herum, daß man mit der Polizei in Verbindung steht, und das macht in keiner Weise einen guten Eindruck.«

»Komisch, Horst! Eigentlich hätte ich Sie für – verzeihen Sie! – vernünftiger gehalten. Die Polizei ist doch eine Einrichtung, die auch denjenigen zur Verfügung steht, die nichts Strafbares getan haben, sondern die ihrer Hilfe bedürfen. Es wäre doch besser, sie jetzt schon in Anspruch zu nehmen als erst dann, wenn es zu spät ist.«

Nissen, der in seinem Auf- und Ablaufen im Augenblick dem am Tisch sitzenden Arzt den Rücken zugekehrt hatte, fuhr herum.

»Wenn es zu spät ist? Was meinen Sie damit, Artur?«

Glaß wandte sich und sah Nissen an. »Schließlich enthält der zweite Brief eine Todesdrohung, Artur! Und solange Sie nicht wissen, wer der Gläubiger ist, müssen Sie damit rechnen, daß es nicht leere Worte sind.«

Jetzt stützte Nissen beide Hände auf den Tisch und beugte sich vor. »Soll das heißen, daß Sie Ritas Leben für gefährdet halten, Glaß?«

Schau, schau, dachte der Arzt, es gab also doch etwas, das Nissen aus der Ruhe bringen konnte – Rita! Demnach war wohl doch nichts an dem Gerede von den Unstimmigkeiten zwischen den beiden. Laut sagte er:

»Ich kann es natürlich nicht mit Bestimmtheit sagen, Horst. Möglich wäre es aber.«

Wieder lief Nissen umher. Diesmal waren seine Schritte schneller und kürzer. »Aber die Polizei? Nein!« murmelte er vor sich hin.

»Wenn Sie die Polizei unbedingt ablehnen, Horst, dann wenden Sie sich doch an Dr. Staps, an den kleinen Professor.«

Nissen setzte sich wieder hin und nahm einen kräftigen Schluck aus dem Glas, das der Arzt vorsorglich wieder gefüllt hatte. »Wer ist das – Dr. Staps?«

»Staps – wie gesagt, man nennt ihn den Professor, er hat diesen Grad in Wirklichkeit jedoch nicht – ist ein Gelehrter, der aus seiner Wissenschaft, der Psychologie, zum Kriminalisten geworden ist. Er ist ein sehr gescheiter Mensch, der oft einen Ausweg aus Lagen gefunden hat, die zunächst unlösbar erschienen.«

»Immer?« fragte Nissen ungeduldig.

»Immer? Das weiß ich nicht, Horst. Schließlich ist Staps doch nur ein Mensch und daher nicht vollkommen.«

»Gut, Artur! Ich werde es mit Dr. Staps versuchen.«

»Das ist mir sehr angenehm«, erwiderte der Arzt.

Der Fabrikant sah erstaunt auf. »Weshalb Ihnen, Artur?«

»Es ist für keinen ein Vergnügen, die schöne Rita in Gefahr zu wissen.«

»Sie auch?«

»Ich auch?«

»Lieben Sie Rita?«

Das Gesicht des Arztes wurde plötzlich kühl. »Das wäre ja doch wohl meine Sache, Horst! Oder haben Sie Grund, sich über mein Verhalten irgendwie zu beschweren?«

Nissen reichte Glaß die Hand über den Tisch. »Entschuldigen Sie bitte, Artur! Ich bin etwas reizbar geworden.«

Der Arzt drückte die dargebotene Hand und nickte freundlich.

*

Rita war heute etwas zeitiger aufgestanden als sonst. Sie war frisch und freute sich auf den Tag, obschon er wohl kaum etwas Besonderes bringen würde. Vormittags wollte sie im Geschäft des Vaters helfen, was sie seit langem nicht getan hatte. Er hatte sich am Abend vorher beklagt, daß er sie in der Buchhandlung überhaupt nicht mehr zu sehen bekomme.

Die Drohbriefe? Ach, das war bestimmt nur irgendein Unfug, dem sie sicherlich alle viel zuviel Gewicht beigelegt hatten – ein dummer Scherz! Es konnte ja nichts Wichtiges dahinterstecken aus dem einfachen Grund, weil es weder bei ihr noch bei Nissen jemand gab, der sich mit Recht als Gläubiger hätte bezeichnen können. Sie wollte sich von dieser Sache die Laune nicht verderben lassen.

