Georg Engel
Claus Störtebecker
Georg Engel

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IV

Höret weiter, Herr Nikolaus Tschokke«, erinnerte Königin Margareta von Dänemark, und es schien der Erhitzten in ihrer Hingenommenheit nicht aufzufallen, wie der Gast in seiner schwarzen Ratsherrntracht unbewegt ihr gegenüber in dem Armstuhl lehnte, ohne auch nur durch ein eingestreutes Wort seinen Abscheu vor der so ausdrucksvoll beschriebenen Brandstiftung zu bekunden. Die Fürstin aber hatte sich völlig vergessen, sie hielt das Haupt in beide Hände gestützt, und ihre blitzenden Augen verfolgten das Buchstabengewimmel auf dem Pergament, als starre sie leibhaftig von einem hohen Turm in die brennende Holzstadt hinunter, auf die verqualmten Gassen, auf lichterloh flammende Menschenbündel und auf den Zusammenbruch altehrwürdiger Gotteshäuser.

Damit also begann die neue, die so viel gepriesene Weltordnung, deren inbrünstige Verkündung sie doch manchmal den Schlaf kostete? Die Finger der Verletzten krümmten sich, ratheischend sah sie auf ihre beiden Vasallen, die eine Stufe unter ihr zu ihrer Rechten Platz genommen. Aber das Gerippe von Reichskanzler zitterte frierend in der Höhlung des Stuhls, nur ab und zu über die Goldmünzen seines Prunkgewandes putzend. Der Kriegsoberste von Moltke dagegen drehte seinen Totenschädel häufig nach einer herumsummenden Fliege, denn es reizte ihn, das schwarze Geschmeiß unbemerkt zerquetschen zu dürfen. Margareta richtete ihren wandernden Blick wieder auf den Bürger. Warum nahm dieses kantige Händlergesicht an ihrem gemeinsamen Leid so wenig Anteil?

»Herr Nikolaus Tschokke«, beugte sie sich über den Tisch, entschlossen den anderen zu versuchen, »es ist mit euch bergischen Hansebrüdern zu Ende. Der Störtebecker hat euch Kontorsche ausgeräuchert gleich den Heringen im Schütting. Es ist zu Ende.«

Allein wie enttäuscht zuckte sie zurück, als ihr Gast ohne sonderliche Erregung erwiderte:

»Königin, es wird Euch gewiß freuen, Besseres zu erfahren. Von unseren zweiundzwanzig Giebeln ist nur einer der Feuersbrunst erlegen. Die anderen wurden hinter den Holzmauern von unseren Kaufmannsgesellen verteidigt.«

»Ah, und nun meint ihr Kontorschen, ihr brauchtet euch nicht fürder an dem Giftstreuen gegen den tollen Hund zu beteiligen?«

Der Bürgermeister schwieg.

Rauschend erhob sie sich. Geschmeidig stieg sie von dem Podest herab, und siehe da, es war nicht mehr die Fürstin, die zwischen sich und anderen Schranken zog, nein, ganz unvermutet entzauberte sie sich, so daß jetzt nur noch zu aller Bestürzung ein bösartig gereiztes Weib durch die Zelle strich, das nach nichts anderem züngelte, als dem Gegner auf eine niederträchtige Art das Herz aus dem Busen zu reißen. Mit einer merkwürdig ungezügelten Wiegebewegung glitt sie bis dicht vor ihn hin, um ihm ganz nah ins Gesicht zu schleudern:

»Meint Ihr, Herr Nikolaus Tschokke, der Störtebecker habe sich solange besonnen, bevor er auf Burg Ingerlyst einstieg? Wie ist mir denn? Der Conaer Abt erzählte doch, der Galgenvogel habe auch Euer künftig Nest beschmutzt?«

Es war die nackteste Absicht, den Vorsichtigen zu kränken oder ihn vielleicht gar zu sinnlosen Geständnissen zu reizen. Selbst die beiden dänischen Großen, obwohl ihnen die Vorliebe der Frau für unbegreifliche Zoten bekannt war, schüttelten erstaunt die Köpfe. Dem Hamburger jedoch hatte es zuerst das Haupt auf die Brust gepreßt. Jetzt aber richtete er es entschlossen auf, und aus seinen blauen Augen wie aus der festen Stimme des Mannes schlug der Regentin eine unbeirrbare Geradheit entgegen.