Trällernd ging sie zu ihrem Wohnzimmer hinüber, wo die alte Lina das Frühstück für sie bereit hielt. Die Wirtschafterin hatte sie kommen hören und war gerade dabei, das Tablett auf den Tisch niederzustellen, als Rita das Zimmer betrat.

»Guten Morgen, Lina!« rief das junge Mädchen fröhlich.

»Guten Morgen, Fräulein Rita!« antwortete die Alte, während sie das Geschirr auf dem Tisch ordnete.

Dabei rückte sie einen Brief ein wenig weiter nach rechts, als er bisher gelegen hatte. Dadurch fiel er Rita auf. Sie runzelte die Augenbrauen und griff nach dem Umschlag. Kaum hielt sie ihn in der Hand, als sie wütend aufstampfte. Wieder die Schrift, die sie nun schon haßte! Unterbrach sie doch den Frieden dieses schönen, gleichmäßigen, wohl auch ein wenig oberflächlichen Lebens.

Die alte Lina sah erschrocken und neugierig auf ihr Fräulein und erwartete, daß Rita den Umschlag aufmachen würde. Vielleicht könnte sie etwas von dem Inhalt erfahren. Aber das junge Mädchen legte den Brief ein Stück von der Tasse entfernt nieder, dankte der Alten kurz und setzte sich an den Frühstückstisch.

Kaum hatte Lina das Zimmer verlassen, als Rita wieder nach dem Brief griff. Noch zögerte sie und wog ihn in der Hand. Wäre es nicht das einfachste, ihn ungelesen zu zerreißen oder ihn zu verbrennen? Doch sowohl Neugier als auch eine Art Sorge, es könne gefährlich sein, den Inhalt nicht zu kennen, siegten über den Wunsch nach Unbelästigtbleiben und Ruhe. Mit einer heftigen Bewegung riß Rita den Umschlag auf und entfaltete den Bogen.

 

»Sehr geehrtes gnädiges Fräulein!

Ich kann gut verstehen, daß Ihr Leben so verlockend und so reich an Abwechslungen ist, daß es für Sie leicht ist, über die ›dummen Briefe‹ hinwegzugehen, die Sie in der letzten Zeit erhalten haben. Ganz gleichgültig lassen Sie diese Briefe aber doch nicht, wenn Sie sich auch redlich Mühe geben, den peinlichen Eindruck beiseitezuschieben und zu überwinden.

Sie gehen damit einen sehr gefährlichen Weg, gnädiges Fräulein! Es ist leichtsinnig, nach dem Erhalt einer Todesdrohung mit Freunden einen Tag zu verbummeln, so wie gestern. Man geht über Mitteilungen, wie Sie in den letzten Tagen einschließlich des heutigen deren drei erhalten haben, nicht einfach hinweg!«

 

Und wieder diese unerklärliche Unterschrift: »Der Gläubiger«.

Rita widmete dem Frühstück bei weitem nicht die Aufmerksamkeit und Liebe, die sie beabsichtigt hatte ihm angedeihen zu lassen. Immer wieder griff sie nach dem Bogen und las den kurzen Text. Was wollte dieser »Gläubiger« nur? Es wäre leicht, die Sache anzupacken, wenn der Schreiber mitteilen wollte, worum es sich eigentlich handelte. Aber so? Sie tappte ja völlig im Dunkeln!

So unruhig diese Briefe das junge Mädchen auch machten – eine wirkliche Gefahr vermochte sie darin nicht zu sehen. Ihr Leben stand so in vollster, strahlendster Blüte, daß ihr der Tod etwas Unvorstellbares war. Sie begriff weder die Möglichkeit noch konnte sie sich die Tatsache einer Beendigung dieser Tage vorstellen, die eine Reihe von Annehmlichkeiten und köstlichem Zeitvertreib waren. Sie war unfähig, die Zukunft aus ihrem Denken auszuschalten, damit zu rechnen, daß es eine Kraft geben könnte, die imstande wäre, alle Pläne, ja alle bereits vorbereiteten zukünftigen Handlungen abzuschneiden, unmöglich, unwesentlich zu machen.

Endlich stand sie auf, steckte den Brief in die Handtasche, verabschiedete sich von der alten Lina und holte ihren kleinen Wagen aus der Garage.

Eine Weile saß sie unentschlossen vor dem Steuer. Sie erwog, noch einmal hinaufzugehen, um ihren Verlobten über den neuen Brief zu unterrichten, verschob diesen Anruf jedoch. Sie hatte den Schock, den sie durch diesen neuerlichen anonymen Brief erfahren hatte, noch nicht überwunden und vermochte die Gedanken daran noch nicht auszuschalten. Und soweit wollte sie erst sein, ehe sie mit Horst Nissen sprach.