»Der Conaer Abt, Herrin«, entgegnete er ohne jedes Zaudern, »wird Euch auch gemeldet haben, daß eine höhere Hand meine Rechnung durchstrich. Gräfin Linda ist tot und verschollen, Königin.«

»Ihr irrt, mein Freund.«

Um ihren Besuch krachte die Erde. Jetzt verlor er jede Vorsicht.

»Was wißt Ihr von ihr?«

Da sprudelte es in Margaretas ausführlich malender Schilderungskunst hervor, wie sich der Seeräuber die Ohnmächtige über die Schulter geworfen, um sie in schlimmer Absicht von dannen zu tragen. Und in der unehrlichen Vornahme, zu trösten oder zu entschuldigen, setzte sie hinzu:

»Sie konnte sich nicht wehren. Er mißt sieben Fuß.«

In dem Antlitz des Bürgermeisters stritt sich die grünliche Blässe des Todes mit der eigenen unrächbaren Entwürdigung. Ein Paar kreisrunder Blutkugeln erschienen auf seinen Backenknochen, bevor er heiser hervorstieß:

»Aber seitdem hat die Unglückliche, wie nicht anders zu erwarten, die Erde verlassen. Am Jüngsten Tag wird auch ihr Gerechtigkeit widerfahren.«

Die Königin schüttelte das Haupt.

»Herr Nikolaus Tschokke, hier täuscht Ihr Euch abermals.«

Spürend hielt sie das Antlitz ein wenig geneigt und zuckte jetzt fast feindselig die Achsel. Sie begriff im Grunde den Reiz nicht, den das frömmelnde Nonnengesicht ihrer früheren Hofdame auf den nüchternen Stadtbürger ausübte. Noch weniger freilich vermochte sie zu ermessen, welch verdorbene Lust den Heiland aller Mordbrenner gerade zu jener Himmelsbraut geführt haben mochte. Und in dieser Stimmung verkündete sie rücksichtslos, was ihr selbst von den Flüchtlingen des »Connetable« über den Aufenthalt des Mädchens auf dem Seeräuberschiff zugetragen worden war.

»Ihr sollt alles erfahren. In Männerkleidern, in Beinlingen und in der gepreßten Schecke geht sie dort unter den Vitalianern umher. Sie wartet dem Unhold bei Tisch auf, und er herzt und streichelt sie dafür. Was weiß ich, was er ihr sonst noch erweist?«

So wenig vermochte die Königin bei den letzten Worten eine Art ferner, sie quälender Eifersucht zu unterdrücken, daß sogar ihr hindämmernder Kanzler vieldeutig die Lippen spitzte. Der Mann aber, auf den die niederträchtige Schilderung allein wirken sollte, er blieb zuvörderst ganz still.

Endlich brach es aus Herrn Nikolaus Tschokke starr, trotzig, überzeugt hervor:

»Dies ist nicht Gräfin Linda.«

»Wer sonst?«

»Kenn' ich alle Dirnen auf der ›Agile«? Aber Linda ist es nicht. Könnt Ihr meinen, Königin, eine nur dem Himmelslicht sich öffnende Seele, sie könnte plötzlich zu einem Pfuhl zerfließen?«

»Doch, doch.«

Margareta sprach diesmal mehr zu sich selbst. Sie hatte die Hände auf dem Rücken gebettet und schritt, nur mit sich beschäftigt, im Zimmer auf und nieder. Deshalb klang auch wahrer, was sie in die Tiefe ihrer eigenen Brust hinabsandte.

»Doch, doch, lehrt mich die Weiber kennen! Die da stehen sind andere, als da auf weichem Pfühl liegen. Tag und Nacht wechseln schnell unter unseren Zöpfen.«

»Seht«, murmelte der Bürgermeister verworren. Eine geraume Zeit verstrich in tiefem Schweigen. Dann tat der Hamburger einen schmerzlichen Atemzug und griff sich an den kurzen Dolch seines Wehrgehänges. »Gebt mir ein Dokument des Vertrages mit«, wandte er sich rauh an den Kanzler, der sich vor Überraschung nicht zu erheben vermochte. »Und sollte ich auch von dem mir lieb gewordenen Amt scheiden müssen, ich will durchsetzen, was Ihr von mir verlangt. Im Frühjahr seht Ihr mich wieder! Gewappnet. Versäumt nichts, meidet lieber den Schlaf und die Kost, als daß Ihr in diesem Ding lässig seid. Und nun laßt mich an mein Werk gehen, Königin.«

Er beugte sich über die ihm dargereichte Hand, schlug den Vorhang zurück und schied. Die drei anderen blickten ihm nach, als ob sich ein gewöhnlicher Mensch in eine Traumgestalt verlöre.