In ihr Grübeln hinein klang eine Stimme:

»Worüber macht sich die schönste Frau unserer Stadt so schwere Gedanken?«

Rita Kattner sah auf, in den ersten Sekunden noch Abwesenheit im Blick. An der Tür des Wagens stand Dr. Giese und lächelte das Mädchen an. Rita nahm die Hand vom Steuer und reichte sie dem neuen Bekannten hinüber.

»Guten Morgen, Herr Doktor!« Das frohe Lächeln, das man an Rita kannte, breitete sich über ihre Züge. »Meine Gedanken waren sehr unerheblicher Natur, ich überlegte nur, wohin ich denn nun eigentlich fahren sollte.«

»Sie haben nichts Besonderes vor, Fräulein Kattner? Das wäre für mich ein beglückender Zufall, noch beglückender, wenn Sie mir gestatten würden, Ihrer Ziellosigkeit Richtung zu geben. Kennen Sie den dunklen See?«

»Den dunklen See?« sagte Rita gedankenlos.

»Ja! Er ist ganz eingeschlossen von großen Bäumen.«

»Ich kenne den dunklen See nicht, Herr Doktor. Wollen Sie mir den Weg dorthin weisen?« Rita öffnete einladend die Tür, und Giese ließ sich nicht zweimal auffordern.

Der kleine, eirunde See in der Umgebung der Stadt verdiente seinen Namen. Die großen Fichten warfen schwere Schatten über das Wasser, und nur an wenigen Stellen tanzten funkelnde Sonnenflecke. Das abgeschlossene Stück Landschaft, zu dem man von der Landstraße aus fünf Minuten durch den Wald gehen mußte, war düster und verführte direkt zu freudlosen Gedanken.

Als sie beide im Badeanzug vor dem Wasser standen – Rita hatte ihr Badezeug immer im Wagen, und Giese hatte sowieso die Absicht gehabt, schwimmen zu gehen –, betrachtete Rita ihren Begleiter. Liebte er solche Stimmungen? Eigentlich sah er nicht so aus! Ein so auf Sportlichkeit eingestellter Mensch mußte doch für das Helle, Sonnige, Unbeschwerte sein! Aber sie kannte ja Dr. Giese noch nicht genug, um seinen Geschmack beurteilen zu können. Sie hatte von Anfang an nicht recht gewußt, was sie aus ihm machen solle. Seine Art war ihr fremd, wahrscheinlich zu sehr in sich abgeschlossen. Hätte ihr ein solcher Ausdruck gelegen, so hätte Rita Giese als unjugendlich bezeichnet. Sie entsann sich der zögernden Worte, als Glaß zu Dr. Giese Stellung nehmen sollte. Das war gewesen, als sie beide im Begriff waren, in die Gastwirtschaft von Martin Keller einzutreten, in der Giese Artur Glaß erwartet hatte.

»Nun? Haben Sie keine Lust zum Schwimmen, Fräulein Kattner? Sie stehen so gedankenvoll da, als hätten Sie vergessen, wozu wir hergekommen sind. Nach allem, was ich von Ihnen gehört habe, sind Sie doch sonst nicht so weitabgewandt! Kommen Sie, Rita!«

Damit ging Giese als erster die flache Böschung hinab und Rita folgte ihm schnell. Das Wasser war nicht so kalt, wie sie nach dem Aussehen des Sees befürchtet hatte. Ein Baumstamm bot Gelegenheit zu turnerischem Spiel, und dabei fand Rita endlich ihre unbeschwerte Laune wieder, in die Dr. Giese unerwartet natürlich einstimmte. Rita lachte ihn an, als sie auf dem sich um die eigene Achse drehenden Stamm das Gleichgewicht zu halten versuchte. Sie fand es leichter, das körperliche Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, als das seelische. Aber sie sollte sich getäuscht haben. Dr. Giese gab dem Stamm unvermutet eine noch schneller drehende Bewegung, und Rita purzelte nach einem vergeblichen Versuch, sich doch oben zu halten, ins Wasser. Ihrer Absicht, sich zu rächen und Gieses Kopf unters Wasser zu drücken, entging der Schwimmer mit Leichtigkeit, und sie gab das Spiel schnell auf; Giese war ihr zu fremd, um auf einer Neckerei zu beharren.