Mit brennenden Augen spähten die Freibeuter durch Luft und Erde, ob ihr Kundschafter nicht endlich heimkehre.

»Wie lange wartete wohl Josua auf die Boten aus dem Gelobten Lande?« fragte der Störtebecker seinen Knaben, mit dem er lang ausgestreckt unter dem Sonnensegel des Bugaufbaues lag. Sie spielten Würfel, allein ihre Gedanken fanden in dem ledernen Becher keine Herberge. Seit dem Streit mit dem Wichbold war der Riese wortkarg geworden. Sein Stolz schien eine eiternde Wunde empfangen zu haben. Nur der Wein, wenn er Gewalt über den schwer zu Brechenden erlangte, schrie manchmal mit fremden, prahlerischen und drohenden Zungen aus dem Entfesselten heraus. Aber selbst dann entdeckte Licinius in den glühenden Augen des Wilden noch das ernste Bild der Gottheit, das durch ihn über die Erde rufen wollte.

Um die beiden Lagernden herum hingen aus wolkenlosem Himmel jene kaum wahrnehmbaren Silbergespinste herab, mit denen Uranos das Meer an sich zu knüpfen und zu sänftigen sucht.

Es war Herbst geworden.

Die See rollte rote Wogen gegen die fernen weißen Kreidefelsen, und über ihnen auf den Erhebungen der Insel meinte das Auge des Seefahrers das Sausen und Wiegen der schwarzgrünen Wipfel zu spüren, sooft uralter Runenzauber in ihrem Schoße wühlt.

Wohl ließ der Störtebecker ab und zu die beinernen Ritter springen, aber er wandte keinen Blick nach ihnen, seine Seele war an etwas Früheres geknüpft.

»Wie lange warten wir nun auf den Wichmann?« fragte er zurücksinkend.

»Es geht bald in den zweiten Mond, Herr«, zögerte der Knabe.

Der Störtebecker streckte sich lang aus und preßte die geballte Faust schwer auf seine Brust. Dann sprach er langsam:

»Ich sage dir, Licin, wenn der jüdische General so lange hatte lauern müssen, wer weiß, ob sein Tatwille nicht gebrochen wäre. Das Warten hat zwei eiserne Arme, komm, ich wollte, mich umfinge Weicheres.«

Als sich jedoch neben ihm nichts rührte, schwieg der Riese eine geraume Weile, bis er endlich die Hand des Knaben suchte, um sich die Finger des Gefährten gewaltsam und wie zur Kühlung auf die geschlossenen Wimpern zu betten. Und wieder nach langer Zeit forschte er, als ob ihn ein Traum beschäftige.

»Sage mir, Bursche, was blickst du so aufmerksam auf die Dünen seitwärts von der Felsenschlucht?« Der Liegende warf den Arm vor und zeigte auf die ferne, strichfeine Küste. »Merkst du dort eine hölzerne Hütte? Und daneben den Stall für die Ziegen?«

»Nichts schaue ich, Herr«, entgegnete der andere verwundert.

»Doch, du gibst dir nur keine Mühe. Rauch ringelt aus dem Schlot. Und in dem Riedgras vor der Schwelle steht– – –«

»Wer?« wagte Licinius zu unterbrechen.

»Ich selbst«, fuhr der Störtebecker plötzlich ungestüm in die Höhe, packte seinen Gefährten an der Brust und schüttelte ihn unter einem rauhen, abwehrenden Gelächter. Ganz nahe brannte das wilde Gesicht des Freibeuters vor den sanften, erschreckten Augen des ihm Preisgegebenen.

»Torheit«, rief der Aufgestörte geringschätzig, »es sind Schatten. – Was kümmert es mich, ob man dort drüben frißt oder modert? Will mich nicht durch welke Küsse von meinem Weg treiben lassen.«

Hingenommen, verängstigt durch die kaum verständliche Drohung, aber auch bezwungen und aufgelöst von dem schreckhaften Zauber des Menschen, so lag Licinius vor dem Gebieter auf den Knien und schaute zu ihm auf. Jetzt aber flüsterte er ganz leise und doch voll Ergebenheit:

»Wer, Herr, kann dich ablenken oder abziehen? Dein Weg führt über die Wolken.«

Es klang so aus einer zur Gewißheit erhobenen Seele, daß es den gespannt Lauschenden wie ein scharfer Trank durchfuhr. Diesen geistigen Wein bedurfte er, er konnte ihn nicht mehr missen. Einen weithin hallenden Ruf stieß er aus, dann aber beugte sich der Riese stürmisch herab, umfing den Knienden, und indem er den schlanken Leib stützte, zauste er übermütig und in vollem Triumph in den Locken des Knaben.

»Recht, Bübchen, findest immer einen guten Spruch! Hab' schon den besten Fang an dir getan! Nun aber laß das Heulen um alte Weiber. Wollen lieber sehen, wessen Glück besser gelaunt ist.«

Damit warf sich der Admiral von neuem neben Licinius auf den Teppich und begann mit einer unrastigen Gebärde den Würfelbecher zu stürzen. Hastig riß er dabei seine Gürteltasche auf und schüttete einen Haufen Goldes zwischen sich und den Freund.

»Da, Schelm, dies setz' ich gegen dich. Möcht' dich gern vollends um Hab und Gut bringen.« Und als ihm sein Gefährte kleinlaut bedeutete, daß ihm ja nichts mehr an Gold und Besitz eigne, da schlug der andere eine vieldeutige Lache auf und meinte: »Flunkere nicht, Püppchen, es ließe sich dir wohl noch manch Gutes abgewinnen.«

Da senkte Licinius plötzlich betroffen die Augen, zitterte und bettete unerwartet beide Hände über den Becher.

»Was soll das?« rief sein Herr ärgerlich über die Störung, konnte es aber doch nicht verhindern, daß sein Knabe in das eben verlassene Gespräch zurücklenkte.

»Herr«, brach er mit einmal hilflos ab, »ich verbarg dir etwas. Heute morgen wiesen sich zwei Schiffsleute deine Heimat auf Saßnitz. Und der eine meinte, du suchtest nur deshalb nicht nach den Deinen auf der Insel, weil sie arm und elend wären.«

Jetzt sprang der Riese empor und schob seinen Gefährten heftig mit der flachen Hand von sich.

»Dulde dies nicht«, bat Licinius noch einmal. »Warum sollst du Tröster gerade deine Nächsten verachten?«

Unterdessen war der Störtebecker bis zu dem eingebauten Bugspriet geschritten, dort, wo die Riesenlaterne als erstes Wahrzeichen des Schiffes bei Nacht ins Meer leuchtete. Hier stand er abgewandt, nagte verdrossen die Lippen und schleuderte zuweilen die Rechte von sich, als ob er irgend etwas Verbrauchtes ins Wasser würfe. Endlich rief er schneidend über seine Schulter zurück:

»Daß es in euren Hirnen nicht anders wachsen will als die Kohlköpfe, in langen, geraden Furchen. So will ich euch denn zeigen, wer meine Nächsten sind! Ob ihr, die ihr an dem Henkerstuhl vorbei mit mir ins Ungewisse zieht, oder jene, die sich unter ihren Schlafsäcken vor mir verstecken! Bei Sonnenuntergang halte dich bereit. Toren und Strohwische« –, brach er plötzlich anklagend aus, »möchtet gern fliegen und klebt wie Lehm an den alten Nestern.«

Sie bückten sich tief, als der prunkhaft geschmückte Mann in der grauen Dämmerung an ihnen vorüberwandelte. Da und dort standen die unfreien Sassen auf dem öden Strand, denn von weit hinter den Bergen liefen sie schon seit Wochen herbei, um ihre schreckstarre Sehnsucht an den fernen Schatten der Gleichebeuterschiffe zu weiden.