Nach dem Umziehen setzten sie sich an eine der wenigen Stellen des Ufers, die von der Sonne erreicht wurden. Jeder hielt die unvermeidliche Zigarette in der Hand, und Rita sah träumend dem Rauch nach, der sich in feinen Schnörkeln in die Luft erhob. Wie schön wäre es, wenn sie diese Stunde unbeschwert hätte genießen können! Diese Briefe waren wirklich ein störender, drohender Schatten, genau so finster und ungreifbar wie die Schatten, die Düsternis dieses Sees.

Giese beobachtete das stille Mädchen. Wie schön sie ist! dachte er. Und nicht nur schön, nein, es war etwas mehr in diesem Gesicht – Wille, Wissen um die Wahrheiten des Lebens und ein Selbstbewußtsein, das bestimmt nicht unbegründet war. Rita Kattner war alles eher als eine dumme, flatterhafte Person, die einfach in den Tag hineinlebt. Er wurde nicht klug aus ihr. Ihr Ruf sprach von ihr als von einem leichtlebigen, fast leichtsinnigen schönen Geschöpf, das nichts anderes kannte als Vergnügungen. Dagegen sprach aber unbestreitbar der jetzige Ausdruck ihres Gesichts. Außerdem paßten auch ihre Freunde nicht zu dem etwas geringschätzigen Leumund, der Rita Kattner anhaftete. Nissen, Dr. Glaß, Fritz Ruh – das waren nicht Menschen, die sich an eine wertlose Frau verlieren würden. Und daß das bei allen dreien weitgehend der Fall war, wußte Giese. Er hatte dafür volles Verständnis, war er doch selbst auf dem besten Weg, es ihnen gleichzutun.

»Wo sind Sie mit Ihren Gedanken, Rita? Ihr Grübeln paßt nicht zu dem schönen Tag!«

Rita wandte langsam das Gesicht dem neben ihr sitzenden Mann zu, die vertrauliche Anrede überhörend. Sie schwankte nicht lange, ob sie Giese gegenüber von dem sprechen solle, was sie seit einiger Zeit nicht aus ihrem Kopf bannen konnte.

Es ist stets leichter, einem fremden Menschen gegenüber offen zu sein, als einem vertrauten, nahestehenden. So gab sie dem Verlangen nach, sich auszusprechen, sich so zu geben, wie sie wirklich war.

Giese hatte richtig vermutet – Rita Kattner war besinnlicher und ernster, als selbst der Freundeskreis wußte, dem sie immer nur die strahlende Oberfläche zeigte.

Sie griff in das Etui Gieses, das offen zwischen ihnen lag, und hielt das Gesicht mit der Zigarette im Munde dem Mann hin, der ihrer stummen Aufforderung entsprach und ihr Feuer reichte. Dann erzählte sie ihm von den Briefen, drei an der Zahl, die sie erhalten hatte, und knüpfte ihre Überlegungen an, die darin gipfelten, daß sie unverständlich seien und blieben.

Giese hatte dem Bericht ohne Zwischenbemerkung zugehört. Als Rita schwieg und mit einer abschließenden Bewegung ihren Zigarettenstummel im Sand ausdrückte, fragte er:

»Ihr Verlobter findet auch keine Erklärung dafür?«

»Nein, Horst weiß damit genau so wenig anzufangen wie ich.«

Giese dachte nach, sein Gesicht hatte die Heiterkeit verloren, die es meistens zeigte.

»Die Drohung ist ernst, Rita! Sie dürfen sie nicht in den Wind schlagen.«

Rita sah fragend auf.

»Glauben Sie wirklich, Rita, daß sich ein Mensch, der sich so beharrlich immer wieder meldet wie dieser Gläubiger, nur einen Scherz erlaubt? Er will etwas Bestimmtes, von dem er sicher ist, daß Sie, oder vielleicht Horst Nissen, wissen, worum es sich handelt. Ich würde es für einen bodenlosen Leichtsinn halten, die Briefe einfach zu übersehen. Sie spielen mit dem Tode, Rita!« Gieses Stimme klang tief und schwingend und sehr, sehr ernst.

Rita hob fröstelnd die Schultern. Es war nicht nur der Schatten der hohen Kiefern, der diese schaudernde Bewegung auslöste.

»Was soll ich aber tun? Der Gläubiger schreibt nicht, was er will! Er setzt keine Frist, nennt keine Adresse, an die ich mich wenden könnte. Was soll ich tun?«

Wenn es nicht so unwahrscheinlich gewesen wäre, hätte Giese glauben können, in Ritas Stimme klänge Verzweiflung.