Zwar die dort draußen waren Satansgelichter! Das Kloster predigte es, der Vogt bestätigte es, die Gottverfluchten wollten die Welt an allen vier Ecken anzünden. Um mehr handelte es sich nicht. Dumm und verständnislos hatten die Sassen dazu genickt. Aber als jetzt der Übeltäter geschmeidig an ihnen vorüberstrich, der Unheimliche, Glänzende, Sagenumsponnene, vor dessen unmittelbarer Gewalt der Abt, der Graf, ja sogar die kleine Herrscherhoheit des Herzogs von Wolgast verblich, da klopfte den Benommenen das Herz bis in die Zähne, da gurgelten ihnen Wut, Erkenntnis, Hingerissenheit durch die Kehlen, da schlug es ihnen den Rücken ein, und sie brachen vor dem Traumbild ihrer müden Seelen in den Staub.

»Du – du«, stammelten sie mit hoch erhobenen Armen.

Selbst der Vogt, jetzt ein gichtgekrümmter, hundebissiger Siebziger, an dessen Schläfen nur noch ein paar zerzauste Weißsträhnen flatterten, er ließ mit offenem, zahnlosem Munde das Wunder an sich vorübergleiten und hielt sich mühsam an dem kronengeschmückten Stab aufrecht.

Der Störtebecker aber erkannte ihn sofort. Er maß ihn mit einem mitleidigen Blick.

»Lebst du?« fragte er.

Selbstbewußt nickte der Alte, versuchte sich zu recken und bohrte seinen Stock tiefer in die Nässe. Plötzlich bellte er heftig:

»Es ist verwehrt, an dieser Stelle zu landen.«

Da brach der Störtebecker in ein geradezu unbändiges Gelächter aus, selbst der Vogt verfiel vor all den Zeugen in eine unentrinnbare Verlegenheit, und am ganzen Strand heulte und wütete ein einziges tobendes Brüllen. Welch ein frischer Wind, welch ein Wirbeln unter dem jahrhundertealten Staub der Verordnungen. Endlich bezwang sich der Gleichebeuter. Er riß seinem Buben ein Beutelchen aus der Hand. Das warf er dem Knurrenden dicht vor die Füße.

»Mag dich gern leiden. Klotz«, gestand er. Dann zeigte er auf die Dünen. »Und dort oben?« forschte er heimlich.

»Lebt«, kam es aus dem Munde des Vogts einsilbig und ohne Dank.

»Wohlan, so kümmere dich nicht weiter um mich.«

Ungeduldiger als bisher schlang er seinen Arm unter den des Knaben und zog diesen den Dünenpfad in die Höhe. Allein kaum nach ein paar Schritten hielt er inne, um sich nochmals zurückzuwenden.

»Kehre ich wieder«, rief er mit seiner hellen schmeichelnden Stimme, die ihm sooft aller Herzen gewann, »dann, Vogt, will ich nicht mehr die Hafengerechtsame verletzen. Ich bin nicht gekommen, um vernünftige Ordnung zu stören. Möchte sie euch gerne bringen. Hört ihr, in meines Herzens Schale bringen. Und nun bleibt jung.«

Da huldigten unten die Unfreien und warfen dem Menschenfischer die Mützen nach. Der Vogt jedoch schwang in schiefen Wendungen seinen Stock gegen die Menge, keifend:

»Packt euch – was lungert ihr müßig herum? Wir wissen nicht, wer der vornehme Herr war – keiner störe ihn auf seinen Pfaden.«


Das verrunzelte Fischerweib trat auf die Schwelle der Kate und schwang einen brennenden Kienspan gegen die Dunkelheit. Fest stemmten sich ihre derben, nackten Füße in den Sand, und ihre mißtrauischen blauen Augen weiteten sich, als hinter dem Vorhang von Kienrauch und feuchtem Seenebel zwei fremde Gestalten auftauchten. Undeutlich leuchtete es draußen von Gold und Seide. Seltsam – seltsam – die Alte strich sich über das glatt gescheitelte weiße Haar und wich vor Bewunderung unwillkürlich zur Seite. – Wie lange Zeit mochte wohl verstrichen sein, seit sich ihr – der Jungen, der die Mannsbilder so hitzig nachstellten – ein ähnlich Blitzender genähert hatte? Vorbei – das war längst vergessene Bitternis. Allein die Art Herren brachte den Geringen nichts Gutes ins Haus! Und was hatte dieser da, der sich unter dem Eingang wohl gar noch tiefer bücken mußte, als es einst von ihrem Verstorbenen geschah, was hatte dieser so befehlshaberisch und sicher in ihre Hütte zu dringen?

Plötzlich ließ Mutter Hilda die Leuchte fallen, so daß sie erlosch. Obwohl Himmel und Meer wie eine schwarze Grube unter ihr gähnten, so waren vor ihrem geistigen Auge dennoch die Umrisse der Gleichebeuterschiffe aufgestiegen. Dann hörte sie das geheimnisvolle Raunen der Nachbarn, sie fing auf, wie man mit Fingern auf sie wies – und mit einemmal spürte sie, wie eine drohende Hand ihr Herz festhielt, bis es ihr nichts mehr vermittelte. Weder Freude noch Scham, weder Hinneigung noch Grauen. Nichts redete in ihr als jene kalte, rauhe Stimme, die da sagte:

»Was will der Fremde?«

Die Falten auf der Stirn zog es ihr kraus, ungerührt konnte sie in die Hütte zurücktreten, dem Unbekannten nach, wie jemand, der sein Hausrecht wahren will. Aber als nun die Frühgealterte im Schein des Herdfeuers unter dem Mantel ihres Besuchers die Fürstenkette blinken sah, als ihr abgeneigtes, strenges Antlitz von den schwarzen, lebhaften, herrschgewohnten Augen festgehalten und angezogen wurde, da wankten ihr die Beine unter dem Leib, und die Gewohnheit, sich stumm vor allem zu bücken, was mit dem Anspruch der Macht unter die Geringen trat, es zog ihr den noch eben straffen Rücken furchtsam vornüber. Verehrungsvoll wand sie die stark geäderten Hände umeinander.

»Kennst du mich?« entglitt es dem Störtebecker, der vor der Esse stand, wo er gegen die lähmende Wirkung des Vergangenen ankämpfte.

»Was sollt ich nicht?« murmelte die Weißhaarige, sich vorsichtig zurückziehend, und dabei bekreuzigte sie sich stumpf.

Ihr Sohn tat einen starken Schritt gegen sie, die Hütte dröhnte von seinem Gang.

»Gib mir die Hand«, forderte er stürmischer, als er ahnte.

Die Fischerfrau sah an dem großen, herrlichen Menschen in die Höhe, dann schüttelte sie in ringender Verständnislosigkeit das Haupt und versteckte ihre Finger hinter der groben Schürze.

»Wir sind arme Leute«, murmelte sie.

Ihr Bedränger jedoch fing ihre Rechte gewaltsam ein und preßte sie, bis die Arme wimmerte.

»Freu dich«, drängte er, als könnte er sogar Wärme und Neigung befehlen.

Wieder jener verzweifelte Blick der Leere und dann unter Scheu und Zögern:

»Ich weiß nicht mehr, wie es tut.«

Da quoll sie endlich hervor, die herabgewürgte Wut einer Vergessenen, da entlud sich das dumpfe Leid, keinen Anteil zu haben an dem, was der Leib in Schmerzen gebar. Und doch, der kluge Menschenverstand des Fischerweibes bedeutete ihm sogar noch zu dieser Frist, daß dies alles nach der Ordnung der Dinge wäre, weil der Fischerkittel niemals erhorchen könne, wie es unter dem Herrenwams hämmere, weil die Engnis der Sassenhütte unmöglich das Gedränge der Welt zu erfassen vermöge, und nicht zuletzt, weil die Jugend von jeher vom Alter fortstrebe wie Störche und Stare, wenn sie die Kälte spüren.

Alles längst ganz vernünftig überlegt. Aber jetzt, wo ihr das Fremde nahe gerückt war, da wehrte sie sich erbittert gegen ihr Geschick und schüttelte hartnäckig den Kopf. In der Stille, die sich einschlich, stand der Heimgekehrte verfinstert neben der Esse. Und siehe da, er hatte seinen Knaben an die Hand genommen, als müsse er jemand nahe wissen, der sich zu ihm rechnete, einen Bürger aus jener Welt, die noch ungeschaffen hinter Kreisen tanzenden Lichtes schlummerte.

Auch die Alte blickte forschend auf das hellglänzende Haar des Jünglings, auf die biegsame Gestalt und auf die ausladende Weichheit der Hüften. Abermals wiegte sie argwöhnisch das Haupt. Über die Wangen des jungen Dänen aber schoß eine feurige Glut. Sie rührte nicht von den brennenden Buchenklötzen des Herdes her. Es war das erstemal, daß Linda seit ihrem tiefen Fall wieder einem ehrbaren Weibe gegenüberstand. Sie fror.