»Der Gläubiger schreibt wohl, was er will, Rita. Sie sollen sich von Nissen trennen.

»Was ich bestimmt nicht tun werde!« antwortete Rita heftig und entschlossen. »Wenn ich nur wüßte, weshalb er das wünscht! Durch unsere Heirat wird niemand benachteiligt. Es gibt keinen Menschen, dem durch die geplanten Ausgaben meines Verlobten ein Schaden entsteht. Es ist dumme Rederei, wenn der Gläubiger im ersten Brief schreibt, Nissens Verbindung mit mir ließe für die Zukunft seines Werkes und seiner Gefolgschaft fürchten. Der Gläubiger versteckt sich damit hinter eine Menschenliebe, die bestimmt unecht ist und nur ein Schild sein soll für seine eigenen Forderungen und Wünsche.«

»Sie mögen recht haben, Rita. Doch gerade diese Überlegung beweist, daß die Gefahr, in der Sie schweben, wahrscheinlich größer ist, als sie im ersten Augenblick erscheinen mag. Denn ein Mensch, der, wie Sie sicher richtig annehmen, zu allem andern auch noch ein Lügner ist, wird auf keinen Fall davor zurückschrecken, seine Drohung wahrzumachen, wenn er sieht, daß seinem Befehl nicht Folge geleistet wird.«

Rita sah fragend auf. Sie hatte sich an Giese gewandt in der Hoffnung, Beruhigung und Aufklärung zu finden. Statt dessen erfuhr sie von ihm eine Verstärkung ihrer Sorge und, war sie ehrlich, ihrer Befürchtungen. Auch sein Gesicht war nicht geeignet, ihr wieder Vertrauen in die Zukunft zu geben und das Lastende der letzten Zeit zu bannen. Seine graubraunen Augen hatten eine Härte im Ausdruck, die Rita erschreckt hätte, wäre sie gegen sie gerichtet gewesen. So aber deutete sie Gieses Gesichtsausdruck als eine Art Kampfansage dem Gläubiger gegenüber und war ihm dankbar für seine Teilnahme, um so mehr, als die Stimme Gieses warm und besorgt klang, als er sagte:

»Sie sind leichtsinnig, Rita! Ich fürchte für Ihr Leben und damit für etwas sehr Kostbares, das wir alle nicht missen möchten.«

*

Bis hierher habe ich das eben Erzählte selber miterlebt. Am Tag nach der Unterredung zwischen Rita und Dr. Giese am dunklen See verließ ich unsere Stadt, um mich im Auftrag der Zeitschrift auf Reisen zu begeben.

Von hier ab also stammt meine Kenntnis der Vorfälle nicht mehr aus eigener Anschauung oder aus unmittelbarer Erzählung. Vielmehr beruht sie auf Berichten der Beteiligten und schriftlichen Notizen von Dr. Staps und seiner Sekretärin, Fräulein Brade, einem entzückenden Mädchen. Sie ist nicht nur entzückend an sich, sondern auch darum, weil sie mir schon viel Stoff für meine Romane geliefert hat. Ja, das gute Bradelchen macht sich sogar die Arbeit, jeweils nach Lösung eines besonders interessanten Falles durch ihren Brötchengeber eine schriftliche Zusammenfassung niederzulegen, die sie mir dann übergibt – selbstverständlich gegen eine angemessene Entschädigung in Form einer Packung Pralinen oder Schokolade. Geld nimmt sie nicht.

Ihr Chef, der Professor, weiß um diese Abmachung zwischen Fräulein Brade und mir, seinem Freund. Ich gebe zu, daß es vermessen erscheinen mag, mich als Staps' Freund zu bezeichnen, aber es ist wirklich an dem. Dies nur in Klammern. Also er weiß um diese Abmachung und duldet sie, brummend und knurrend zwar, aber er duldet sie, und mehr brauche ich nicht.

Für das Folgende kann ich also nicht so weitgehend einstehen wie für das Bisherige. Denn, wie gesagt, ich kenne die Vorgänge nach meiner Abreise nur noch vom Hörensagen. Aber soweit ich die Teilnehmer an dieser Tragödie beurteilen gelernt habe, glaube ich, mich auf die Vollständigkeit der mir zugetragenen Erzählungen und Berichte verlassen zu können. Mag auch Dr. Staps den oder jenen etwas anders sehen, als ich ihn kennengelernt habe, so stimmen unsere Ansichten im wesentlichen doch überein.

Christ. Ernst.

* * *

 


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