Da rührte sich ihr Herr. Das Leuchten war aus seinen Zügen entwichen, dafür beherrschte ihn gänzlich jenes kurze, rücksichtslose Zugreifen, das die meisten Dinge kaum einer Prüfung für wert erachtete.

»Was weißt du von mir?« warf er der Alten hart und sachlich zu. Die stand und verfolgte aufmerksam, wie der Riese den schwarzen Mantel über den Tisch schleuderte. Es schien also, als wollte ihr Sohn noch länger weilen. Um die geschlossenen Lippen des Weibes zuckte es.

»Die Leute sprechen viel«, überwand sie sich endlich.

»Was?« forderte der Störtebecker, allmählich gereizt ob ihrer sprechfaulen Störrigkeit.

Da geriet etwas mehr Leben in die Erstarrte. Gerader richtete sie sich auf, bis sie endlich gestrafft vor dem Wartenden stand wie in alten Tagen, sobald ihr hitzig Wort oder ihre strafende Hand irgendeine Verfehlung an dem schwer lenkbaren Jungen sühnen wollte.

»Ist es wahr«, erkundigte sie sich schon mit zitterndem Abscheu in der Stimme, »daß du die große Stadt Bergen verbrannt hast?«

War es das Aufflackern des Feuers allein, in das der Freibeuter eben mit aller Wucht die Zange hineinstieß, wodurch seine kühnen Züge so gräßlich verzerrt wurden? Einen wilden Blick des Einverständnisses, des Hohnes, der ohnmächtigen Raserei warf er seinem bebenden Licinius zu, dann ließ er sich auf die Herdbank sinken und riß sich gewaltsam ein hämisches Lachen aus der Brust.

»Wahr«, rief er in widersinniger Freude über das Entsetzen, das er entfesselte, »was weiter? Die Fackeln, die die Welt erleuchten, riechen oft nach Menschenfett!«

»Ach du Barmherziger, vergib uns unsere Sünden«, stöhnte die Mutter geistesabwesend und schlug im Jammer um eine untergegangene Menschheit beide Hände vor ihr Gesicht. Jedoch nicht lange, denn gleich darauf schreckte sie auf, um geschäftig ihre Finger unter dem Brusttuch zu verbergen. Alle ihre Bewegungen malten deutlich die Angst, auch sie könnte irgendwie durch Asche, Blut und Unrat besudelt worden sein.

»Was willst du?« wehrte ihr Sohn den stummen, unbequemen Angriff ab. »Gib uns was zu zehren.«

Die Fischerfrau hörte nicht, sie streckte vielmehr den Arm gegen die Fensterluke, als könnte sie durch sie hindurch auf die verbrannte Stadt deuten, denn die verkohlten Sparren zeichneten sich für sie zackig gegen die Nacht ab.

»Bin nur dumm und ungelehrt«, beharrte sie mit dem Starrsinn des Bauernmenschen, »deshalb sage mir, warum du das verübt hast.«

Da griff sich der Störtebecker an die Kehle, als könnte er in diesem dumpfen Loch keinen einzigen freien Atemzug mehr gewinnen, ein Ringen war's, das den Krämpfen des alten Claus Beckera ähnelte, dann aber riß er sich plötzlich in Wut die Goldkette vom Halse und schleuderte sie mitten auf den Ziegelboden, daß sich ein sprungartiges Reißen und Klirren erhob.

»Nimm«, schrie er in der verworrenen Meinung, sich loskaufen oder den unbegreiflich drohenden Mund des Weibes schließen zu können. »Was gehe ich dich an? Aber es ist nicht wahr, daß nur von weißen Lämmern das Gute in die Welt gebracht wird. Schau mich an, saufe das Blut fuderweis und will doch hoch hinaus. Weib, Kain und Judas waren gar große Herren. Die Befreiung geht oft durch das Übel.«

Weit streckte er die Füße von sich, stützte die Fäuste hinter sich auf die Bank und horchte in Qual und Fieber darauf, ob diese Alte nicht doch, wie alle anderen, vor ihm zusammenbrechen würde. Mutter Hilda aber schritt schweigend an den Tisch, dort zog sie ernsthaft ein langes Kreuz in die Luft und sprach beschwörend:

»Ich will meine Hütte scheuern, wenn du geschieden bist. Nur noch eines, damit ich doch sicher weiß, von wem du stammst. – Bist du's, der wehrlosen Weibern Gewalt zufügt?«

Dicht neben der Esse entfärbte sich das Antlitz des jungen Dänen, er versuchte mit erhobenen Händen den Feldstein abzuhalten, der ihm wuchtig gegen die zarte Brust flog, allein er brachte es nur zu einem unverständlichen Flüstern. Mühsam, taumelnd wollte er sich gegen die weißhaarige Richterin schleppen, jedoch bevor er noch eine einzige Bewegung ausführen konnte, da pfiff ein kalter Wind zur Tür hinein, und auf der Schwelle erschien eine zierliche Gestalt, die verbeugte sich artig und schwenkte in übertriebener Höflichkeit die Kappe.

»Heino«, jauchzte der Störtebecker, sprang ungläubig von seinem Sitz, und dabei griff er mit den Armen in die Luft wie ein Schwimmer, der mit ein paar letzten, verzweifelten Stößen schweres, fauliges Sumpfwasser zu durchbrechen sucht. Vergessen war das zermürbende Ringen, der abscheuliche Kampf gegen das, was einst nahe seinem Herzen wuchs, abgestreift, als lächerlich erkannt das Anrennen gegen die bröckelnden Ruinen einer dummen, verfrömmelten Zeit. Sturmwind sauste zur Tür herein, er würde die wankenden Mauerreste von selbst umwerfen, Sturm jagte die Lappen und den dicken Qualm in der Hütte auseinander, und der dort an der Schwelle, der die Windsbraut hereinließ, er war nur einer seiner ausgeschickten Gedanken, die von nun an das verrunzelte Antlitz des Geschaffenen verjüngen und veredeln sollten.

»Heino«, schrie er seiner selbst nicht mächtig und packte seinen Kundschafter an der Schulter, daß der Kleine wankte. »Sendling meiner liebsten Hoffnung, bringst du mir und dir und all den Verschmachteten die Vernunft, die Ruhe und den Frieden? Werden wir Brüder sein? Oder müssen wir einander weiter morden?«

In der Hütte verflog der Atem des Lebens, selbst das strohblonde Kerlchen rang unter den Fäusten des Zitternden nach Fassung. Und seine schrille Stimme drang allen Hörern durch Mark und Bein, als sie sich spitz und schneidend aufschwang:

»Dein Wille und dein Name haben gesiegt, Claus Störtebecker. Die Edelinge der Friesen wollen mit dir handeln um Land und Niederlassung. Deine Hoffnung erfüllt sich, das Tor springt auf, du kannst einziehen als der Fürst der Hungernden und dein Reich der Brüder begründen.«

Einen Augenblick verstummte der fürstliche Mensch, eingehüllt in eine goldene Wolke, ernsthaft und doch beinahe kindlich in einen fernen Feiertag lauschend. Doch schnell und fast ohne Übergang griffen die Dinge des Tages nach dem für die Erde Geborenen. Das frostige Elend der Hütte, die zersprungenen Ziegel des Estrichs und am meisten die dumpfe Verständnislosigkeit in den zerwühlten Zügen seiner Erzeugerin, sie rissen ihn aus dem Tanz der Lüfte und offenbarten ihm klar und streng, daß von jetzt an nur nüchterne Werkzeuge wie Spaten und Pflug den ersehnten Schatz aus den Schollen schürfen würden.

Ungestüm warf er sich den Mantel um, dann blickte er noch einmal aufmerksam in der trübe verqualmten Engnis umher, bis er ruhig und gelassen vor Mutter Hilda treten konnte.

»Wir gehen zu Schiff«, nahm er von ihr Abschied. »Lebe wohl, Weib. Entweder du und deinesgleichen ziehet mir eines Tages nach, oder deine sündige Frucht mag im Gedächtnis der Menschen faulen!«

Die Hütte stand leer, in Sturm und Nacht waren die Gespenster des Aufruhrs verschwunden.

Da stieß Mutter Hilda nach einigem Besinnen einen Eimer Wasser um und begann, wie sie versprochen, die Stelle, wo ihr Einziger gestanden, zu scheuern!


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